Facebook-LeaksWhistleblowerin erhebt schwere Vorwürfe gegen Facebook

Seit einigen Wochen kursieren aufsehenerregende Leaks interner Forschungsteams bei Facebook. Sie zeigen, dass das soziale Netz zu wenig gegen schädliche Inhalte unternimmt. Nun geht die Whistleblowerin direkt an die Öffentlichkeit. Facebook täusche gezielt die Öffentlichkeit, sagt die Ex-Mitarbeiterin.

Die Whistleblowerin Frances Haugen im Gespräch mit der TV-Sendung 60 Minutes. – Alle Rechte vorbehalten CBS / 60 Minutes (Screenshot)

Eine Whistleblowerin macht ihrem ehemaligen Arbeitgeber Facebook schwere Vorwürfe. Das Unternehmen verschleiere das Potenzial des sozialen Netzwerks, Schaden anzurichten, und sei zudem nicht bereit, die intern bekannten Mängel zu beheben. Mit ihren Enthüllungen wolle sie Facebook zu einer Kursänderung zwingen, sagte sie dem Wall Street Journal.

Die Zeitung veröffentlichte in den vergangenen Wochen eine Reihe brisanter interner Dokumente, Quelle war die nun an die Öffentlichkeit getretene Frances Haugen. Als Produktmanagerin hatte sie zwei Jahre lang versucht, Wahlmanipulation auf dem Online-Dienst einzudämmen.

Allerdings habe ihr Team zu wenige Ressourcen zur Verfügung gehabt, um ernsthaft etwas auszurichten, im Mai habe sie deshalb gekündigt. Facebook sei viel mehr an Wachstum und „user engagement“ interessiert, als die Erkenntnisse eigener Forschungsteams bei der Produktentwicklung zu berücksichtigen, sagte Haugen.

Enthüllung nach Enthüllung

Zu diesen Erkenntnissen zählt etwa das Wissen, dass eine Änderung des News-Feed-Algorithmus die Stimmung auf dem sozialen Netzwerk hitziger statt friedlicher gemacht hat, dass dort Menschen- und Organhandel floriert und dass Facebook-eigene Mechanismen zur Impfskepsis beigetragen haben.

Wellen schlug auch die Veröffentlichung eines internen Berichts über den Foto- und Videodienst Instagram. Demnach trage dieser bei vielen Teenagern und insbesondere Mädchen dazu bei, Probleme mit dem eigenen Körperbild zu entwickeln, und schade ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit. Die Enthüllung hat vermutlich dazu beigetragen, dass Facebook kürzlich den geplanten Start von Instagram Kids vorerst abgeblasen hat.

Grundsätzlich halten polarisierende Inhalte Nutzer:innen auf dem Dienst und sind ein Herzstück des Geschäftsmodells von Facebook. Das Unternehmen weist die Vorwürfe der Whistleblowerin zurück. In einer ausführlichen Stellungnahme weist es etwa darauf hin, in der Vergangenheit „signifikante Verbesserungen“ bei der Eindämmung von Desinformation und schädlichen Inhalten erreicht zu haben.

Bewusste Täuschung der Öffentlichkeit

Schon vor Jahren hatte Facebook eingestanden, beim Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya in Myanmar eine Rolle gespielt zu haben. Versuche, ähnliche Gewaltexzesse zu verhindern, blieben jedoch oft halbherzig, kritisiert die Whistleblowerin Haugen. So sei nach der US-Wahl 2020 das „Civic Integrity“-Team vorzeitig aufgelöst worden – nur wenige Monate später stürmten Fans des Ex-Präsidenten Donald Trump gewaltsam das Kapitol, um die Auszählung der Wahl zu verhindern.

Obwohl Facebook nach außen immer wieder betont, auf seinem Dienst umfassend aufzuräumen, zeigen interne Studien indes ein anderes Bild. Man gehe bloß gegen drei bis fünf Prozent an Hassrede vor und nur gegen sechs Zehntel eines Prozentpunktes an Gewalt und Aufhetzung, zitiert Haugen im Gespräch mit der TV-Sendung 60 Minutes aus einer der Studien.

Damit täusche Facebook nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch seine Anleger, sagt Haugen. Am morgigen Dienstag wird sie an einer Anhörung im US-Kongress teilnehmen. Zudem hat sie Beschwerde bei der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission) eingelegt. Damit greifen laut Haugen bestimmte Schutzvorkehrungen für Whistleblower:innen. Für Facebook, an der Börse derzeit mit rund einer Billion US-Dollar bewertet, könnte es schmerzhaft werden.

EU-Abgeordnete fordern stärkeren Digital Services Act

Derweil schwappt die Empörung auch auf Europa über. „Die Facebook Files – und die Enthüllungen, die die Whistleblowerin uns präsentiert hat – unterstreichen, wie wichtig es ist, dass wir die großen Tech-Unternehmen nicht sich selbst überlassen“, sagt die EU-Abgeordnete Christel Schaldemose in einer Pressemitteilung. Die Sozialdemokratin ist als Berichterstatterin des EU-Parlaments maßgeblich an den Verhandlungen zum geplanten Digital Services Act (DSA, auf Deutsch „Gesetz für digitale Dienste“) beteiligt.

„Die Regulierung unserer gemeinsamen Räume in sozialen Medien muss durch demokratisch kontrollierte Institutionen erfolgen, so wie wir es auch in den nicht-digitalen Bereichen unserer Gesellschaft tun“, fordert Schaldemose. Erklärtes Ziel des DSA ist es, die Macht der großen Anbieter wie Facebook einzuhegen und sie unter anderem zu mehr Transparenz zu zwingen. Diesen Winter sollen die Verhandlungen zwischen EU-Parlament, EU-Ländern und Kommission über den fertigen Text des Gesetzes beginnen.

Alexandra Geese, die für die Grünen am Verhandlungstisch sitzt, fordert angesichts der Enhüllungen einen stärkeren DSA. Bislang hätten weder die Öffentlichkeit noch Gesetzgeber weltweit einen solchen Einblick in die viel zu mächtig gewordenen Mechanismen gewinnen können, sagt die Abgeordnete. Es wäre naiv, an die Selbstregulierung und Verantwortung der Unternehmen zu appellieren, so Geese: „Wir müssen das gesamte System und das Geschäftsmodell der Tech-Giganten regulieren, das die schnelle Verbreitung von Desinformation und Gewalt ermöglicht.“

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2 Ergänzungen

  1. Weiß jemand, ob man die komplette 60-Minutes-Folge am Sonntag irgendwo herunterladen kann? (wird wohl Sonntag ausgestrahlt und gestreamt)

    Weiteres Interview mit Frau Haugen:
    https://open.spotify.com/episode/4Z2pUd6aAx10b0e9KOde4k

    Am Donnerstag 24Uhr/Freitag 0 Uhr deutscher Zeit wird es ein hochbesetztes Kritikerpanel mit Frau Haugen, Tristan Harris und Shoshana Zuboff geben. Eintritt über Eventbrite / Zoom kostenlos:
    https://law.yale.edu/isp/events/facebook-files

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.