Gleichstellungsbericht„Schutzschirm“ für Betroffene digitaler Gewalt gefordert

Die Bundesregierung soll Betroffene digitaler Gewalt stärken, das empfehlen Sachverständige im neuen Gleichstellungsbericht. Wie groß das Problem ist, erklärt Jenny-Kerstin Bauer vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe im Interview.

Frau vor Laptop, vergräbt ihr Gesicht
Digitale Gewalt ist reale Gewalt (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / photothek

Insbesondere Gewalt in der Partnerschaft stellt eine Gefahr für Frauen dar – auch im digitalen Raum. Das geht aus dem dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung hervor. Dass es einen solchen Bericht pro Legislaturperiode gibt, ist ein Auftrag des Bundestags. Der aktuelle Bericht wurde bereits von der vorigen Bundesregierung in Auftrag gegeben und widmet sich vor allem digitalen Themen. Der Bericht wurde bereits im Juni 2021 vorgelegt, nun hat der Bundestag im April darüber debattiert.

Es geht um ungleiche Teilhabe, Gewalt und Diskriminierung. Der Fokus liegt auf „Frauen und Männern“ – das es mehr als zwei Geschlechter gibt, tritt in den Hintergrund. Es sind die Arbeitsergebnisse einer unabhängigen Sachverständigenkommission. Sie hat untersucht, „welche Weichenstellungen erforderlich sind, damit Frauen und Männer in der digitalen Wirtschaft gleiche Verwirklichungschancen haben“. Ins Leben gerufen wurde die Kommission im Jahr 2019 durch das Familienministerium, damals unter Franziska Giffey (SPD).

Eine Gleichstellung von Frauen und Männern ist auch im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehalten. Bereits im Koalitionsvertrag der Großen Koalition war zulesen: „Diskriminierungsverbote der analogen Welt müssen auch in der digitalen Welt der Algorithmen gelten.“

Sachverständige fordern stärkere Beratungsstellen

Ein Kapitel des neuen Gleichstellungsberichts ist geschlechtsbezogener digitaler Gewalt gewidmet. Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für unter anderem Stalking, Nötigung oder das Veröffentlichen intimer Fotos ohne Einverständnis. Für den Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) ist das schon länger ein Thema. Der bff informiert online über die Formen digitaler Gewalt, bietet Hilfe und Beratungen an. Auch vor Ort können Betroffene in den Beratungsstellen Hilfe finden.

Der Gleichstellungsbericht formuliert mehrere Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung: So fordern die Sachverständigen eine Stärkung der Informationsangebote, Beratungsstellen und Berater:innen. Die Berater:innen sollten etwa besser geschützt werden, indem sie ihre privaten Adressen besser vor potentiellen Täter:innen verbergen können. Außerdem fordern die Sachverständigen einen „Schutzschirm“ für Betroffene. Dazu gehöre etwa „Sicherung von Beweismitteln, das Löschen von Hasskommentaren, das Schützen verifizierter Accounts sowie die Veranlassung einer zügigen Melderegistersperrung“.

„Sexualisierte Gewalt digitalisiert sich immer mehr“

Geschlechtsspezifische digitale Gewalt kann Betroffenen das Leben zur Hölle machen. Wir haben darüber mit Jenny-Kerstin Bauer gesprochen. Sie ist Referentin für digitale Gewalt beim bff. Im Interview erklärt sie, was digitale Gewalt anrichten kann und was sich für Betroffene ändern müsste.

netzpolitik.org: Was bedeutet es, wenn jemand digitale Gewalt erlebt?

Jenny-Kerstin Bauer: Digitale Gewalt ist der Versuch einer gewaltausübenden Person, über das Internet Macht und Kontrolle auszuüben. Die gewaltausübende Person ist meist den Frauen bekannt. Es ist eine ihnen nahestehende Person, wie der Freund, Exmann oder Arbeitskollege. Immer mit dem Ziel, der betroffenen Frau irgendwie zu schaden und eine Abhängigkeit herzustellen. Das hat Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. Viele Betroffene berichten davon, dass sie psychisch beeinträchtigt sind. Sie haben Angstzustände, Schlafstörungen, bis hin zu Depressionen. Sie denken viel darüber nach, wie die gewaltausübende Person als nächstes macht. Es kann auch massive finanzielle und rufschädigende Auswirkungen haben.

netzpolitik.org: Welche Formen digitaler Gewalt beobachten Sie am häufigsten?

Jenny-Kerstin Bauer: Häusliche und sexualisierte Gewalt digitalisieren sich immer mehr. Die häufigsten Formen sind laut unseren Beratungsstellen digitales Stalking und bildbasierte digitale Gewalt. Beim Stalking werden Frauen beispielsweise über soziale Netzwerke oder Cloud-Dienste verfolgt. Zusätzlich können sie mit  sogenannter Stalkerware, Spionage-Software,auf den Telefonen überwacht werden. Bildbasierte digtiale Gewalt heißt, dass Fotos oder Filme von den Frauen im Internet oder auf pornografischen Plattformen verbreitet werden, ohne dass sie dem zugestimmt hätten. Oftmals wissen die Betroffenen nicht, dass die Aufnahmen im Netz zu finden sind. Oder sie werden damit bedroht, dass die Aufnahmen verbreitet werden. Es kommt auch vor, dass der Expartner ohne Einverständnis mit der Kreditkarte der Exfreundin in einem Online-Shop teure Geräte kauft. Da würde man dann von Identitätsdiebstahl sprechen.

netzpolitik.org: Wie hat sich digitale Gewalt in den letzten Jahren verändert?

Jenny-Kerstin Bauer: Durch die Pandemie hat sich unser privates Leben noch mehr in den digitalen Raum verschoben. Menschen geben noch mehr sensible Daten im Netz preis, das war vorher noch nicht so selbstverständlich. Die Beratungsstellen waren auch während Pandemie für Betroffene aller Formen geschlechtsspezifischer Gewalt erreichbar. Nachdem die Kontaktbeschränkungen  gelockert wurden, gab es einen Anstieg von Beratungsanfragen. Wir gehen davon aus, dass es auch in den nächsten Jahren mehr Anfragen geben wird.

„Digitale Gewalt oft nicht als reale Gewalt anerkannt“

netzpolitik.org: In welchen Situationen können Menschen bei Ihnen Hilfe finden?

Jenny-Kerstin Bauer: Im Zweifel können sich Betroffene immer an eine Fachberatungsstelle wenden. Das gilt auch für Personen, die vielleicht gerne eine Freundin unterstützen möchten. Unter frauen-gegen-gewalt.de finden sie Hilfe in ihrer Nähe, kostenfrei, anonym und vertraulich. Es kann wichtig sein, nicht alleine mit dieser Erfahrung zu bleiben, sondern sich an jemanden zu wenden, dem man vertraut. Die Fachberatungsstellen stehen an der Seite der Betroffenen und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf.

netzpolitik.org: Welche sind das?

Jenny-Kerstin Bauer: Wenn von einer Betroffenen Bilder zum Beispiel veröffentlicht werden, gibt es Möglichkeiten, diese Bilder zu finden oder sich rechtlich dagegen zu wehren. Auch wenn eine Person das Gefühl hat, sie wird gestalkt, gibt es unter anderem rechtliche Mittel. Die Beraterinnen überreden Betroffene aber nicht dazu, etwas zu tun, sondern lassen ihnen immer Entscheidungsfreiheit.

netzpolitik.org: Beratung für Betroffene wird auch im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung angesprochen. Was wünschen Sie sich von der Bundesregierung?

Jenny-Kerstin Bauer: Es braucht auf jeden Fall mehr Information und auch Aufklärung. Viele Betroffene wissen nicht, dass es sich um eine Form von Gewalt handelt. Gesellschaftlich wird digitale Gewalt oft nicht als reale Gewalt anerkannt. Wir brauchen Sensibilisierungskampagnen und Informationsangebote. Betroffenene müssen ganz niederschwellig und schnell an Hilfe kommen. Fachberatungsstellen müssen ausfinanziert sein und genug Kapazitäten haben, um sich den Betroffenen voll zu widmen. Wünschenswert wäre auch aktuelle Forschung. Die letzten repräsentativen Zahlen für Deutschland sind veraltet. Außerdem brauchen wir eine funktionierende Strafverfolgung. Es kommt immer noch vor, dass Betroffene bei der Polizei oder Justiz weggeschickt werden. Das kann nicht sein, diese Fälle müssen verfolgt werden.

„Täter müssen Verantwortung übernehmen“

netzpolitik.org: Was müsste sich ihrer Meinung nach ändern, damit Menschen besser vor geschlechtsbezogener digitaler Gewalt geschützt sind?

Jenny-Kerstin Bauer: Betroffenene brauchen eine schnelle Entlastung von der Gewaltsituation. Oft erhaten sie bedrohliche Nachrichten oder werden über das Telefon gestalkt. Diese Daten sind wichtige Beweismittel. Wenn Betroffene wissen, wie sie diese Beweismittel ganz einfach sichern können, wäre das eine tolle Sache. Es hilft, wenn man sich nicht immer wieder mit den belastenden Nachrichten beschäftigen muss und weiterhin online sein kann.

Ich finde aber, man sollte sich nicht immer um das Verhalten der Betroffenen konzentrieren: Wie komme ich sicher nach Hause, wie kann ich meine Beweise sichern? Es ist wichtig, das einfach alles anders zu denken. Was sollte denn die gewaltausübende Person anders machen? In erster Linie müssten wir in einer Gesellschaft leben, in der geschlechtsspezifische Gewalt einfach nicht mehr OK ist, und in der die Täter Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen.

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3 Ergänzungen

  1. In der vorletzen Antwort von Fr. Bauer hat sich ein Rechtschreibfehler bei „Fachberatungsstellen müssen aufinanziert“ eingeschlichen.

    Und noch ein inhaltliche Frage: Es wurde davon geschrieben, dass Berater:innen besser geschützt werden müssen und Adressen vor Täter:innen verborgen werden sollen. Kann man mir bitte das Verhaltensmuster dahinter erklären. Wer geht auf die Berater:innen los? Von welchen Täter:innen wird hier gesprochen?

    1. Vielen Dank für den Hinweis, wir haben den Rechtschreibfehler korrigiert.

      Zu der inhaltlichen Frage: Wer zum Beispiel Betroffene von Stalking berät, kann schnell selbst zum Ziel von Stalking werden. Deshalb können Sperrungen von Melderegisterauskünften wichtig sein.

  2. Das mit dem Schutzschild beschreibe ich genauer in der Expertise zum Sachverständigengutachten: „Es sollte im Falle akuter Bedrohungssituationen möglich sein, zügig und ohne hohen bürokratischen Aufwand ein „digitales Schutzschild“ zu errichten. Dies
    könnte auf Basis einer Risikoanalyse durch eine unabhängige Stelle geschehen, die
    gemeinsam mit der betroffenen Person, Behörden und Firmen die notwendigen (auf die
    jeweilige Situation angepasste) geplante Schritte wie zum Beispiel zur Sicherung von
    Beweismitteln (z. B. durch „Quick Freeze“), Einleitung von Schritten zur Löschung von
    Hasskommentaren oder Hassseiten, Sicherheits-Check und Hochziehen der IT-Sicherheit der Geräte der betroffenen Person, Schutz eines verifizierten Accounts, zügige
    Melderegistersperrung und weitere Schutzmaßnahmen (in akuten Fällen bis hin zu
    einem vorübergehenden Personenschutz) kommen kann.“
    https://www.dritter-gleichstellungsbericht.de/de/article/239.geschlecht-und-gewalt-im-digitalen-raum-eine-qualitative-analyse-der-erscheinungsformen-betroffenheiten-und-handlungsm%C3%B6glichkeiten-unter-ber%C3%BCcksichtigung-intersektionaler-aspekte.html – S. 36

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