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LinksklickIch bin dankbar, dass Videospiele endlich Inhaltswarnungen für sich entdeckt haben

Noch vor einigen Jahren ein Kuriosum, erreichen heute Inhaltswarnungen immer mehr Videospiele. Das ist begrüßenswert – und erst der Anfang, findet unser Kolumnist.

Symbolbild - Gaming Controller
Symbolbild – Gaming Controller CC-BY-NC-SA 4.0 owieole

In dieser Ausgabe von „Linksklick“ möchte ich über Suizidalität und Depressionen sprechen.

Mit diesem vorangestellten Hinweis will ich allen die Möglichkeit geben, selbst für sich zu entscheiden, ob sie einen solchen Text in genau diesem Moment lesen wollen oder nicht. Es ist ein Warnhinweis, der nützlich, sogar überlebenswichtig sein kann – und gegen den sich Videospiele viele Jahre lang gesträubt haben.

Im Jahr 2015 erschien mit Life is Strange die erste Staffel eines Franchises, das zum kommerziellen Riesenerfolg für das französische Entwicklerteam Dontnod werden sollte. Zu erahnen war das vor acht Jahren allerdings noch nicht: Zu ungewöhnlich war die Geschichte einer Teenagerin, die sich mit scheiternden Beziehungen, ihren Eltern und dem Schulalltag auseinandersetzen muss – und ganz nebenbei auch noch durch die Zeit reisen kann. Nicht so ungewöhnlich, aber sicherlich von vielen SpielerInnen ungeliebt war die zentrale Spielmechanik: Herumlaufen, mit Menschen sprechen, Entscheidungen treffen. Für ein Videospiel erst einmal reichlich unspektakulär.

Eine Szene dieses Spiels hatte es allerdings in sich: Eine Teenagerin, wochenlang von ihren MitschülerInnen gemobbt, steigt eines Tages auf das Dach der Schule. Sie droht, sich in den Tod zu stürzen. Wir finden sie, kurz bevor sie springen kann, und bekommen im nun folgenden Gespräch die Chance, sie von ihrem Plan abzubringen. Sie stellt uns Fragen, über ihre Hobbys, ihre Freunde, die Bibel, weil sie gläubig ist. Wenn wir ihr in den Spielstunden zuvor immer gut zugehört haben, können wir die richtigen Antworten auswählen, können sie beruhigen und so vor dem Selbstmord bewahren.

Einer guten Freundin von mir gelang das damals nicht. Nennen wir sie Anne. Anne war schon als Teenagerin suizidal, lebte wochenlang in einer Tagesklinik, nahm Antidepressiva, musste lernen, mit Depressionen umzugehen und zu leben. Sie hatte sich lange auf Life is Strange gefreut, bis sie die Szene auf dem Schuldach überraschte – und sie tief in eine suizidale Spirale zurückwarf. Später erzählte sie mir, eine Inhaltswarnung hätte sie vor diesem schlimmen, psychischen Rückschlag geschützt, da ist sie sicher.

Warnung oder Spoiler?

Die Aufgabe von Inhaltswarnungen ist leicht erklärt: Sie sollen Menschen vor bestimmten Themen warnen, die Betroffene psychisch belasten könnten. Der Fachbegriff für diese Auslöser, „Trigger“, ist leider längst in seiner Ursprungsbedeutung aufgeweicht worden und wird umgangssprachlich mittlerweile als Synonym für jeden noch so kleinen Aufreger verwendet. Dabei könnte diese Verwendung vom ursprünglichen Wortsinn nicht weiter entfernt sein: „Trigger“ sorgen bei Betroffenen nicht für ein Unwohlsein oder ein Ziehen in der Magengrube. Sondern für tiefe Depressionen, suizidale Gedanken, Negativspiralen. 

Inhaltswarnungen sollen vor möglichen Triggern warnen und so Betroffenen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, ob sie sich dazu bereit fühlen, sich mit dem jeweiligen Medium – ob nun Spiel, Film, Buch oder ganz was anderes – auseinanderzusetzen.

All das klingt so simpel und zweckdienlich, es ist schwer zu glauben, dass sich Gegenstimmen zu Inhaltswarnungen finden lassen. Aber die gibt es.

Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen: Einige kritisieren, dass Inhaltswarnungen gleichzeitig auch überraschende Twists vorwegnehmen könnten. Andere machen sich über die „Empfindsamkeit“ Betroffener lustig, sehen das Bedürfnis nach Inhaltswarnungen als Schwäche an.

Viel ernster zu nehmen sind dagegen die Einwände von Menschen, die selbst Websites aufgebaut haben, die Inhaltswarnungen für Medienprodukte pflegen. Sie klagen immer wieder über die Herausforderung, dass sie entscheiden müssen, welche Themen sie für ihre Inhaltswarnungen aufnehmen und welche nicht. Und auch die Wissenschaft ist sich nicht ganz so sicher, ob Inhaltswarnungen wirklich helfen. Womöglich könnten sie auch zu einem konsequenten Vermeidungsverhalten Betroffener führen, was letztendlich die Intensität der jeweiligen Trigger noch weiter bestärkt.

Trotz dieser Bedenken bieten mehr und mehr Videospiele Inhaltswarnungen an, manche vorangestellt vor dem eigentlichen Spiel, andere auf Wunsch nachlesbar im Hauptmenü verborgen. Und dafür bin ich dankbar. Weil ich selbst erst in den letzten Wochen eine schwierige Phase durchmachen musste und froh war, neue Spiele beiseite zu legen, deren Inhaltswarnungen mir klar sagten: Das ist gerade nicht das richtige für dich. Später dann.

Der Anfang einer neuen Entwicklung

Diese Entscheidung hätte ich so bewusst vor acht Jahren noch nicht treffen können, als die Spielebranche noch kaum mit der Idee der Inhaltswarnungen vertraut war. Ein Jahr vor dem Release von Life is Strange interviewte ich auf der gamescom einen jungen Entwickler, der ein Spiel über seine Erfahrungen als homosexueller Mann gemacht hatte. Sein Game erzählte von homophoben Übergriffen, Ausgrenzung, Mobbing, Konflikten mit den Eltern, Selbstmordgedanken nach einem katastrophalen Outing. Wichtige, aber schwere Themen, die gerade Betroffene unvermittelt treffen und ähnlich wie meine gute Freundin Anne retraumatisieren könnten.

Auf die Frage, ob sein Spiel deswegen auch Inhaltswarnungen anbieten würde, schüttelte der Entwickler damals aber nur irritiert den Kopf. Auf die Idee sei er noch gar nicht gekommen, meinte er. Seine Antwort war beispielhaft für den Status Quo der Spielebranche, heute ist das anders.

Dass mehr und mehr Videospiele Triggerwarnungen nutzen, ist allerdings nicht der Endpunkt einer überfälligen Entwicklung, sondern der Anfang: Erst jetzt, wo mehr und mehr Menschen überhaupt mit diesem Konzept und dem Sinn dahinter vertraut gemacht werden, können wir die wichtige Diskussion führen, wie diese Triggerwarnungen eigentlich aussehen sollten, um Betroffene angemessen zu schützen. Und gleichzeitig anderen Menschen nicht den Spaß am Spiel zu verderben. Am Ende dieser Diskussion wird dann ein Medium stehen, das noch zugänglicher für seine Fans, für alle Fans, sein wird – und dagegen kann ja wohl niemand etwas haben.

Fühlst du dich antriebslos oder bist in einer scheinbar ausweglosen Situation? Unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 findest du zu jeder Tags- und Nachtzeit Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention.

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4 Ergänzungen

  1. Depression ist keine rätselhafte Krankheit, mit der man leben muss, sondern die Folge einer nicht behandelten Angststörung, die sehr gut behandelt werden kann. Nicht allerdings durch das von Ihnen an einer Stelle erwähnte Vermeidungsverhalten, da ist sich die Wissenschaft ganz sicher. Gruß vom netten Therapeut

  2. Interessanter Kommentar. Ich habe mir bisher noch nie über das Thema Gedanken gemacht; meine eigene Depri war/ist zum Glück nur leicht und ich muss in Medien nicht groß auf irgendwelche Trigger achten. Manche Dinge muss ich nicht sehen/lesen/hören, aber wenn ich darüber stolpere, ist es auch kein großes Problem.

    Aber wenn ich so darüber nachdenke, dürfte ein Haupproblem sein, eine Triggerwarnung so anzubringen, dass sie VOR dem Kauf des Mediums gesehen werden kann. Im Hauptmenü eines Spieles is es zu spät, dann ist das Geld schon weg. Dito im Vorspann eines Films, im „Vorwort“ zu einem Buch usw. Und bei Musik? Noch schwieriger. Zudem müsste die Warnung ziemlich detailliert ausfallen, jedenfalls deutlich umfangreicher als PEGI 18, R-rated, FSK 18 oder was auch immer. Die mittlerweile übliche Epilepsie-Warnung in Spielen ist ja alleine schon relativ umfangreich.

    Probleme mit ‚Spoilern‘ sehe ich spontan eher nicht. Triggerwarnungen würden ja nur sagen, ob problematische Inhalte überhaupt vorkommen und nicht, wem wann was zustößt usw.

    Und wenn die Wissenschaft sich mal wieder nicht einig ist, ob die Warnungen etwas bringen (gerade im Bereich der Psychologie ja nicht unbedingt selten): ok, gutes Argument, aber evtl. machen die Warnungen ja auch als Hinweise für jedermann’Sinn, damit man etwas informierter entscheiden kann, mit welchen potenziell problematischen Inhalten man in Berührung kommen möchte ganz unabhängig von etwaigen Triggern.

  3. Sätze des obersten Digital-Beraters:
    »Das reine Herz darf solche … Informationen nicht empfangen«

    Berufsaussichten:
    Bei einem Treffen mit Seminaristen – also angehenden Priestern – in Rom sagte er, jeder solle darüber »nachdenken, ob er schon einmal in die Versuchung der digitalen Pornografie geraten ist«. Dabei handele es sich um ein Laster, das auch viele Priester und Nonnen hätten.

    Ja,ja. Der Teufel liebt die Menschen:
    »So tritt der Teufel ein«, mahnte der 85 Jahre alte Argentinier. Er spreche nicht nur von »krimineller Pornografie«, wie jener mit Missbrauch von Kindern, sondern auch von der »einigermaßen normalen Pornografie«.

    Geistliche und ihre Geister:
    »Ich sage euch, das ist eine Sache, die den Geist schwächt«, sagte Franziskus weiter.

  4. Sinnvoll wäre, wenn man sich bei der Installation eines Spiels oder bei der Anmeldung bei einem Streamingdienst entscheiden kann, ob man Triggerwarnungen angezeigt bekommen möchte oder nicht. Ich will diese Inhaltswarnungen z.B. nicht lesen, insbesondere wegen der Spoilergefahr und weil ich mich nicht schon vor dem Spiel aufregen will. Eine andere Lösung wäre, wenn ein Spiel, bevor es startet, anzeigt, dass nun eine Inhaltswarnung folgt, die man aber auch überspringen kann.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.