GesichtserkennungssoftwareUkraine will mit Clearview AI russische Gefallene identifizieren

Ukrainische Behörden nutzen offenbar Gesichtserkennungssoftware, um russische Gefallenen zu identifizieren und deren Familienangehörige zu kontaktieren. Clearview AI besitzt eine Datenbank mit über 10 Milliarden Fotos – und stellt seinen Dienst kostenlos der Ukraine zur Verfügung.

Der Körper eines Menschen ist vor schwarzem Hintergrund mit weißem Licht dargestellt.
Die Software Clearview AI deckt die Identität von Menschen auf (Symbolbild). – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Elliot Wilkinson. Bearbeitung: netzpolitik.org

Die Ukraine identifiziert mit der Gesichtersuchmaschine Clearview AI getötete russische Soldaten. Das hat der ukrainische Vize-Premierminister und Digitalminister Mychajlo Fedorow der Nachrichtenagentur Reuters bestätigt. Laut Fedorow können ukrainische Behörden mit Clearview AI die Social-Media-Accounts der russischen Gefallen ausfindig machen. Über diese kontaktieren die Behörden dann die Familienangehörige und informieren sie über den Tod der Gefallenen, so Fedorow.

Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, stellte Clearview seine Such-Software kostenlos der Ukraine zur Verfügung. Das geht aus einem Dokument hervor, das unter anderem Reuters vorlag. Mitte März gab das ukrainische Verteidigungsministerium an, die Gesichtserkennungssoftware im Land einzusetzen. Allerdings war bislang unklar, wofür es die Technologie konkret verwenden möchte.

Offenbar hohe Erfolgsquote

Die Suchmaschine aus New York funktioniert folgendermaßen: Nutzer:innen laden ein Foto von einem Gesicht in der Suchmaschine hoch. Die Technologie analysiert die Gesichtsmerkmale und gleicht sie mit den Gesichtern in seiner Datenbank ab. Aus dem Dokument geht hervor, dass das Unternehmen allein von dem russischen Online-Dienst VKontakte zwei Milliarden Fotos in seiner Datenbank haben soll. Nach Angaben von Fedorow soll der Einsatz von Clearview AI bisher eine hohe Erfolgsquote zeigen. Diese Angaben konnte Reuters nicht unabhängig überprüfen. Der Digitalminister versichert, dass die Software nicht gegenüber ukrainischen Gefallenen eingesetzt wird. 

Fedorow meint im Interview mit Reuters, die ukrainische Behörden handeln aus „Höflichkeit gegenüber den Müttern dieser Soldaten“. Die Familien, die ihre Söhne verloren haben, hätten so die Möglichkeit, ihre Leichen abzuholen, meint Fedorow. Die ukrainische Regierung stellt außerdem ein Online-Formular bereit, mit dem Angehörige eine Abholung des Gefallenen beantragen können. 

Die US-Organisation Surveillance Technology Oversight Project steht dem Einsatz von Clearview AI kritisch gegenüber. Albert Fox Chan, Direktor des Projekts, sieht die Gefahr, dass die Technologie unkontrolliert und missbräuchlich im Kriegsgebiet verwendet werden könne. Er weist auch auf das Risiko hin, dass Personen falsch identifiziert werden können.

Clearview meint dagegen in einem Statement, die Gesichtserkennungstechnologie könne dazu beitragen, die Unsicherheit in Kriegsgebieten zu verringern. 

Laufende Verfahren gegen Clearview AI

Clearview AI nutzt für seinen Service eine Datenbank, die aus Bildmaterial aus dem Netz besteht. Dazu durchforstet Clearview AI das Internet nach Fotos von Gesichtern – und zieht diese auch von frei zugänglichen Online-Quellen, offenbar auch von dem russischen Sozialen Netzwerk VKontakte. Insgesamt verzeichnet die Datenbank von Clearview AI nach Eigenangaben weit mehr als zehn Milliarden Fotos

Die Gesichterkennungssoftware steht schon länger in der Kritik: Online-Dienste sehen in der Technologie einen Verstoß gegen ihre Nutzungsbedingungen, Google und Facebook haben Clearview AI abgemaht. Bürgerrechtsorganisationen bezeichnen die Technologie als ein Tool zur ständigen Überwachung der Gesellschaft und haben bei europäischen Datenschutzbehörden Beschwerden eingereicht. Auch in Deutschland läuft ein Verwaltungsverfahren gegen Clearview. Dass Clearview nun wegen etwas anderem als Datenschutzproblemen in den Schlagzeilen ist, dürfte dem Unternehmen gelegen kommen.

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8 Ergänzungen

  1. Es gibt die Erkennungsmarke zur eindeutigen Identifizierung.

    Erkennungsmarke
    https://de.wikipedia.org/wiki/Erkennungsmarke

    Der zweite Teil der Erkennungsmarke kann dem intentionalen roten Kreuz übergeben werden, um zu verhindern das die russische Armee Angehörige nicht informiert.

    Ebenso wäre das intentionale rote Kreuz zuständig, wenn die russische Armee keine derartigen Erkennungsmarken ausgibt um die Identifizierung zu verhindern oder zu erschweren. Für diesen Fall würde das intentionale rote Kreuz diese Datenbank benötigen, nicht aber die Ukraine

    Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung
    https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Rotkreuz-_und_Rothalbmond-Bewegung

    Es gehört explizit zur Kernaufgabe des internationalen Roten Kreuzes die Würde der Opfer von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten zu wahren.

    Wie weit das Vorgehen der Ukraine mit der Haager Landkriegsordnung vereinbare ist, entzieht sich meinen Kenntnissen.

    Haager Landkriegsordnung
    https://de.wikipedia.org/wiki/Haager_Landkriegsordnung

    Zu klären wäre weiters ob dieses Vorgehen als Kriegsverbrechen zu werten ist,

    Internationaler Strafgerichtshof
    https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Strafgerichtshof

    Die Softwarefirma sollte darüber nachdenken ob die Verwendung dieser Software für den angegebenen Zweck mit internationalem Recht vereinbar ist.

  2. Wenn es wirklich um gefallene Soldaten ginge, würde man Wege finden, diese den gegnerischen Truppen zu übergeben für eine Identifizierung, Überführung, und für die Benachrichtigung der Angehörigen.

    „Dass Clearview nun wegen etwas anderem als Datenschutzproblemen in den Schlagzeilen ist, dürfte dem Unternehmen gelegen kommen. “

    Hat mal jemand zu Ende gedacht, was da im Artikel beschrieben ist?

    Dieselbe Ukraine, die einen russischen Soldaten ermordet hat – durchaus mit Recht, es herrscht Krieg – macht also Fotos von den Toten und glaubt, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu wissen, wer das Opfer ist.

    Dann „kontaktiert“ sie die Angehörigen über Soziale Medien. Es gibt unterschiedliche Berichte, wie das funktionieren soll, einige schreiben, dass dabei Fotos von Toten mit mehr oder weniger sicher festgestellter Identität im Internet breitgetreten werden. Garniert mit Aufrufen an die Mütter, doch bitte Putins Krieg zu stoppen.

    Die Mütter der Toten Soldaten werden dann vor die Wahl gestellt, entweder persönlich ins Kriegsgebiet zu reisen, um dort möglichst vor laufenden Kameras gegen Putin und den illegalen Angriffskrieg zu wettern und sich öffentlich von Russland zu distanzieren, bevor sie den Leichnam ihrer Kinder ausgehändigt bekommen, den sie dann auf dem Rücksitz ihres Autos nach Russland transportieren und dort begraben?

    Kann man noch tiefer sinken, als die Ukraine und Clearview es hier tun?

    Wenn ein Soldat tot oder in Gefangenschaft ist, gebietet es nicht nur der Anstand, sondern auch das Kriegsrecht, ihn mit Würde zu behandeln, statt ihn und seine Angehörigen öffentlich zu demütigen und als Propandamittel ein zu setzen.

    Die ganze Heuchelei wird offensichtlich in der Erklärung, dass man das Verfahren auf ukrainische Gefallen natürlich nicht anwendet.

    Wenn es wirklich um gefallene Soldaten und ihre Angehörigen ginge, würde man Wege finden, diese den gegnerischen Truppen zu übergeben für eine Identifizierung, Überführung, und für die Benachrichtigung der Angehörigen.

  3. Für Clearview ist wohl jeder auch noch so abscheulicher Anlass willkommen, das eigene Ansehen mit der Methode aufzupolieren: Seht her, wir tun „was Gutes“ für die Ukraine.

    Jeder Zweck heiligt die Mittel bei Clearview. Ungehemmt, schamlos.

  4. Auch eine Datenbank, die aus Bildern besteht braucht eine Datenpflege. Um Verwechslungen mit Verstorbenen zu vermeiden, braucht ein Datensatz auch das Bit „verstorben“, möglichst mit Ort, Datum, Umstände, wenn möglich.

    Aus Sicht von Datenbankbetreibern ist das kein Zynismus, sondern moralfreie Geschäftsgrundlage.

    Clearview hat die Bilder im Netz gestohlen. Vielleicht sind es auch Bilder von mir. Diese werden jetzt an Kriegsparteien gegeben. Wer hat mich gefragt, ob ich das will?

    Wie kann es sein, dass Clearview gestohlene Bilder weiter besitzen darf und damit Geschäfte machen kann? Was muss man sich denn noch gefallen lassen? Schluss damit. Sanktionen gegen Clearview bitte.

    1. > Vielleicht sind es auch Bilder von mir. Diese werden jetzt an Kriegsparteien gegeben. Wer hat mich gefragt, ob ich das will? <

      Hierzu die taz:
      Millionen Menschen, die gar nicht wissen, dass ihr Konterfei in einer riesigen biometrischen Datenbank gelandet ist und der Nutzung wahrscheinlich auch gar nicht zugestimmt haben, müssen nun also ihren Kopf hinhalten, um tote Soldaten zu identifizieren.

      Man kann das mit Recht für pietätlos und abstoßend halten. Doch der Krieg ist am Ende auch eine Stätte der Datenproduktion – und schert sich um die Würde der Menschen herzlich wenig.

      https://taz.de/Kuenstliche-Intelligenz-im-Krieg/!5843172/

      1. Der BND geht laut »The Pioneer« davon aus, dass die Entwicklung Auswirkungen auf den Alltag haben werde. Es werde »nahezu sicher zu einem von der russischen Gesellschaft perzipierten signifikanten Rückschritt in der Digitalisierung des Alltagslebens« kommen, heißt es demnach in dem Bericht.

        https://www.spiegel.de/netzwelt/web/apple-und-samsung-in-russland-werden-offenbar-smartphones-knapp-a-0f1579f4-6c5c-4f88-93f0-36cc3d61cabc

  5. Mein Kompliment für die Auswahl dieses „Symbol-Bildes“!

    Schwarzer Hintergrund, Tod und Trauer.
    Die Farben weiss, blau und rot in dieser Folge: Die Russische National-Flagge.
    Viele „weisse Z“ in einem Schwung gemalt: Ein Skelett.

  6. @Marvin: „Kann man noch tiefer sinken, als die Ukraine und Clearview es hier tun?“
    Tja, hmm… wie wäre es… mit der Bombardierung von Krankenhäusern? Oder Städte einzukesseln und auszuhungern? Nur so ne Idee.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.