EUMigraToolMit „Künstlicher Intelligenz“ gegen Migration

In einem Offenen Brief kritisieren elf Organisationen das Vorhaben der EU, eine Infrastruktur für die Vorhersage von „Migrationströmen“ aufzubauen. Das geplante Instrument könnte außerdem einer geplanten EU-Verordnung widersprechen.

Ein Mann vor einem Monitor, im Hintergrund Johansson mit einem Polizisten, umringt von drei Männern, alle mit Masken.
Die Kommissarin für Migration und Inneres, Ylva Johansson, besucht ein Koordinierungszentrum der Grenzpolizei auf den Kanarischen Inseln. EU-Kommission

Die Europäische Union nutzt verschiedene Werkzeuge, um unerwünschte Migration zu verhindern oder zumindest zu kontrollieren. Im Mittelpunkt steht die Grenzagentur Frontex, die mit Satelliten, Flugzeugen und Drohnen die Außengrenzen überwacht. Frontex betreibt außerdem eine regelmäßige Aufklärung des „Grenzvorfeldes“ weitab europäischer Küsten. Gemeinsam mit 30 afrikanischen Staaten hat die Agentur hierfür ein eigenes Netzwerk gestartet, das auch Geheimdienstinformationen verarbeitet.

Nun will die EU-Kommission einen Schritt weiter gehen. Mithilfe von Daten verschiedener Quellen soll ein sogenanntes EUMigraTool „Migrationsströme“ in Europa vorhersagen und steuern. Die Modellierung und Vorhersage soll unter Verwendung von „Deep Learning“ erfolgen. In seinem ersten Stadium soll das EUMigraTool zwar offiziellen Angaben zufolge zwar nicht der Abwehr von Geflüchteten dienen, sondern deren Aufnahme, Um- und Ansiedlung unterstützen. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen fordern in einem Offenen Brief trotzdem, das Vorhaben zu stoppen.

Bislang nur Prognosen für einzelne Länder

Das EU-finanzierte EUMigraTool gehört zum Projekt ITFLOWS, in dem sich verschiedene Universitäten, Institute und Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen haben. Die Kommission fördert das EUMigraTool mit rund 4,9 Millionen Euro, federführend in dem Projekt ist die Universität Barcelona. Bis zum 31. August 2023 sollen erste Ergebnisse vorliegen.

Das Projekt will in erster Linie eine Lösung entwickeln, die eine „verlässliche Vorhersage von Migranten“ in ganz Europa ermöglicht. Bislang gebe es diese Ansätze lediglich länderbezogen, etwa für das Vereinigte Königreich und Schweden. Dort würden unterschiedliche Datenquellen und Zeitrahmen für die Vorhersage genutzt.

Einige der Frühwarnmodelle könnten zudem vorhersagen, „welche Länder das Potenzial haben, Flüchtlingsströme auszulösen“. Hierzu können etwa politische Ereignisdatenbanken herangezogen werden, wie sie in Deutschland die Bundeswehr und das Auswärtigen Amt nutzen. In einem ähnlichen Projekt hatte die EU-Kommission Forschungen finanziert, die untersuchten, wie sich Open Source Intelligence (OSINT) für die Meeresüberwachung nutzen lässt.

Derartige Modelle berücksichtigten laut ITFLOWS aber keine Fluchten, die etwa durch Umweltursachen wie Naturkatastrophen oder Wetterveränderungen ausgelöst werden. Das nun geplante Projekt will deshalb die vorhandenen Instrumente und Datenplattformen im Bereich Migration und Asyl in Europa zusammenführen. Algorithmen sollen dabei auch nicht-personenbezogene Informationen aus Sozialen Medien auswerten.

Zocken gegen den Bullshit

Einbindung von Daten aus „Kommunikationstechnologie“

In einer im Februar veröffentlichten Studie ging das Forschungszentrum der EU-Kommission der Frage nach, wie Migrant:innen Twitter, Flickr oder Instagram nutzen. Dabei analysierten sie neben personenbezogenen Daten auch die Stimmung („mood“) der Menschen. Rückschlüsse erlauben auch Plattformen wie Linkedin, wo Nutzer:innen ihre Herkunft und ihren jetzigen Aufenthaltsort preisgeben.

Telefonanbieter können zudem feststellen, wenn sich etwa auffällig viele Mobiltelefone in einem bestimmten Zeitraum in einer anderen Region in das Funknetz einbuchen. Auch wenn diese Vorratsdaten anonymisiert werden, enthalten sie brauchbare Informationen über Wanderungsbewegungen.

Dreispaltige Tabelle mit Angaben zu Quellen, Stärken und Herausforderungen von geobezogenen Migrationsdaten.
Mögliche Datenquellen zur Analyse von Migrationsbewegungen. - Joint Research Centre

Welche dieser Daten das EUMigraTool nutzen wird, lässt sich der Webseite von ITFLOWS nicht entnehmen. Genannt werden jedoch neben der vagen Formulierung „evidenzbasierte Informations- und Kommunikationstechnologien“ auch Medieninhalte aus TV-Nachrichten“.

Mit der angestrebten Lösung will die EU zunächst die Integration von Zugewanderten erleichtern. Dabei könnte es sich um die Umverteilung von Geflüchteten handeln, wie sie die EU in einem festen „Relocation-Mechanismus“ umsetzen will. Anschließend plant ITFLOWS das Instrument zu nutzen, um „potenzielle Risiken für Spannungen zwischen Eingewanderten und EU-Bürgerinnen und -Bürgern zu erkennen“. Schließlich will das Projekt Empfehlungen für politisch Verantwortliche, Regierungen und die Unionsorgane aussprechen.

Organisationen kritisieren Versicherheitlichung von Migration

Ein Bündnis aus elf Nichtregierungsorganisationen, darunter Access Now, Bits of Freedom, European Digital Rights und Statewatch, hat vergangene Woche heftige Kritik an dem EUMigraTool geübt. In einem Offenen Brief fordern die Organisationen zusammen mit Einzelpersonen, auf jegliche Technologien zu verzichten, die Menschen auf der Flucht behindern könnten. Vorhersagetechnologien böten das Potenzial, Migrant:innen vor allem als Sicherheitsproblem wahrzunehmen und zu kriminalisieren.

Ein anderer Vorwurf lautet, dass ITFLOWS eine Infrastruktur für prädiktive Migrationstechnologien schaffe. Das EUMigraTool verzichte dabei auf Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern, dass Behörden und EU-Agenturen das Prognoseinstrument für Grenzmanagement und zu Sicherheitszwecken nutzen.

Prädiktive Analyseinstrumente seien derzeit zudem Gegenstand interinstitutioneller Verhandlungen im Rahmen des EU-Gesetzes zum Einsatz „Künstlicher Intelligenz“, das die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Demnach sind Anwendungen zur Grenzüberwachung und -kontrolle nach derzeitigem Stand nicht erlaubt. Die Unterzeichner:innen des Offenen Briefes fordern das ITFlows-Projekt deshalb auf, „von der Entwicklung eines Systems Abstand zu nehmen, das nach der kommenden Verordnung verboten werden soll“.

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4 Ergänzungen

  1. Prinzipiell bin ich für Analysen und Vorhersagen. Handyauswertung in Echtzeit ist allerdings eher Nachrichtendienst. Da sollte man die Bereiche vielleicht nicht beliebig verschmieren.

    Andererseits gab es das bei Corona ja auch schon. Dieselbe Sorte Auswertung, ungefähr?

  2. Migration ist ein fundamentales Sicherheitsthema fuer Staaten, denn Migration kann potentiell die staatliche Stabilitaet und letztlich Existenz gefaehrden. Das ist voellig ohne Wertung ein historischer wie offensichtlicher Fakt.

    Das zu ignorieren ist bequem, aber halt leider die Stufe „Klimawandlungsleugner“.

  3. Das progressive Erfolgsmodell der letzten 20 Jahre: eine von Rechten instrumentalisierte Problematik um jeden Preis verleugnen oder zumindest ignorieren.

    Angebot einer Problemstellung: keine.

    Angebot einer Problemlösung: keine.

    Angebot einer Problemlösungsstrategie: keine.

    Ergibt dann als Partei unter 5% und Bundestagsfraktion nur auf Grund einer vom Bundestag gnädig akzeptierten undemokratischen Erstimmen-Wahl in Berlin, Chapeau! 8)

    Ergibt gesellschaftspolitisch einen Rechtsruck mangels alternativer Problemstellungen oder gar Lösungsansätzen.

    Nennt man kontraproduktiv.

    Übrigens wählen die meisten Neuwähler mit Migrationshintergrund konservativ.

  4. Ein belastbare Erfassung der Situation ist ebenso zu begruessen wie eine belastbare Projektion der Entwicklung. Wie sonst sollte man das handhaben koennen?

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