Öffentlicher Nahverkehr in BerlinDatenschutzbeauftragte kritisiert Stigmatisierung von Menschen mit geringem Einkommen

Maßnahmen in der Corona-Pandemie führen dazu, dass Arbeitslose und Bezieher:innen von Hartz4 bei Kontrollen im öffentlichen Nahverkehr bloßgestellt werden und Kontrolleuren unnötig viele Daten preisgeben müssen. Jetzt kommt Kritik von Berlins Datenschutzbeauftragter.

Fahrgäste in Berlin
Vor allen Fahrgästen offenlegen, dass man Leistungsempfänger ist: Diese stigmatisierende Praxis gibt es derzeit wegen der Pandemie in Berlin. (Bild aus Vor-Corona-Zeiten) CC-BY-NC-ND 2.0 i bi

Wer in Berlin beispielsweise Hartz4 oder Sozialhilfe bezieht, kann normalerweise den so genannten „Berlinpass“ beantragen. Er berechtigt unter anderem zum Kauf einer vergünstigten Monatskarte im öffentlichen Nahverkehr. Dieser Berlinpass hat Scheckkartenformat und kann bei einer Kontrolle unauffällig zum Monatsticket gezeigt werden.

Um die Berliner Ämter in der Pandemie zu entlasten, hatte das Land Berlin die Ausstellung von Berlinpässen beim ersten Lockdown im März 2020 pausiert. Die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk kritisiert in einer Pressemitteilung (PDF), dass Menschen mit geringem Einkommen, wenn sie Bus und Bahn vergünstigt nutzen möchten, im Falle einer Kontrolle ihren Bescheid über den Bezug von Sozialleistungen nun im Original vorzeigen müssen.

Abgelaufene Berlinpässe gelten zwar weiter als Nachweis, wer aber neu Transferleistungen vom Staat bezog – was durch die sozialen Verwerfungen der Pandemie viele Menschen betrifft – hat nun keinen Berlinpass. Diese Personen mussten dann in Bus und Bahnen gegenüber den Kontrollierenden den Bescheid über Sozialleistungen vorzeigen.

Großes Dokument mit vielen Daten

Dieser Hartz4-Musterbescheid zeigt, wieviele Daten die Betroffenen unnötigerweise vorzeigen müssen. - Alle Rechte vorbehalten Agentur für Arbeit

Im Gegensatz zum Berlinpass sind die Bescheide im DIN-A4-Format sehr groß und führen dazu, dass die anderen Fahrgäste mitbekommen, wer ein Geringverdiener oder eine Arbeitslose ist. Betroffene sprechen deswegen von einer Stigmatisierung. Darüber hinaus enthält ein solcher Bescheid eine Vielzahl von Informationen, die eine Kontrolleurin in der Bahn nichts angehen, etwa die Höhe der Transferleistungen, Bankverbindungen und Angaben über Kinder und weitere Bedarfsangehörige.

Smoltczyk mahnt an: „Die weiterhin bestehende Pflicht zur Offenlegung äußerst sensibler Sozialdaten halte ich für datenschutzrechtlich sehr bedenklich. Diese Bescheide enthalten für diesen Zweck nicht erforderliche Informationen über Adressen, Geburtsdatum sowie Grund und Höhe der bewilligten Leistungen. Im Gegensatz zum diskreten berlinpass offenbart der auffällige Bescheid auch allen Umstehenden, dass der Betroffene staatliche Leistungen enthält.“

„Besonders zweifelhaft“

Die rot-rot-grüne Berliner Senatsverwaltung hatte sich nach erster Kritik auf die Position zurückgezogen, dass der Berlinpass eine freiwillige Leistung des Landes Berlin sei und gleichzeitig gesagt, dass die Betroffenen sich doch eine reguläre Fahrkarte kaufen könnten. Auch das kritisiert die Berliner Datenschützerin. Sie halte es „für besonders zweifelhaft“, dass die Senatsverwaltung darauf verweise, dass Betroffene die Wahl hätten zwischen dem Erwerb der regulären Angebote oder der Preisgabe ihrer personenbezogenen Daten. „Datenschutz darf nicht vom Einkommen der Betroffenen abhängig sein“, so Smoltczyk.

Das Land Berlin wird ab März stufenweise wieder Berlinpässe ausstellen, eine Lücke für die Betroffenen könnte aber weiter bestehen bleiben, bis alle wieder einen Berlinpass haben.

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6 Ergänzungen

  1. Also duerfen alle Betroffenen solange nicht mehr verguenstigt fahren, bis wieder alle einen gueltigen Berlinpass haben koennen. Das ist datenschutzkompatibel und vermeidet Ungleichbehandlung.

    Kein Scherz, das ist offensichtlich die einzige Loesung, oder?

    Gibt Steilvorlagen, die muss man nicht geben.

    1. Nein, die Betroffenen dürfen weiter vergünstigt fahren, aber müssen dann Stigmatisierung und schlechten Datenschutz hinnehmen.

      1. Das war eine Folgerung der moeglichen Alternative.

        Klar waere es am besten, das Ausstellen neuer Berlinpaesse nicht einzustellen. Nur was ist denn die Alternative, wenn das gerade nicht geht? Das fehlt mir irgendwie, und die eine Verwaltung ist das genannte oft eine einfache und naheligende „Loesung“.

  2. Ich hatte vorgestern erst eine heftige Auseinandersetzung mit einer Kontrolleuse von der #ODEG deswegen. Die anderen Unternehmen im #VBB haben (bisher jedenfalls) eine eher laxe Herangehensweise, die die Würde des Fahrgastes respektiert. Die ODEG scheint da andere Saiten aufzuziehen. Es wa nicht das erste Mal, dass ich in einem von deren Zügen das Gefühl hatte, dankbar sein zu dürfen dafür, mich nicht ausziehen zu müssen. Ich empfinde es als dreist, diskriminierend und entwürdigend, wie die dort mit Fahrgästen umgehen. Du musst jedes benötigte Dokument vorlegen. Jedes. Die Dame vorgestern bestand darauf, sich meinen Bescheid genau anzusehen und dessen Laufzeit zu überprüfen.

  3. Es dürfte doch nicht so schwer sein ein entsprechenden Papiernachweis an alle Berechtigten zu versenden. Fälschungssicher ist der derzeitige Wisch ja auch nicht. Besser noch wäre es Corona als Testfeld für kostenlosen ÖPNV zu nutzen – denn derzeit fährt sowieso praktisch nur wer unbedingt muss mit dem Nahverkehr: die Menschen die sich kein anderes Fortbewegungsmittel leisten können. Auf die dadurch verlorenen Einnahmen (Auslastung sank 2020* auf 40%) kommt es dann auch nicht mehr an. Im Schnitt werden 13 Mrd. € pro Jahr** über ÖPNV eingenommen – (2020 waren es 3,5 Mrd weniger***). Für die Lufthansarettung wurden mehr als 9Mrd. ausgegeben – dafür hätte man fast ein Jahr ÖPNV kostenlos für alle anbieten können, die es nutzen müssen – unbürokratisch und als echte Erleichterung die Bürgern zugute kommt. Leider liegen die Prioritäten anders wie man unschwer an praktisch allen Corona Maßnahmen und Förderungen/Rettungen sehen kann. Die Dummen sind am Schluss immer die Geringverdiener die neben den Einschränkungen auch noch Stigmatisierungen ausgesetzt sind, da man es nicht für nötig hält zeitnah Lösungen für diese Gruppe anzubieten.

    *https://www.tagesschau.de/wirtschaft/fahrgastzahlen-2020-weniger-busse-bahnen-101.html
    **https://link.springer.com/article/10.1007/s41025-020-00207-y
    ***https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/oeffentlicher-verkehr-corona-pandemie-dem-nahverkehr-fehlen-mehr-als-3-5-milliarden-euro/26617284.html?ticket=ST-8447953-jzeris4XgMPZMgEfj7IV-ap6

  4. Sicherlich keine schöne Sache, ständig mit seinem Sozialhilfebescheid umherfahren zu müssen. Außer die Behörde stellt mehrere beglaubigte Kopien aus. Aber ist das in der Corona-Pandemie wirklich ein Problem, über den sich ein Datenschutzbeauftragter beschweren muß? Ist dies wieder die deutsche Mäkeligkeit, die uns moralisch so weit nach vorne gebracht hat? Dieses Land durchlebt die schwerste Krise seit seiner Existenzgrundüng 1954. Bewußt wurde eine völlig sinnlose, aber datenschutzkonforme Applikation an Millionen Bundesbürger verteilt. Und noch immer wissen wir deshalb in diesem Land nichts, über die Struktur und Ausbreitung des Impfgeschehen. DAS verunsichert mich ein bisschen… und auch die magere Resonanz dazu in diesem Forum. Kein Korrekturbedarf?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.