Freiheit und DigitalisierungKeine Demokratie ohne Privatheit

„Wir haben keinerlei Vorstellung davon, was alles gewusst wird“, sagt Harald Welzer über die kommerziellen Datenkonzerne. In einem Gespräch mit Datenschützer Stefan Brink redet der Soziologe und Sachbuchautor über unsere schöne neue Datenwelt, Gesichtserkennung, Beschäftigten-Datenschutz und die Veränderung der Arbeitsverhältnisse, auch unter pandemischen Bedingungen.

Frau sitzt in einem Einkaufswagen
Wer oder was ist hier die Ware? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Peter John Manlapig

In einem Interview spricht Harald Welzer über Freiheit und Mündigkeit, über Google und Co., über Home Office, Corona-Bedingungen und die Veränderungen in der Arbeitswelt und über die allzu menschliche Lücke, die zwischen Wissen und Handeln klafft. Geführt wurde das Gespräch von Stefan Brink, dem Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg, im Rahmen seiner Interviewreihe Videoserie „B.sucht Freiheit“.

Wir dokumentieren einen Teil des 70-minütigen Gesprächs unter dem Motto „Freiheit muss man wollen. Vom Follower zum mündigen Bürger“, in dem Welzer und Brink auch über die Freiheit reden, eine andere Zukunft zu denken und anzustreben.

harald welzer
Harald Welzer.

Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe, Hochschullehrer, Bestseller-Sachbuchautor und Direktor der Stiftung „Futurzwei“.


„Blütenträume“ der Linksliberalen

Stefan Brink: Sie beschäftigen sich unter verschiedenen Aspekten mit den Themen Veränderbarkeit von Gesellschaft, und natürlich geht es auch immer um das Thema Autonomie und Selbstbestimmung. Es geht um die schöne neue Welt der digitalen Freiheit, von Social Media bis zur digitalen Diktatur. Und es ist ja doch auch alles schön, lieber Herr Welzer. Es ist doch wirklich toll, die Digitalisierung, die uns einen neuen virtuellen Raum der Freiheit präsentiert, wo wir unabhängig von irgendwelchen weltlichen Problemen, unabhängig von irgendwelchen sozialen Ungerechtigkeiten oder Umweltproblematiken Zugang zu Wissen haben, wo wir unbegrenzt kommunizieren können, wo wir unsere eigenen Ideen präsentieren können, ohne „Gatekeeper“, ohne irgendjemanden, der uns aufhält. Also geradezu ein Paradies der Autonomie. Ist das unsere digitale Zeit, in der wir leben? Ist sie damit richtig eingeordnet?

Harald Welzer: Ich glaube nicht. Was Sie jetzt beschrieben haben, ist ja im Grunde genommen die linksliberale Utopie, die entstanden ist, als überhaupt das Internet entstanden ist. Wo man die Hoffnung hatte, dass damit eine Demokratisierungswelle, sowohl in der Aneignung als auch in der Benutzung von Wissen, einsetzen würde. Man hat unheimlich viele Hoffnungen damit verknüpft, eben mit dieser Revolution der Kommunikationsmöglichkeiten: eine Revolution der Teilhabe, eine Revolution eigentlich innerhalb der Demokratie, etwas, was Demokratie noch mal vitalisiert, substantiiert.

Wir wissen ja, dass alle diese Hoffnungen leider Blütenträume gewesen sind, weil die reale Entwicklung ganz anders gelaufen ist, insbesondere in der Hinsicht anders gelaufen ist, als man entdeckt hat, dass Daten eine Ware sind. Und erfreulicherweise eine Ware, die man sich aneignen kann, wo lange völlig unklar gewesen ist, und vielfach heute noch ist, wer eigentlich das Eigentum an diesen Daten hat. Und ganz neue Geschäftsmodelle deswegen entstanden sind, weil sich genau hier, sozusagen kapitalistisch betrachtet, ein neues Manchester aufgetan hat …

Stefan Brink: Sie sprechen schon direkt die Bedrohungen der individuellen Freiheit an, die mit der Digitalisierung verbunden sein können. Ich würde zunächst noch mal auf den Einzelnen schauen. An den Chancen, die sich aus der Vernetzung heraus ergeben haben, hat sich zunächst einmal gar nicht so viel geändert. Es mag sein, dass sie mit Nachteilen verbunden ist. Das Zugreifen auf allgemeines Wissen, die weltweite Verfügbarkeit, die weltweite Kommunikationsmöglichkeit, ist aber doch da. Liegt es nicht doch eher am Einzelnen selbst, ob er von diesen Möglichkeiten Gebrauch macht?

Harald Welzer: Nein. Es ist ja ganz grundsätzlich so, ganz unabhängig von der Digitalisierung, dass wir auch in den „freien Gesellschaften“ innerhalb von Infrastrukturen unterschiedlichster Art leben, auch innerhalb von Traditionen und von rechtlichen Regulierungen. Insofern ist sozusagen die libertäre Ideologie, wie sie aus dem Silicon Valley insbesondere kommt und gepflegt wird, etwas, was von all diesen Voreinstellungen absieht und so tut, als wären wir tatsächlich in jeglicher Hinsicht autonom. Wir sind aber rein von der Verfasstheit moderner Gesellschaften, insbesondere von Rechtsstaaten, schon mal gar nicht autonom, sondern geben als urteilsfähige Menschen unter bestimmten Hinsichten Teile unserer Autonomie ab. Und zwar ganz bewusst und mit Recht, weil man es beispielsweise für richtig hält, dass man lieber nicht selbst Gewalt ausübt, sondern das der entsprechenden dazu legitimierten Organisation überlässt. Insofern sind wir in diesem praktischen Sinne eigentlich nie frei, sondern wir sind auch gebunden als Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen Gesellschaft.

Umgekehrt, das ist ja die Dialektik, erlaubt uns diese Verfasstheit dann doch, freie Entscheidungen zu treffen, Handlungsspielräume zu nutzen, uns einzulassen in Debatten. Das ist das Interessante an dieser Form von Staat, der genau das ermöglicht: eine Regulierung, die der Freiheit der Einzelnen tatsächlich dient.

harald welzer und stefan brink im gespraech
Stefan Brink im Gespräch mit Harald Welzer.

Stefan Brink: In dieser Dialektik, die Sie beschreiben, ist aber der Einzelne eben dann doch im Rahmen der staatlichen Setzungen zum Beispiel durchaus in der Lage, seine Freiheit zu nutzen. Er muss es nur tun. Er muss nur den Schwung mitbringen, den Antrieb mitbringen, auch tatsächlich auf dieses Wissen zugreifen zu wollen, sich tatsächlich einmischen zu wollen. Macht er das aus Ihrer Sicht hinreichend? Sind wir für diese Freiheit mündig genug? Sind wir vorbereitet auf diese Freiheit?

Harald Welzer: Die Frage ist immer: Wer ist „wir“? Ich würde als Sozialpsychologe dieses „wir“ nicht zu hundert Prozent für gegeben halten. Das heißt, und das meine ich gar nicht despektierlich, Menschen haben viel zu tun. Sie sind immer mit Alltagsdingen beschäftigt. Oder sie sind sehr beansprucht durch ihre Tätigkeit und die Familie und Alltagsprobleme. Insofern ist das eine Fehlannahme von Leuten aus dem akademischen Bereich […]: als würden Leute permanent auf der Suche nach wichtigen Informationen sein, permanent Wissen akkumulieren und dann auch noch nach diesem Wissen handeln. Das ist ja Quatsch.

Die meisten Leute interessieren sich für das, was in ihrem unmittelbaren Leben von Bedeutung ist. Viele interessieren sich für bestimmte Aspekte dessen, was über dieses Unmittelbare hinausgeht. Aber man kann überhaupt nicht unterstellen, dass generell das, was man aus der eigenen professionellen Perspektive für wichtig hält, dass eine Mehrheit anderer Menschen das für wichtig hält.

Das ist ein ganz großer Irrtum, der übrigens auch praktisch zu dem Irrtum führt […], dass immer der Satz fällt: „Die Leute wissen doch alles. Warum handeln sie denn nicht?“ Ich werde immer ganz blöde angeguckt, wenn ich dann sage: „Naja, Wissen und Handeln sind, wenn es hoch kommt, sehr locker miteinander verknüpft. Aber meistens überhaupt nicht.“ Und dann staunt man sehr, weil man ja die ganze Zeit mit Wissensproduktion beschäftigt ist und dann ganz enttäuscht ist, wenn die Abnehmer damit gar nichts machen oder etwas tun, was man auch gar nicht erwartet hat.

Stefan Brink: Warum brauchen wir überhaupt diese Privatheit? Was ist das Schutzbedürftige an dem Privatsein aus Ihrer Sicht? Ist das überhaupt eine Kategorie, mit der man in einem digitalen Zeitalter noch arbeiten kann? Es ist doch sowieso alles offen und transparent und jeder weiß alles von jedem. Hat die Privatheit als Kategorie ausgedient? Ist das noch etwas Schützenswertes?

Harald Welzer: Sie hätte dann ausgedient, wenn wir sagen, die Demokratie hat ausgedient. Wenn wir sagen, die Demokratie hat nicht ausgedient, sondern sie ist eigentlich die Form von Staatlichkeit, die wir verteidigen wollen, dann müssen wir Privatheit verteidigen. Und zwar deswegen, weil mit dem Entstehen moderner Demokratien überhaupt Privatheit im heutigen Sinne entsteht. Also eine Trennung zwischen einer Sphäre der Öffentlichkeit, wo man als Bürgerinnen und Bürger auftritt und Interessen vertritt, politische Parteien organisiert, was auch immer man da tut. Das ist sozusagen die öffentliche Sphäre.

Das kann man aber ernsthaft nur dann tun, wenn nicht alles öffentlich ist, was man im Schilde führt oder im Sinn hat oder sich gerade ausdenkt oder in Bündnissen verabredet. […] In dem Augenblick, wo wir keine Privatheit mehr haben, leben wir nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einem totalitären System. Das war ja die Idee, die ich bei der „Smarten Diktatur“ hatte, ob sich gewissermaßen eine Form von Staatlichkeit von innen her aushöhlen kann, wenn solche Entwicklungen ungesteuert passieren, wie wir es bei der digitalen Transformation sehen. […] Was passiert bei so einer ungesteuerten Transformation? Die Verhältnisse verändern sich. Und zwar nicht nur die Verhältnisse, sagen wir mal, zwischen Kunden und Anbietern, sondern auch die Verhältnisse der Menschen zueinander, bis hin zu den Selbstverhältnissen, die sich ja durch digitale Technologie radikal verändert haben.

Stichwort wäre: permanente Selbstkontrolle, Apple-Uhren … Ich war neulich bei einer anderen Veranstaltung, da sagte ein Moderator, seine Apple Watch würde ihm morgens sagen, wie gut er geschlafen hat. Und ihm dann auch noch mitteilen, ob er besser geschlafen hat als 94 Prozent aller anderen. Ich meine …

Stefan Brink: Da geht man mit einem guten Gefühl in den Tag!

Harald Welzer: … ja, da geht man mit einem guten Gefühl. Aber wenn er gesagt bekommt, er hat leider schlechter geschlafen als 94 Prozent der anderen, ist es ein schlechtes Gefühl. Da stecken Dinge drin, die Selbstverhältnisse verändern, also das Subjekt selbst verändern. […] Was ich einfach merkwürdig finde, ist, dass alles dieses sozusagen unbemerkt implementiert wird. Das geschieht so. Und die Leute haben auch das Gefühl, das geschieht so: „Ja, das ist jetzt so.“

Begrenzung von Privatheit durch Staat und große Datenverarbeiter

Stefan Brink: Sie sagten, dass die Bewahrung der Privatheit eine der Grundvoraussetzung für den Fortbestand der Demokratie ist und dass der Staat in einer merkwürdig paradoxen Rolle ist, jedenfalls in dem Moment, […] indem er selbst immer stärker Privatheit einschränkt, indem er zum Überwacher wird zum Beispiel. Das ist ja auch für uns Datenschützer der Ausgangspunkt unserer Entwicklung, die seit den Siebzigerjahren ganz stark durch das Bundesverfassungsgericht – 1983, Volkszählungsurteil – gepusht wurde, als gesagt wurde: Wir brauchen eine Institution, die den staatlichen Eingriff in die Privatheit in irgendeiner Form einhegt, zumindest anschlägt, wenn das passiert.

Und so verstehen wir ja auch viele Bedrohungsszenarien des Einzelnen in seiner Privatheit, dass der Staat irgendwie übergriffig wird über Vorratsdatenspeicherung, über Videoüberwachung, über geheimdienstliche Tätigkeit. Jetzt haben wir aber deutlich gesehen, dass die privaten, auch die großen Datenverarbeiter eine eigentlich viel wesentlichere Rolle spielen für die Begrenzung von Privatheit. Also die Unternehmen, die uns mit den Segnungen von Social Media versehen oder uns eben ins Netz und in die Kommunikation hinein helfen und uns dabei überwachen. Wo würden Sie heute den Schwerpunkt setzen, wenn es um den Schutz von Privatheit geht? Lässt sich das schwerpunktmäßig zuordnen? Sind es tatsächlich die großen Datenverarbeiter Google, Microsoft, Amazon, die unsere Privatheit bedrohen? Oder ist es immer noch der Staat, der das in erster Linie tut?

Harald Welzer: Ich glaube, die Frage kann man gar nicht gut beantworten. Es sind beide auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Interessen. Also der geniale „Move“, neudeutsch gesagt, von Google war ja, zu verstehen, dass wenn Menschen ihr Angebot nutzen, sie etwas liefern. Das war ja vorher etwas Harmloses, ein Suchalgorithmus, den man zur Verfügung gestellt hat, und dann konnte man Informationen abrufen. Und dann hat man gedacht: „Das ist super. Damit kann man Geld verdienen, weil Leute dort Inserate schalten.“ Also eine klassische Werbevorstellung wie in einem Magazin, wo es Anzeigen-Seiten gibt.

Und dann […] gab es diese geniale Idee: „Moment, unser Geschäftsmodell ist eigentlich etwas ganz anderes. Alle, die uns aufsuchen, liefern Dinge, die gehen weit über das hinaus, was wir ihnen anbieten können.“ Das ist genial! Und furchtbar, weil das im Grunde genommen das Tor aufgemacht hat, dass die Menschen, die irgendetwas verwenden im Netz, was dann immer „kostenloses Angebot“ heißt und selbstverständlich auch in Anspruch genommen wird, ja selbst mit sich bezahlen, dem, was ihnen zu eigen ist. Insofern müsste man nicht sagen, in einer konsequenten Forderung: Es darf eben gar kein Datum als Ware geben, als handelbares Gut. Sondern: „Das gehört mir. Punkt. Ende. Aus.“

Dann kommt der BND und sagt: „So geht es aber nicht! Dann können wir unseren Sicherheitsansprüchen nicht Genüge leisten. Wir möchten gerne auch profitieren.“ […] Das wissen wir schon immer, Sicherheitsbehörden haben gewissermaßen eine immanente Tendenz zur Entgrenzung, weil man ja nie genug über Menschen wissen kann. Deshalb gibt es jetzt zum Beispiel auch diese Geschichte mit „Pegasus“, die ja ein absoluter Skandal ist. Vor sehr kurzer Zeit haben wir erfahren, dass es das gibt und dass Politiker ausgeforscht werden. Und dann erfährt man drei Wochen später: „Wir haben es auch gerade jetzt bestellt“ für die deutschen Sicherheitsbehörden, anstatt das in irgendeiner Weise ein Innenminister oder wer immer zuständig sein würde zu seiner Angelegenheit macht und sagt: „Das geht einfach nicht, sowas zu machen.“ Insofern haben wir von beiden Seiten her, von der privatwirtschaftlichen wie von Seiten des Staates eine immer weiter ausgreifende Tendenz, in unser Leben zu intervenieren und auszuforschen und zu überwachen.

Das ist ungut. Das ist sowohl von den Persönlichkeitsrechten her ungut als auch von der Verfasstheit eines demokratischen Rechtsstaats. […]

Stefan Brink: Es ist ein zentraler Satz in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung, dass informationelle Selbstbestimmung, also unsere Freiheit zum Datenschutz, bedeutet, dass jeder wissen können muss, was andere bei einer bestimmten Gelegenheit über ihn selbst wissen. Um sich richtig positionieren zu können, um sich auch …

Harald Welzer: Genau! Und das ist ja lange eine Illusion. Wir haben ja keinerlei Vorstellung davon, was alles gewusst wird.

[…]

Wie verändern sich die Arbeitsverhältnisse?

Stefan Brink: Es gibt einen Bereich, wo wir das Argument: „Ich habe eigentlich nichts zu verbergen und es ist mir egal, ob meine Daten von irgendjemandem ausgewertet oder wirtschaftlich verwertet werden“ nie hören. Das ist im Bereich des Beschäftigten-Datenschutzes. Also wenn Menschen am Arbeitsplatz den Eindruck gewinnen: „Ich glaube, mein Chef liest meine Mails“ und: „Meine Chefin verfolgt meinen Dienstwagen nach und guckt genau, wo ich hinfahre. Das ist mir nicht recht. Das mag ich nicht.“ Da hat jeder sofort ein Gefühl, ein Gespür dafür, dass da doch auch der ganze Antrieb, die ganze Freude auch zu arbeiten, sich zu betätigen sehr stark leidet, wenn man in so eine Überwachungssituation reinkommt in einem konkreten Kontext.

Das spielt für uns als Aufsichtsbehörde nicht nur deswegen eine große Rolle, weil wir viele Beschwerden von Beschäftigten bekommen. Und übrigens auch immer mehr Beschwerden in den letzten Jahren bekommen. Das hängt jetzt gar nicht mit der Corona-Entwicklung zusammen, sondern eher mit einer gewissen Amerikanisierung von Beschäftigungsverhältnissen, dass US-amerikanische Konzerne hier Tochtergesellschaften haben, die sozusagen das Arbeitsrecht so betreiben, wie die Mutter das schon immer gemacht hat. Und dann kommen eben auf einmal Überwachungsszenarien in auch deutsche Betriebe rein, die wir uns vor wenigen Jahren noch gar nicht hätten vorstellen können. Dort, in den Bereichen, sind Menschen sehr sensibel und packen sofort zu. Das hat für uns als Aufsichtsbehörden den Vorteil, dass wir 1A-Beweise geliefert bekommen aus den Unternehmen heraus. Die Beschäftigten schicken uns schon gleich die Dokumentation zu, wie in ihrem Betrieb mit den Daten umgegangen wird, und dann brauchen wir gar nicht mehr viel zu fragen, sondern wissen schon, woran wir sind.

Genau das ist aber auch der Bereich, der Arbeitsbereich, wo die Digitalisierung mit am stärksten um sich greift und vorangeht und die Lebensverhältnisse ändert. Sie haben es gerade untersucht am Beispiel der Frage: Wie verändern sich die Arbeitsverhältnisse in der Corona-Pandemie? Was bedeutet das für die Digitalisierung? Und wo sind da eigentlich die Vor- und Nachteile? Zu welchen Ergebnissen sind Sie da gekommen?

Harald Welzer: Vielleicht noch einen Satz zurück, zu dem, was Sie gerade beschrieben haben. Der Grund, dass es diese Sensibilität auf Seiten der Arbeitnehmer gibt, ist, dass hier das Machtverhältnis klarer ist. Es ist ja vollkommen klar, dass ich als Arbeitnehmer Schwierigkeiten habe, meine Interessen zu schützen, weil ich abhängig bin von der Person, die mich beschäftigt, oder von dem Unternehmen. Das heißt: ein eindeutig definiertes Machtverhältnis.

Diese Definition des Machtverhältnisses ist den Benutzern oder Besuchern von irgendwelchen Plattformen nicht klar. Da ist das ein diffuser Raum: „Was soll Google mir schon tun?“, oder sowas in der Art. Aber deshalb ist die Sensibilität in diesem Arbeitsfeld größer als im Normalbereich. Und deshalb ist die Sensibilität gegenüber staatlicher Überwachung manchmal auch noch größer. Also wenn es um Gesichtserkennung geht, denken die Leute schon: „Das geht ja vielleicht doch ein bisschen weit.“

Wenn die Machtverhältnisse transparent sind, dann hat man ein Bedürfnis, sich zu wehren. Wenn die Machtverhältnisse intransparent sind, sagen die Leute: „Naja, was habe ich schon zu verbergen. Was können die mir denn tun?“ […]

Zu der kleinen Studie, die wir gemacht haben: Das ist eigentlich spannend gewesen. Wir sind in Unternehmen und Organisationen und Schulen gegangen, um mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf unterschiedlichen Ebenen darüber zu sprechen, wie sich jetzt die Arbeit verändert hat. Ursprünglich war die Idee: Wir wollen das eigentlich untersuchen, was wir „digitale Transformer“ nennen, also bestimmte Programme, Verwaltungsprogramme oder ähnliche Dinge, wie sie die Arbeitsbedingungen verändern. Dann kam Corona, und in diesem Viertel bis ein Drittel, die dann im Home Office online arbeiten, konnten wir sehen: Wie verändert sich eigentlich die Arbeit? Das haben wir in diesen Gesprächen sehr plastisch geschildert bekommen.

Eigentlich ist das Interessanteste dabei, dass es genau zwei Ebenen gibt, nämlich eine, die als sehr positiv empfunden wird: Verfügung, also dadurch, dass man nicht mehr pendeln muss, dass man Wege spart, dass man Meetings, Arbeitsbesprechungen hin bis zu Planungsbesprechungen in Architekturbüros oder Ingenieurbüros unheimlich abkürzen kann, weil alles Extrafunktionale nicht mehr da ist, sondern es sich rein auf die Funktionalität konzentriert. Nach so einer Anfangsphase, wo man sich gewissermaßen gewöhnen musste und noch fremdelt mit … Es hat sich bei allen wirklich als unglaublich positiv, als positives Erleben niedergeschlagen. Das ist eine irre Geschichte. Also auch Zeitungsredaktionen, die voller Individualisten und egozentrischer Menschen sind, die nie gedacht hätten, dass man diese komplexen Abläufe mit Menschen, die sich selber für sehr wichtig halten, digitalisieren kann. Dass man das in den virtuellen Raum verlagern kann. Und dass die Unterschiede zwischen Online und Print beispielsweise verschwunden sind. […]

Was umgekehrt als sehr negativ empfunden wird, ist exakt das Wegfallen aller dieser extrafunktionalen Sachen. Das heißt, die Scherze, das Gespräch in der Teeküche, das Interpretieren von Gesichtsausdrücken, der Scherz nebenbei, die Ironie und all sowas. Und soziologisch würde man ja sagen: „Gut, das ist ziemlich interessant“, aber da das Ganze ein Rationalisierungsschub ist durch die Betonung dieses Funktionalen, sich die Produktivität dadurch erhöht und sich die Kosten verringern, wird es nie wieder weggehen. […]

Stefan Brink: Ein negativer Aspekt, den Sie jetzt nicht eigens erwähnt haben, ist natürlich, dass durch diese neuen Arbeitsformen auch die Überwachungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz gleichzeitig wesentlich ausgeweitet sind gegenüber dem, was wir vorher in der analogen Arbeitswelt hatten. Das ist auch natürlich selbst bei uns Datenschützern hier in unserer Behörde immer ein Aspekt, den wir mitbedenken, aber wir kriegen eben auch in den Bereichen sehr viele Beschwerden von Beschäftigten, die sich zum Beispiel über bestimmte Programme, die eingesetzt werden, beschweren. Die erkennen, was alles an Leistungs- und Verhaltenskontrollen möglich geworden ist, bis hin zu wirklich extrem cleveren, aber leider eben auch extrem rechtswidrigen Auswertungen, die da vorgenommen werden. […] Da ist natürlich die Frage: Wie schnell lernen wir, auch von Arbeitgeberseite her, zu respektieren, dass es auch in der digitalen Arbeitswelt Privatsphäre geben muss und Bereiche geben muss, in die ich als Arbeitgeber zwar reinschauen könnte, weil es mir technisch möglich ist, aber was ich tatsächlich nicht tue? Wie schnell sind diese Lernprozesse, die sich da entwickeln? Was glauben Sie?

Harald Welzer: Bei den Lernprozessen ist die Frage: Wer lernt? […] Gefragt ist hier ja eigentlich auch nicht die Bürgerin oder der Bürger, sondern die Politik und der Gesetzgeber. Wir haben ja ein unglaubliches Nachhinken auf der Ebene der Politik, was wir jetzt zum Beispiel im Wahlkampf auch sehen können. Da kommt ja das Thema Digitalisierung nur insofern vor, sozusagen mit dem alten Dauer-Hit „Ausbau der Breitband-Netze“ und: „Wir brauchen jetzt den digitalen Turbo.“

Aber die Dimension, über die wir jetzt gerade sprechen, die eigentlich auch notwendig ist zu verstehen, damit wir die digitale Transformation tatsächlich sinnvoll für unsere Gesellschaft, für Beschäftigte, für das Gesundheitssystem einsetzen können, da muss man ja genau solche Dinge ansprechen. Weil es eine unheimlich wichtige Gestaltungsaufgabe in jeder Hinsicht ist. Natürlich ist diese digitale Transformation einfach eine Tatsache. […] Wie es bei jeder Fragestellung innerhalb eines demokratischen Rechtsstaates ist: Wie gestalte ich das, was in diese Gesellschaft hineinkommt? Und das vermisst man ja wirklich sehr stark, dass da ein reflektierter Zugang oder auch nur eine Debatte stattfindet, die angemessen ist.

stefan brink im gespraech
Der baden-württembergische Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Stefan Brink im Gespräch mit Harald Welzer.

Privatheit als Snobismus

Stefan Brink: Wir kommen in die letzte Kurve und überlegen uns nochmal, wie man tatsächlich Digitalisierung anders denken könnte. […] Wir haben uns alle selbst gelobt, indem wir gesagt haben: „Wir in Deutschland und Europa, wir können mit der Thematik Freiheit über die eigenen Daten, informationelle Selbstbestimmung ganz gut umgehen. Wir haben da eine Tradition. Wir wissen, worauf wir da bauen können.“ Trotzdem glaube ich zu erkennen, dass es gerade in letzter Zeit, auch gerade unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie, eine gewisse Entwicklung gibt, dass Privatheit, auch das „Privat-sein-wollen“, die Verteidigung der Privatheit eher als asozial empfunden oder gebrandmarkt wird.

Nehmen wir mal die Situation, wo der Beschäftigte seinen Impfstatus dem Arbeitgeber nicht nennen will. Das wird geradezu als fast schon krimineller Anschlag auf die Gesundheit im Betrieb gedeutet, obwohl es, jedenfalls für uns Datenschützer, ganz klar ist, das ist ein hochsensibles persönliches Datum. Das muss keiner von sich geben. Und ob er sich impfen lässt oder nicht ist eine Privatsache. Wie seine Gesundheit insgesamt seine private Angelegenheit ist.

Oder nehmen Sie mal die Forschungsbereiche, wo uns gesagt wird: „Es steckt ein riesiges Potential in der Auswertung von persönlichen Informationen.“ Gerade übrigens auch im Gesundheitsbereich, wo es eine ganz große Rolle spielt, dass die Forschungsverbände, die meistens auch international unterwegs sind, eben diese ganzen Datenschätze heben können. Und dann wird im Einzelnen gesagt: „Ja, wenn Du jetzt Deine persönlichen Informationen zu den Krankheitsverläufen oder zu der Wirksamkeit von Medikamenten nicht mit allen teilst, dann bist du eigentlich ein asoziales Subjekt.“ Ist das eine Entwicklung, die Corona-bedingt ist? Oder gibt es Anzeichen dafür, dass Privatheit eher als Snobismus oder als Ausgrenzung von der Gesellschaft, von der Gemeinschaft, begriffen wird? Gibt es Anzeichen dafür, dass sich das schon länger vorbereitet hat und auch vielleicht durchsetzt?

Harald Welzer: Es kann sich immer nur durchsetzen, was schon vorbereitet ist. Also nichts kommt da wie Kai aus der Kiste. Und man hat ja gesehen, Sie haben die Pandemie angesprochen, dass natürlich solche Dinge unter einem ganz neuen Druck stehen. Aus der Perspektive der behaupteten Vernünftigkeit wird dann gesagt: „Naja, aber da kommen jetzt wieder diese Datenschützer und stehen da einer vernünftigen App völlig im Wege“, und so weiter. Und plötzlich gilt es dann sozusagen als „Spielverderberei“ oder als gesellschaftsschädigend.

Und der Konflikt ist ja gewissermaßen sehr deutlich zu machen, also an der Stelle „Impfstatus am Arbeitsplatz“. Ich würde aus einer Perspektive des Bürgers sagen: „Schwierige Angelegenheit.“ Wobei man natürlich das Infektionsschutzgesetz heranziehen müsste und gucken muss: Was ist denn eigentlich gerechtfertigt unter solchen pandemischen Bedingungen und muss man da jetzt eine Ausnahme machen? Und ich bin eigentlich dafür, ehrlich gesagt. Aber genau dort ist man ja an der Stelle, an der Sie wahrscheinlich immer kämpfen: Wo entstehen sozusagen pragmatische und funktionelle Forderungen und möglicherweise Notwendigkeiten, die eigentlich den Kern dessen, was Sie tun müssen, permanent aufweichen?

Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, wie sich moderne Gesellschaften entwickeln. Das läuft immer in diesen Wechselverhältnissen. Und der Kern einer freiheitlichen Ordnung besteht, glaube ich, darin, dass bestimmte Grundsachverhalte, Grundbestände, niemals angetastet werden dürfen. Und alles andere laboriert gewissermaßen oberhalb dieser Ebene. Deshalb haben wir auch das Grundgesetz und die Artikel, die nicht verändert werden dürfen. Das ist ja eine intelligente Angelegenheit, die uns bislang sehr geholfen hat.

Bloß, ich muss noch mal darauf zurückkommen: Da wir eigentlich keine aufgeklärte Debatte über die digitale Transformation haben, ist dann immer auch Tür und Tor offen, dass irgendwelche Politiker sagen können, um Punkte zu machen: „Ja, jetzt kommt mir nicht wieder mit diesem blöden Datenschutz. Wir haben hier andere Notwendigkeiten.“ Und wenn es eine aufgeklärte Debatte darüber gäbe, dann hätte man ja einen anderen öffentlichen Raum der Bewertung dessen, worum es da geht. Und dieses Defizit ist ja das, was uns umtreibt.

Digitalisierung ins Positive wenden

Stefan Brink: Ich kann Sie nicht entlassen, ohne dass wir noch mal einen positiven Blick auf eine erfolgreiche, positiv gedachte Digitalisierung werfen. Sie sagten, die Bundesrepublik ist ein sehr erfolgreiches System. Wir haben sie kritisiert, wir haben die Probleme, die Nachteile für Individuen am Arbeitsplatz, auch gesamtgesellschaftlich, uns angeschaut. Wie sehen denn jetzt aber die positiven Utopien in dem Bereich aus? […] Wo ist denn der Dreh, die Digitalisierung ins Positive zu wenden? Welche Szenarien, welche Narrative entwickelt denn „Futurzwei“ zu dem Thema?

Harald Welzer: Ich kann jetzt einladen, das Positionspapier für eine nachhaltige Digitalisierung bei uns einfach runterzuladen. Das ist ganz problemlos. Unter unterschiedlichen Bereichen versuchen wir, sozusagen „konstruktiven Zugang“ zu machen. Um das mal einfach an Beispielen darzustellen: Digitale Technologie ist ja einfach nur ein Werkzeug. Und der Effekt eines Werkzeuges entscheidet sich nach dem Gebrauch. Und den Gebrauch müssen wir als freie Gesellschaft definieren. Und dann kann ich zum Beispiel gucken: Technologisch, von der grundsätzlichen Konstruktion, unterscheidet sich ja ein Algorithmus zur Tumorerkennung nicht von einem Algorithmus zur Gesichtserkennung. Und dann haben wir als Gesellschaft doch die Option zu sagen: „Im Gesundheitsbereich können wir uns Anwendungen vorstellen, die helfen uns ungemein. Die helfen Patienten ungemein. Die helfen aber auch bei der Organisation und Kosteneinsparung in einem Krankenhaus ungemein.“ Das, würden wir sagen, das ist gut. Das können wir gebrauchen.

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Harald Welzers neues Buch: Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens.

Gesichtserkennung hilft uns als Demokratie überhaupt mal gar nichts. Das ist vollkommener Unfug und trägt eher zu dem ganzen Thema der Übergriffigkeit von Machtinteressen bei, trägt übrigens zur Sicherheit auch überhaupt nichts bei. Gerd Gigerenzer hat da gerade ein neues Buch geschrieben: „Klick“. Und Gigerenzer ist ja ein Kollege, der sich sehr stark mit Sicherheit und Risiko beschäftigt. Er arbeitet das wunderbar raus, was die Fiktionen der Erhöhung von Sicherheit durch solche Technologien sind. Also müssen wir gesellschaftspolitisch fragen: „Wofür brauchen wir denn das?“

Oder nehmen wir die Organisierung von Verkehr. Da werden gewissermaßen von den Elon Musks dieser Welt die autonom fahrenden Autos als Verheißung, als Glücksversprechen, an die Wand gemalt. Und da würde man sagen: „Das löst kein einziges unserer Probleme, die wir haben in ökologischer und mobilitätspolitischer Hinsicht.“ Wenn wir aber Digitalisierung anschauen, wie es das jetzt in Projekten von vielen Stadtwerken und kommunalen Anbietern gibt, und man guckt: Wie können wir das denn verwenden für Rufbusse beispielsweise? Und wie können wir Verkehrssysteme organisieren, die öffentlich sind, aber ressourcensparend und gleichzeitig Erhöhung von Komfort für Bürgerinnen und Bürger sind? Und so kann man diese Felder ja durchmustern. Und dann kommt man zu sehr positivem Werkzeuggebrauch. Um mehr geht es ja letztlich nicht. […]

Stefan Brink: Lieber Herr Professor Welzer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!


Harald Welzers neues Buch Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens ist beim Verlag S. Fischer erschienen.

Das Interview ist gekürzt. Eine vollständige Version als Transkript gibt es auf baden-wuerttemberg.datenschutz.de (pdf).

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2 Ergänzungen

  1. Um es den Leute ein wenig klarer zu machen, was an Daten alles gelesen wird, muss man sich nur mal vorstellen es gäbe keine Hauswand (jeder kann rein gucke) und das gleiche beim Bankkonto.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.