Vorratsdatenspeicherung in FrankreichStaatsrat weist Regierung in die Schranken

Die französische Regierung wollte dem Europäischen Gerichtshof seine Zuständigkeit absprechen und selbst über Sicherheits- und Überwachungsfragen entscheiden. Der französische Staatsrat unterstützte das zwar nicht, erklärte die Vorratsdatenspeicherung in Frankreich aber für derzeit legitim. Das Land befinde sich immer noch im Ausnahmezustand.

Frankreich wird vorerst weiter Vorratsdaten speichern. Wer etwa vor der Mona-Lisa sein Smartphone zückt, landet in den Datenbanken. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Mika Baumeister

Der französische Staatsrat Conseil d’État hat am Mittwoch über Frankreichs umstrittene Vorratsdatenspeicherung entschieden. Im Oktober 2020 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil entschieden, dass anlasslose Vorratsdatenspeicherung außer in einigen Ausnahmefällen das Grundrecht auf Privatsphäre verletze und in Europa illegal sei. Die Entscheidung des Höchstgerichts tangierte auch nationale Gesetze, die Telekommunikationsanbietern wie in Frankreich vorschreiben, massenhaft Daten ihrer Kunden zu speichern. Die französische Regierung entschied sich dagegen, die nationalen Regelungen anzupassen, und hatte den Staatsrat beauftragt zu prüfen, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshof gegen die französische Verfassung verstoße.

Der Staatsrat sollte außerdem prüfen, ob der Europäische Gerichtshof seine Befugnisse überschritten hätte. Das wäre für andere europäische Länder eine Steilvorlage dafür gewesen, die Vorratsdatenspeicherung in ihren nationalen Gesetzen trotz des EuGH-Urteils durchzusetzen. Laut einem Bericht von Politico wollte die französische Regierung mit der Befugnisüberprüfung erwirken, dass nationale Sicherheitsfragen nicht den Urteilen des EuGH unterliegen, sondern Ländersache würden.

Der Staatsrat kam nun zu dem Schluss, dass das Urteil des EuGH die französische Verfassung nicht beeinträchtige. Die aktuelle Vorratsdatenspeicherung in Frankreich sei allerdings insofern gerechtfertigt, da nach derzeitiger Einschätzung die nationale Sicherheit des Landes bedroht sei.

Er weigerte sich außerdem zu überprüfen, ob die Behörden der EU ihre Befugnisse überschritten hätten. Laut Politico sagte ein Beamter des Staatsrates in einer Pressekonferenz, dass die äußeren Umstände, das Klima und Prinzipien die Behörde beeinflusst hätten, sich an das EuGH-Urteil zu halten. Der Staatsrat betont dennoch, dass die französische Verfassung die oberste Norm sei und die aktuelle Vorratsdatenspeicherung gerechtfertigt.

Keine Absage, aber ein kleiner Vorstoß

Der Staatsrat stellt sich in seinem Urteil teilweise gegen die Vorratsdatenspeicherung in Frankreich und legitimierte sie nur angesichts der jetzigen Situation. Er kommt zu dem Schluss, dass der europäische Rechtsrahmen für die Vorratsdatenspeicherung die verfassungsrechtlichen Anforderungen Frankreichs an die nationale Sicherheit und Verbrechensbekämpfung nicht gefährde. Seit 2015 hatten verschiedene Organisationen in Frankreich versucht, gegen die dort gesetzlich vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung vorzugehen.

Zu den Vorratsdaten, die von Telekommunikationsanbietern erhoben werden, gehören: Identitätsdaten, wie der zu einer Telefonnummer zugehörige Vor- und Nachname oder die IP-Adresse; Verkehrsdaten, die Zeit und mit wem kommuniziert wird oder welche Websites aufgerufen werden, und die Standortdaten, die bei der Nutzung von Mobilfunkgeräten entstehen. Sie werden zur Aufklärung von Straftaten, insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung, verwendet und müssen in Frankreich ein Jahr von den Telekommunikationsanbietern gespeichert werden.

Wann ist Vorratsdatenspeicherung möglich?

In dem EuGH-Urteil vom Oktober 2020 äußert sich der Gerichtshof explizit dazu, in welchen Ausnahmefällen eine Vorratsdatenspeicherung erlaubt sei. In der Pressemitteilung wird betont, dass die Pflicht zur Gewährleistung der Vertraulichkeit von Telekommunikationsdaten für einen Zeitraum aufgehoben werden kann, wenn ein „Mitgliedstaat mit einer ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit konfrontiert ist, die sich als ernsthaft und gegenwärtig oder vorhersehbar erweist“. Wie netzpolitik.org bereits im Oktober berichtete, sei unklar, wie diese „ernsthafte Bedrohung“ überprüft werden solle. Vor der Urteilsverkündung des Staatsrates diese Woche betonte die französische Regierung laut einem Artikel von Politico, wie „unverzichtbar“ die Vorratsdatenspeicherung sei, um gegen Terrorismus, Cyberkriminalität und Spionage vorzugehen.

Der Staatsrat bestätigte, dass aktuell die Gefährdungslage gegeben sei, dass diese Einschätzung aber immer wieder von der Regierung und einem Verfassungsgericht überprüft werden müsse. Er weist außerdem daraufhin, dass die generelle Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung für andere Zwecke als für die nationale Sicherheit, wie etwa die Verfolgung von Straftaten, rechtswidrig sei. Nicht so sensible Daten wie IP-Adressen, Konten und Zahlungen, seien davon ausgenommen.

Die Gefährdungslage, die der Grund für die massenhafte Speicherung der Telekommunikationsdaten sei, muss laut der Entscheidung des Staatsrats also periodisch geprüft werden. Wenn die aktuelle Einschätzung starker Terrorgefahr in Frankreich nun fortdauernd beibehalten wird, ist eine faktisch dauerhafte Vorratsdatenspeicherung möglich.

Der EuGH erlaubte eine weitere Ausnahme, nämlich wenn die Vorratsdatenspeicherung auf bestimmte Personengruppen oder Gebiete für eine gewisse Zeit beschränkt ist. Das hält der französische Staatsrat praktisch nicht für umsetzbar. Geheimdienste könnten nicht im Voraus wissen, wer straffällig werde, und eine gezielte Speicherung der Daten Verdächtiger sei nicht realistisch.

Der Staatsrat verweist im Hinblick auf Straftaten auf die nach europäischem Recht erlaubte „expedited preservation“. Sie erlaubt Geheimdiensten, auf Daten zuzugreifen, die bereits für die nationale Sicherheit erhoben werden. Sie verpflichtet außerdem Unternehmen, bei Anordnung Daten für bis zu 90 Tage „einzufrieren“. Geheimdienste können dann nicht direkt darauf zugreifen, auch das muss angeordnet werden. Die Maßnahme kann bei Bedarf verlängert werden.

Wer überprüft den Zugriff?

Bevor der Geheimdienst auf Daten zugreifen kann, wird in Frankreich eine Stellungnahme der Nationalen Kommission für die Überwachung geheimdienstlicher Techniken eingeholt. Der Staatsrat merkt an, dass diese Überprüfung des Zugriffs durch den Geheimdienst auf gespeicherte Daten verbindlich werden muss. Aktuell sei die Stellungnahme der Kommission nicht bindend. Auch wenn es bisher nicht geschehen sei, könne sich der Premierminister über eine Stellungnahme hinwegsetzen und auch wenn die unabhängige Behörde dagegen ist, Geheimdiensten den Zugriff auf Daten erlauben. Das soll sich jetzt ändern: Der Staatsrat gibt der Regierung sechs Monate, die Verbindlichkeit im Rechtsrahmen festzuhalten.

Wie Politico berichtet, sage die Entscheidung vom Mittwoch nichts über den Zugriff anderer öffentlicher Behörden auf Telekommunikationsdaten aus. Der EuGH berate aktuell darüber, ob die französische Finanzbehörde ebenfalls Zugriff auf Telekommunikationsdaten bekommen dürfe, um Insiderhandel aufzudecken.

Die französische NGO La Quadrature du Net, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt, kritisiert die Entscheidung. Der Staatsrat würde die Definition von nationaler Bedrohung ausweiten und auch Drogenhandel oder unangemeldete Demonstrationen darunter fassen. Sie würde somit auf lange Sicht Massenüberwachung ermöglichen und den französischen Geheimdienst von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit entbinden.

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2 Ergänzungen

  1. > Das Land befinde sich immer noch im Ausnahmezustand.

    Leider kommt das Wort „Ausnahmezustand“ nur in diesem Satz vor, ohne weitere Erläuterung. Zudem wird mit „befinde“ lediglich eine Behauptung wiedergegeben.

    Frage an den Autor: Seit wann befindet sich Frankreich im Ausnahmezustand und warum? Warum ist das relevant für Vorratsspeicherung und welche Konsequenzen hat das für digitale Kommunikation?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.