100 Tage BundesregierungGroße Vorhaben und große Baustellen

Die Ampelregierung hat sich einiges für die Digitalisierung vorgenommen. Noch sind die neuen Regierungspartner viel mit Vorbereitungen beschäftigt, bevor es richtig losgehen kann. Wir haben die Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg und Maik Außendorf gefragt, was für sie wichtig ist und wo es noch klemmen könnte.

Bagger und Bulldozer in einer Baugrube
Ohne solides Fundament kann es nicht klappen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Shane McLendon

In ihrem Koalitionsvertrag hatte sich die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP jede Menge digitale Themen vorgenommen. Digitales Ehrenamt stärken, ein Rechtsanspruch auf offene Daten, das Ende der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung.

Es kam Hoffnung auf, dass sich nach Jahren der immer schärferen Überwachungsgesetze und eher schleppenden Digitalisierung endlich etwas ändern könnte. Die ersten 100 Tage der Regierungszeit sind nun vorbei. Organisationen aus der digitalen Zivilgesellschaft stellen der Ampel ein eher durchwachsenes Zeugnis aus. Aber was sagen Politiker:innen aus dem Bundestag dazu? Was sind für sie die wichtigsten Themen in ihrer parlamentarischen Arbeiten? Was sollte als nächstes passieren? Was ist schon in Arbeit und wo hakt es noch?

Wir haben dafür mit Maik Außendorf geredet, digitalpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag und damit Mitglied einer regierenden Partei. Aus der Perspektive der Opposition spricht Anke Domscheit-Berg, netzpolitische Sprecherin der Linken.

Nachhaltige Digitalisierung im Fokus

Maik Außendorf ist Diplom-Mathematiker und neu im Parlament. Vorher war er 20 Jahre in der IT-Branche tätig, mit Schwerpunkten auf Open Source und Linux. Politikerfahrung konnte er seit 12 Jahren im Kommunalen sammeln.

Ein für ihn wichtiges Thema ist Green IT, sagt der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Digitales. „Es geht darum, Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltiger und klimafreundlicher auszurichten“, sagt er und sieht dabei große Potenziale, etwa bei klimaneutralen Rechenzentren.

Schon im Koalitionsvertrag finden sich zu den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit viele Einzelvorschläge. Von digitalen Produktpässen mit umweltrelevanten Daten über die Digitalisierung des Stromnetzes bis hin zu langlebigen und recyclebaren Produkten.

Im Wirtschaftsministerium (BMWK) werde für Green IT gerade ein neues Referat gegründet, sagt Außendorf. Das ist etwas, was auch Domscheit-Berg interessieren dürfte. Sie zählt das Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu ihren „Top Five“ und hat große Erwartungen: „Früher hat sich dafür fast niemand interessiert, das hat sich mittlerweile geändert. Und es ist ein Bereich, wo ich der neuen Regierung auch die meiste Kompetenz zuschreibe.“ Die langjährige Netzaktivistin hofft, dass ihre Erwartungen nicht enttäuscht werden. Aber ganz glatt läuft es ihrer Erfahrung nach noch nicht.

Wer hat den Hut auf?

„Ich habe den Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing von der FDP gefragt, wer für Digitalisierung und Nachhaltigkeit zuständig ist. Da hat er gesagt: ‚Ich'“, berichtet Domscheit-Berg. Im Organigramm des Ministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) lässt sich ein entsprechender Eintrag finden. Später habe sich dann herausgestellt, dass Wissing sich vor allem für einen CO2-sparsamen Infrastrukturausbau und ressourcensparende Verkehrslösungen durch Digitalisierung verantwortlich fühlt. „Da merkt man, dass er sich doch nur als Autominister mit Glasfaser versteht“, resümiert Domscheit-Berg.

Das von Außendorf erwähnte Referat im Wirtschaftsministerium findet sich hingegen noch nicht in einem Organigramm. Beziehungsweise: Noch gibt es keine solche öffentlich verfügbare Übersicht aus dem Haus von Robert Habeck. „Das neue Organigramm wird an dieser Stelle so schnell als möglich eingestellt“, heißt es auf der Website.

Das Zuständigkeitsproblem ist Domscheit-Berg auch bei anderen Themen begegnet und das bereitet ihr Sorgen: „Man kann nichts gut machen, wenn man keine gute Governance und keine Struktur und Strategie hat. Das ist das, was man am ehesten nach 100 Tagen beurteilen kann“, sagt sie. Sie wünscht sich dafür zunächst ein „Digital-Wimmelbild“ – eine Übersicht, wer wofür im Bereich Digitalisierung zuständig ist. Doch bis heute, sagt sie, sei das nicht fertig. Auch wenn sie mehrmals nachgefragt und eines versprochen bekommen habe.

„Bleierne Lähmung der Groko-Zeit überwinden“

Trotz all der Kritik, Domscheit-Berg hat weiter Hoffnung, dass die Regierung die „bleierne Lähmung“ aus der Groko-Zeit überwindet. „Im Koalitionsvertrag stehen Dinge drin, die da vorher nie gestanden hätten“, sagt sie. Ein geplantes Ende der Vorratsdatenspeicherung, eine Überwachungsgesamtrechnung oder ein starkes Recht auf Verschlüsselung zum Beispiel.

IT-Sicherheit erwähnt auch Außendorf, wenn man ihn nach den wichtigsten Themen fragt – „sowohl für staatliche Stellen als auch für die Wirtschaft.“ Er wirbt dafür, gerade in der aktuellen Situation, in der mehr Angriffe aus Russland auf IT-Infrastruktur erwartet werden, verstärkt ein Augenmerk auf das Thema zu legen, auch über die Pläne im Koalitionsvertrag hinaus. „Man kann sich ausmalen, wie das Schadenspotenzial ist, wenn ein staatlicher Angreifer versucht, auf die Wirtschaft zu zielen“, so Außendorf.

Digital- und Gigabitstrategie

Schon am Entstehen, so Außendorf, sei die Digitalstrategie. Bis Sommer soll sie fertig sein, kündigte Volker Wissing vor Kurzem an. Bereits präsentiert hat sein Ministerium Eckpunkte für eine Gigabit-Strategie, um den Ausbau der Internetversorgung zu beschleunigen. „Es werden Förderrichtlinien überarbeitet, damit schnelle Glasfaseranschlüsse an jedes Haus kommen“, so Außendorf. Das sei wichtig für alles andere, denn: „Breitband-Anschlüsse sind Voraussetzung für Digitalisierung in vielen Bereichen, sei es Home Office, automatisiertes Fahren oder Digitalisierung in der Landwirtschaft“, so der Grünenabgeordnete. Einige Fragen dafür müssen aber noch geklärt werden, etwa wie man mit schwer erschließbaren Gebieten umgeht.

Wenn man Außendorf fragt, wo es vielleicht am ehesten knirschen könnte zwischen den Koalitionspartnern, kommt er auf die „digitale Souveränität“ zu sprechen. Gerade liegt ein Vorschlag von SAP und Arvato auf dem Tisch, die eine Cloud-Lösung für deutsche Ministerien und Behörden umsetzen wollen. Eine wichtige Rolle soll dabei Microsofts Produkt Azure spielen.

„Mein Verständnis von digitaler Souveränität ist es, dass wir möglichst viel und idealerweise nur noch Open-Source-Komponenten einsetzen“, sagt Außendorf. Aber da gebe es unterschiedliche Vorstellungen bei den Koalitionspartnern. Außendorf findet: „Wir müssen unabhängig von anderen Staaten und von Konzernen werden. Denn sonst dreht uns von Osten her Putin den Gashahn zu und von Westen vielleicht der nächste Trump den Datenhahn.“

Der „BER der Verwaltung“

Ein weiteres Thema, das in den letzten Legislaturen immer wieder gehakt hatte, war die Digitalisierung der Verwaltung. Die hat die Vorgängerregierung etwa mit dem Onlinezugangsgesetz auf den Weg gebracht, aber richtig rund lief es nicht. „Den BER der Verwaltung“ nennt Domscheit-Berg das Vorhaben, in Anspielung auf den Berliner Flughafen, der als Großprojekt ewig dauerte und Millionen verschlang. Bis Ende des Jahres sollen Verwaltungsleistungen für alle digital zur Verfügung stehen. Schluss mit dem Anstehen auf dem Bürgeramt oder der Zulassungsstelle.

Dass das problemlos klappt, daran mag auch Außendorf noch nicht ganz glauben. „Das wird auf jeden Fall spannend, wie weit das umsetzbar ist. Um das vernünftig zu machen, bräuchte es erst mal eine elektronische Identität für die Bürgerinnen und Bürger.“ Und da sind bisher einige Anläufe gescheitert. „Bei eID und elektronischem Führerschein hat Andi Scheuer viel Geld für nichts versenkt, da müssen wir eigentlich bei null anfangen“, sagt Außendorf. Grundvoraussetzung für eine digitale Verwaltung ist seiner Meinung nach, „dass Bürgerinnen und Bürger staatliche Online-Dienste authentifiziert und sicher nutzen können. Das hat große Priorität, aber die Vorgängerregierung hat da einfach das Falsche gemacht.“

Für Domscheit-Berg hängt gerade die Erfolgsaussicht von Querschnittsthemen wie der Digitalisierung der Verwaltung und Nachhaltigkeit von Digitalisierung davon ab, ob die neue Regierung es schafft, ihre Zuständigkeiten zu klären. Dann kann es klappen, findet die Oppositionspolitikerin und das wünscht sie sich auch für die nächsten 100 Tage: „Eine kluge Struktur mit kluger Governance, das wär’s. Damit kann von dem ganzen Rest zumindest einiges funktionieren. Aber wenn du das nicht hast, ist ganz egal, wie gut dein Wille ist. Dann wird’s halt nix.“

Domscheit-Berg: Transparenz als „No-Brainer“

Noch lässt sich kaum beurteilen, ob die neue Regierung die lange vermissten Fortschritte in der Digitalisierung bringen wird. Gerade wenn sie sich neben den regulären Koalitionsvorhaben mit einer andauernden Pandemie und dem Krieg in der Ukraine befassen muss. Ein Thema aber könnten zumindest die Ampel-Parteien im Bundestag schnell besser machen als ihre Vorgänger: Transparenz herstellen, zum Beispiel zu den Sitzungen im Digitalausschuss. „Ich bin immer wieder enttäuscht“, sagt Domscheit-Berg. „Öffentlichkeit im Digitalausschuss herstellen, das wäre eigentlich ein totaler No-Brainer. FDP und Grüne waren da früher eigentlich immer dafür – und auf einmal beißt man da auf Granit“, wundert sie sich. Sie hatte auf neuen Wind und mehr Transparenz gehofft.

Öffentlichkeit zur Regel bei bestimmten Ausschusssitzungen machen, das steht auch im Koalitionsvertrag. Doch bei der letzten Sitzung des Digitalausschusses durfte die Allgemeinheit gerade einmal eine Stunde zuschauen als es um den AI Act ging, ein EU-Gesetzesvorhaben zu Künstlicher Intelligenz. Was die Bundesregierung etwa zur „Cyberlage in der Ukraine“ zu sagen hatte, die auch Thema war, konnte die Öffentlichkeit nicht verfolgen.

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Eine Ergänzung

  1. „Digitalisierung“ wozu? Zu wessen Schaden und zu wessen Nutzen?

    Das Spiel ist schnell vorbei, wenn der Strom OFF ist. Energie ist eine zunehmend knappe Ressource, die begrenzt ist. Öko-Strom für grüne Crypto-Currencies zu verbraten ist die Mutter aller Dummheiten.

    Hinterm Horizont geht’s weiter, aber analog und zu Fuß.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.