Kampf gegen Missbrauch„Mir ist zum Glück noch nie ein Kind gestorben“

90 Familien parallel; ständig Überstunden; Kinder im Flur, bei denen man nicht weiß, wo sie die Nacht verbringen. Im Interview beschreibt ein Sozialarbeiter aus Berlin die Realität im Jugendamt – und was er von den Kinderschutz-Plänen der EU-Kommission hält.

Eine Spielecke für Kinder (Symbolbild)
Spielecke für Kinder (Symbolbild) – Hintergrund: IMAGO / Geisser; Screenshot: EU-Kommission

Triggerwarnung: Dieser Text handelt von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Hier gibt es Links zu Krisentelefonen und Anlaufstellen in Notlagen.

Alles für den Kinderschutz, das ist das Mantra bei den Plänen der EU-Kommission zur sogenannten Chatkontrolle. Online-Anbieter sollen auf Anordnung sogar private Chats durchleuchten und dabei systematisch nach Aufnahmen scannen, die Minderjährige und Nacktheit zeigen. Beamt*innen sollen die millionenfachen Verdachtsmeldungen sortieren, unter anderem auf der Suche nach Täter*innen, die Kindern Gewalt antun.

Durch das Gesetz droht Massenüberwachung, die Kritik daran kommt nicht nur von Netz-Aktivist*innen, sondern auch von führenden Kinderschutz-Organisationen, den EU-Datenschutzbehörden, Minister*innen der Bundesregierung und dem Staat Österreich.

Wie im Tunnelblick fokussiert sich die öffentliche Debatte auf das Überwachungsvorhaben. Kaum im Blick ist dabei das Thema, um das es eigentlich gehen soll: Wie lassen sich denn Kinder besser vor Gewalt schützen? Denn nichts weniger als das will der Gesetzentwurf erreichen, in dessen Titel steht: „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“.

Herr Roedling ist Sozialarbeiter in einem Berliner Jugendamt und berät um die 90 Familien parallel. Die Kinder sind bis zu 14 Jahre alt. Wenn Familien mit ihm zu tun haben, geht es zum Beispiel um häusliche und sexualisierte Gewalt. Im Interview berichtet Herr Roedling, was der Kinderschutz aus seiner Sicht am dringendsten braucht – und was die geplante Online-Überwachung erreichen kann.

Herr Roedling und seine Kolleg*innen achten auf Selbstschutz, im Beruf nutzen sie nur ihre Nachnamen. Auch in diesem Interview lassen wir den Vornamen weg, und auf ein Porträt müssen wir verzichten. An der Tür zu Herrn Roedlings Büro klebt ein süßes Panda-Gesicht. Große Menschen übersehen es schnell, denn es ist weit unten angebracht, auf Augenhöhe für Kleine. „Das Pandazimmer“, erklärt Herr Roedling, und kocht mit einer Pad-Maschine je einen Espresso für sich und den Gast.

“Der Vorwurf ist lebenszerstörend”

netzpolitik.org: Herr Roedling, wie genau schützen Sie Kinder vor Missbrauch?

Herr Roedling: Es beginnt mit einer Meldung. Oft sind es Erzieher*innen in der Schule, manchmal ältere Geschwister, Verwandte oder der allseits beliebte Currywurst-Verkäufer. Alle, die eine gute Beziehung zu einem Kind haben, können vom Kind etwas hören, das sie in Aufruhr versetzt. Dann prüfen wir in einer Konferenz, was an der Meldung dran ist. Denn der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs ist lebenszerstörend. Das heißt, wir müssen sehr genau hinschauen, bevor man vielleicht einen unbescholtenen Familienvater, Lehrer oder Trainer im Verein beschuldigt.

netzpolitik.org: Mich irritiert, dass Sie zuerst davon sprechen, Erwachsene vor einem falschen Verdacht zu schützen. Ich bin mit dem Eindruck in das Interview reingegangen, dass man jeden noch so kleinen Hinweis ernst nehmen sollte, um bedrohte Kinder zu schützen.

Herr Roedling: Ja, wir prüfen jeden Hinweis. Uns erreichen allerdings auch sehr diffuse Meldungen. Zum Beispiel, wenn jemand mitbekommt, dass ein Kind einen Pimmel-Witz äußert und die Person findet, so etwas gehört doch nicht in den Wortschatz eines so jungen Kindes. Manchmal werden auch vermeintliche Zeichen falsch gedeutet. Stellen wir uns vor, da gibt es ein Kind, das sitzt bei jedem auf dem Schoß und lässt sich von allen herzen, auch von Fremden. Eine solche Distanzlosigkeit kann viele Gründe haben.

netzpolitik.org: OK, und was geschieht, wenn Sie bei der Konferenz feststellen, der Verdacht ist ernst?

Herr Roedling: Der nächste Schritt ist die Konfrontation des Täters. Das heißt, wir melden uns und sagen: Herr (oder Frau) Soundso, das Kind hat über Sie gesagt, ich zitiere: „Der spielt immer so süß an meinem Pipi.“ Wir übernehmen dann so genau wie möglich den Wortlaut des Kindes, auch wenn die Wortwahl für Erwachsene komisch ist.

netzpolitik.org: Nun bin ich irritiert, dass Sie zuerst die Konfrontation mit den mutmaßlichen Täter*innen nennen.

Herr Roeadling: Ich finde es grundsätzlich fair, jemanden über einen solchen Verdacht in Kenntnis zu setzen, und das machen wir als geschultes Personal. Es gibt viele unterschiedliche Fälle. Sehr oft wissen die Eltern zu diesem Zeitpunkt genau Bescheid und sind sehr verunsichert. Wir ermutigen die Eltern, Anzeige zu erstatten.

Wenn der mutmaßliche Täter selbst Teil der Familie ist, ermutigen wir das andere Elternteil dazu, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Zum Beispiel, dass der mutmaßliche Täter erst mal keinen Zugang mehr zum Kind bekommt. Grundsätzlich gibt es bei uns auch Täterarbeit. Wir vermitteln Selbsthilfegruppen, die Menschen helfen, kein Täter zu werden. Als Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten wir mit allen Menschen zusammen.

“Manche denken: Ich konnte mein Kind nicht schützen”

netzpolitik.org: Wie reagieren die Familien, wenn Sie sich melden?

Herr Roedling: Sehr unterschiedlich. Viele wollen zwar, dass ihren Kindern geholfen wird, aber es ist ihnen peinlich. Manche denken: „Ich konnte mein Kind nicht schützen“ oder: „Ich will nicht in der Öffentlichkeit stehen“. Nur in Ausnahmefällen und nur wenn sich die Eltern wehren, zeigen wir als Jugendamt mutmaßliche Täterinnen und Täter selbst an.

netzpolitik.org: Wie helfen Sie den Familien sonst weiter?

Herr Roedling: Es gibt verschiedene Hilfen, zum Beispiel psychologische Beratung für Kinder oder die Familienhilfe. Da kommt zum Beispiel einmal die Woche ein Sozialpsychologe vorbei. Dabei kann es um viele Dinge gehen: Wie gehe ich mit meinem wilden Teeanger um? Oder: Wie gehe ich mit Behörden um?

Viele Familien haben Angst, dass wir ihnen die Kinder wegnehmen. Aber die Inobhutnahme ist nur ein äußerstes Mittel. Ich freue mich, wenn Sie schreiben, dass wir eigentlich supernett sind und es überhaupt nicht schlimm ist, unsere Hilfe anzunehmen. Hier sind wirklich Leute, die helfen! Meist berichten die Medien nur, wenn wir Familien ein Kind mutmaßlich zu Unrecht wegnehmen – oder wenn wir das nicht schnell genug gemacht haben.

netzpolitik.org: Als wir zuerst miteinander telefoniert haben, hatten Sie von den Plänen der EU-Kommission zur Chatkontrolle noch nichts gehört.

Herr Roedling: Ja, inzwischen habe ich mich etwas eingelesen. Ich finde es schwierig, weil es kulturell noch nicht angekommen ist, was alles als kinderpornografisches Material gilt. Viele Eltern zeigen stolz Fotos vom Urlaub herum, da sind dann auch mal die Kinder am Strand. Und dann haben wir einen Haufen Teenager, die sich gegenseitig ablichten. Das soll dann alles über einen Kamm geschert und in eine Datenbank gespeist werden. Wie will man das so genau prüfen? Aber mit der Chatkontrolle dürfen sich erstmal andere rumschlagen, bis das richtig bei mir ankommt.

Wie die EU-Kommission beim Kinderschutz versagt

“Brauchen ganz dringend mehr Personal”

netzpolitik.org: Es ist zumindest ein Wunsch der EU-Kommission, durch die Chatkontrolle bessere Hinweise auf mutmaßliche Täter*innen zu finden. Verdachtsfälle würden dann zunächst bei den zuständigen Landeskriminalämtern landen. Was würde das für Ihre Arbeit heißen?

Herr Roedling: Wenn Ermittlungsbehörden von Kindeswohlgefährdung erfahren, werden sie auch das zuständige Jugendamt darüber informieren. Unsere Aufgabe ist es dann, die Kinder zu schützen.

netzpolitik.org: Würden Ihnen solche Hinweise helfen?

Herr Roedling: Wir hätten dann die Konstellation, dass sich ein Kind möglicherweise noch nicht selbst geäußert hat. Für das Kind heißt das, man würde es aus – in seiner Empfindung – heiterem Himmel ansprechen. Jetzt erzähl mal, hat diese Person dich angefasst? Allein die Nachfrage kann Kinder traumatisieren. Viele Opfer sind in Abhängigkeitsverhältnissen und könnten dann anfangen, die Täterinnen und Täter zu schützen.

netzpolitik.org: Was bräuchten Sie vor allem, um Kinder besser zu schützen?

Herr Roedling: Wir brauchen ganz dringend mehr Personal. Wir müssen Fälle genau prüfen. Es ist schlimm, Täter nicht zu entdecken, und es ist schlimm, die Falschen zu verdächtigen. Für jeden Fall, den wir prüfen, fallen links und rechts andere Fälle herunter. Das sind dann Fälle, die viel später geprüft werden oder nur oberflächlich.

Die jüngsten Weltkrisen haben etwas mit den Menschen gemacht: Flucht, Krieg, die Pandemie. Familien mit ein paar Problemen wurden zu instabilen Familien. Kinder, die vorher so lala in die Schule gegangen sind, mussten gar nicht mehr in die Schule und kommen im Unterricht überhaupt nicht mehr mit.

Viele Menschen sind traumatisiert. Sie lassen sich aber nicht behandeln, weil sie nicht wissen, wie traumatisiert sie eigentlich sind. Denn alle anderen, die sie kennen, haben ähnliche Traumata hinter sich. Hinzu kommt, dass es nicht genug Wohnraum gibt. Familien, die sonst super funktionieren würden, leben zusammengepresst in zwei Räumen. Dann gibt es mehr Streit und mehr häusliche Gewalt. Berlin ist da sicher sehr stark betroffen.

Wohnraum gegen Missbrauch

netztpolitik.org: Heißt das, eine wirksame Maßnahme gegen Missbrauch wäre mehr bezahlbarer Wohnraum?

Herr Roedling: Ja. Ich hätte direkt ein Drittel weniger Fälle, wenn die Menschen bessere Wohnungen hätten. Das ist natürlich nur geschätzt. Wir fragen die Eltern immer: Was brauchen Sie, damit es Ihren Kindern besser gehen kann? Der erste Wunsch der Familien – durch die Bank weg – ist eine bessere Wohnung.

Wenn Kinder zuhause total untergehen, wenn sie keine Erfolge sehen und ein schlechtes Selbstbild entwickeln, dann werden sie verwundbarer für sexuellen Missbrauch. Stellen Sie sich vor, da gibt es eine kleine Wohnung mit sechs Geschwistern. Aber man kann auch bei der Freundin übernachten und essen. Dort ist viel Platz, alles ist ruhig, dort streiten sich die Leute nicht. Dort hat man vielleicht auch mal fünf Minuten für sich. Aber dann ist dort auch dieser Onkel, der einen anfasst, und man kommt in die Bredouille. Gebe ich das jetzt auf oder halte ich das aus?

netzpolitik.org: Was könnten Sie mit doppelt so viel Personal im Jugendamt erreichen?

Herr Roedling: Wir könnten in einer unglaublich effektiven Art und Weise mit den Familien arbeiten. Sie glauben nicht, was ich alles an Methoden gelernt und an Erfahrungen gesammelt habe, aber einfach komplett wegschmeißen muss, weil ich nicht genug Zeit habe! Das finde ich unglaublich. Man muss sich auch mal mein Büro angucken. Das ist kein Büro, wo man sich hinsetzt und sich total wohlfühlt.

netzpolitik.org: Es wirkt etwas steril, wie bei beim Hausarzt. Da ist Ihr weißer Schreibtisch mit einem riesigen Bildschirm. Wir beide sitzen an einem kleineren Tisch mit ein paar Stühlen. Und da ist ein großer, grauer Schrank mit der Aufschrift „Brandschutzwesten“. Mir fällt erst jetzt auf, dass in der Ecke eine kleine Kiste mit Spielzeug steht.

„Und keiner wusste, wo das Kind diese Nacht schläft“

Herr Roedling: Ja, und welches Kind möchte gerne in dieser Ecke spielen? Dabei müssen wir hier die innersten Probleme von Familien besprechen. Immerhin, was allen gefällt, ist das große Bild mit dem Hirsch an der Wand. Wenn ich mal eine Videokonferenz habe, sieht es aus, als würden mir die Hörner aus dem Kopf wachsen.

netzpolitik.org: Wie viel Zeit haben Sie für die Familien?

Herr Roedling: Wenn mich eine Familie besucht, dauert das 45 Minuten. Solche Besuche gibt es einmal pro Halbjahr, außer es gibt eine schlimme Krise. Ich kümmere mich um etwa 90 Familien parallel. Manche Familien haben nur ein Kind, viele haben mehrere Kinder. Wir versuchen, auch telefonisch erreichbar zu sein. Ich hatte zeitweise mehr als 90 Überstunden, gerade sind es um die 40. Meine Teamleitung ist völlig verzweifelt und will, dass ich mir ein Erholungskonzept schreibe. In diesem Jahr schaffe ich es erstmals, meinen Urlaub nicht komplett ins nächste Jahr zu schieben.

Das sagen Kinderschutz-Organisationen zur Chatkontrolle

netzpolitik.org: Manche Menschen lassen zum Feierabend einfach die Arbeit liegen und gehen nach Hause.

Herr Roedling: Wir haben hier Eltern, die können nicht flexibel sein. Wenn es eine Krise gibt, dann sitze ich hier. Punkt. Gerade haben wir das Problem, dass bei der stationären Unterbringung Fachkräfte fehlen. Überall fehlen Fachkräfte. Einige Kinder haben Bedürfnisse, die besonders adressiert werden müssen. Man kann sie nicht überall unterbringen, denn sie halten es nicht überall aus. Im Zweifel zerschlagen sie das Mobiliar und werden wieder rausgeschmissen.

Wir hatten es bestimmt sechs Mal dieses Jahr, dass ein Kind bei uns auf dem Flur saß und keiner wusste, wo das Kind diese Nacht schläft. Wie auch immer die Umstände sein mögen, man muss dann auch dieses Kind sehen, das merkt: Nirgendwo gehöre ich hin. Keiner weiß, was mit mir ist.

„Dann kann ein Statistiker sicher ausrechnen, wann wieder ein Kind stirbt“

netzpolitik.org: Muss der Staat mehr Stellen finanzieren oder fehlt es an Menschen mit passender Ausbildung?

Herr Roedling: Beides. Eigentlich haben viele junge Leute ein großes Interesse an Sozialarbeit. Der Numerus clausus an den Hochschulen ist hoch. Aber die Leute werden sehr, sehr häufig auf der Arbeit verbrannt. Nach zwei, drei Jahren sind die völlig mit den Nerven am Ende. Sie müssen für kranke, überarbeitete Kollegen einspringen. Sie kriegen zu früh zu viel Verantwortung, weil der Mensch, der sie eigentlich einarbeiten sollte, krank ist oder einfach geht. Wir haben furchtbar inkonsistente Teams. Viele Leute, die kommen, bleiben nicht.

netzpolitik.org: Warum bleiben Sie?

Herr Roedling: Ich bin wie eine Taube. Ich war schon immer da. Die Gegend hier ist sehr hart. Ich bin hier großgeworden. Vorher habe ich Jugendarbeit gemacht. Ich bin mit dem Herzen dabei, weil ich Leuten hier wirklich langfristig helfen kann. Aber auch ich muss mir überlegen, wie lange ich diese Arbeit machen kann. Die Zeiten sind vorbei, in denen man im Jugendamt alt werden kann, ohne massiv Krisen oder Burnout zu bekommen.

netzpolitik.org: Nimmt der Staat das Leid von Kindern bewusst in Kauf, wenn er Jugendämter nicht besser ausstattet?

Herr Roedling: Ich denke schon. Als ich einmal sehr frustriert war, habe ich mir gedacht: Es gibt ja für alles Statistiken. Wenn das hier so weitergeht mit der Überforderung, dann kann ein Statistiker sicher ausrechnen, wann wieder ein Kind stirbt. Mir oder meinen Kolleg*innen ist zum Glück noch nie ein Kind gestorben. Es gibt sicherlich Jugendämter, denen es ein bisschen besser geht. Aber es gibt auch welche, denen es schlechter geht.

netzpolitik.org: Herr Roedling, vielen Dank für das Gespräch.

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