DokumentationReden vom Fritz-Bauer-Preis 2021

Das Redaktionsteam von netzpolitik.org wurde mit dem Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Reden von der Preisverleihung, die am 11. September 2021 stattfand.

Preisverleihung des Fritz-Bauer-Preises 2021. – Alle Rechte vorbehalten Carola Otte, Humanistische Union

Der Fritz-Bauer-Preis ist die höchste Auszeichnung der Humanistischen Union. Mit dem Preis würdigt die Bürgerrechtsorganisation herausragende Verdienste im Streit für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft. Netzpolitik.org habe mit Haltung und Mut den netzpolitischen Diskurs Deutschlands wesentlich mitgeprägt, heißt es in der Begründung der Humanistischen Union für die Vergabe an uns. 

An dieser Stelle dokumentieren wir die Laudatio und die Dankesrede von der Preisverleihung. 

Laudatio zur Fritz-Bauer-Preis Verleihung an das Redaktionsteam von netzpolitik.org von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Sehr geehrter Herr Koep-Kerstin,
sehr geehrte Mitglieder der Humanistischen Union,
sehr geehrter Herr Beckedahl,
sehr geehrtes Redaktionsteam von netzpolitik.org,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, die Laudatio bei diesem wichtigen Ereignis halten zu dürfen. Ja, es ist wichtig, denn die älteste Bürgerrechtsorganisation Deutschlands, die Humanistische Union, verleiht ihren Fritz-Bauer-Preis für herausragende Verdienste um die Humanisierung, Liberalisierung und Demokratisierung des Rechtswesens an das Redaktionsteam der Bürgerrechtsplattform netzpolitik.org.

Es ist wichtig, in Zeiten von Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsgefährdungen die zu unterstützen, die es sich zur Aufgabe, man kann sagen zur Lebensaufgabe, gemacht haben, aufzuklären: über Eingriffe in Freiheitsrechte, über die Wirkungsweisen digitaler Überwachung und Kontrolle. Die Entwicklungen permanent analysieren und auf Risiken und Defizite, Gefahren und Handlungsoptionen der betroffenen Bürger dagegen aufmerksam machen. Netzpolitik.org ist zu einem unverzichtbaren Akteur im netzpolitischen Diskurs geworden.

Bei netzpolitik,org weiß man einfach, dass sie Fakten aufzeigen und nicht Fakes produzieren – im Gegenteil sie entlarven. Sie manipulieren nicht und desinformieren nicht, sie wollen einfach dem Bürger die Informationen zu einem mündigen, selbstbestimmten Verhalten geben. Und sie rütteln mit ihren Enthüllungen auf, schaffen Awareness und Bewusstsein für die Bedeutung des humanen, liberalen und demokratischen Rechtswesens.

Nicht auf den ersten Blick wird die Verbindung zwischen Fritz Bauer und netzpolitik.org sichtbar.

Da ist auf der einen Seite Fritz Bauer, der exzellente Jurist und Generalstaatsanwalt in Frankfurt. Fritz Bauer, der sich nie in seiner Überzeugung beirren ließ, dass die unvorstellbaren Verbrechen der Nazis gegen die Menschlichkeit auch eine juristische Aufarbeitung brauchen; und das Anfang der 60iger Jahre zu einer Zeit, als ein großer Teil der Politiker, Bürger und auch Juristen am liebsten nichts mehr davon wissen wollten. Fritz Bauer, der gegen den Trend und gegen erbitterte Widerstände in der Juristenzunft und seinem Kollegenkreis die Auschwitzprozesse in Frankfurt in die Wege leitete und konspirativ zum Eichmann Prozess in Israel beitrug.

Fritz Bauer zwang die Deutschen zum Hinsehen und verhinderte damit das kollektive Wegsehen und Vergessen. Fritz Bauer war ein großer Jurist und ein Humanist. Deshalb ist er der Namensträger des Preises der Humanistischen Union.

Auf der anderen Seite unsere Preisträger, das Redaktionsteam von netzpolitik.org, eine moderne Aktivisten-Plattform, die die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Verteidigung der Freiheitsrechte professionell, engagiert und erfolgreich einsetzt. Ein staatlich unabhängiges Redaktionsteam, das unbequem und nachhaltig die digitalen Freiheitsrechte verteidigt – häufig gegen den Trend, häufig gegen die Regierungspolitik. Das ist eine Parallele zu Fritz Bauer. Und eine weitere ist offensichtlich. Auch netzpolitik.org will das Wegsehen verhindern, auch immer wieder gegen den Trend. Netzpolitik.org will zum Hinsehen auffordern, wenn es um Eingriffe in die Freiheitsrechte geht. Netzpolitik.org kämpft gegen die Beschränkung der Freiheitsrechte und zeigt damit der Regierung, dem parlamentarischen Gesetzgeber und staatlichen Institutionen Grenzen auf. Digitalisierung darf nicht das Instrument der Bagatellisierung der elementaren Grundrechte sein, die unverzichtbar für unsere liberale Demokratie, also der wertegebundenen Demokratie sind. Dieser Anspruch verbindet Sie auch mit Fritz Bauer, der den Rechtsstaat um der Gerechtigkeit willen verteidigte und die juristische Spitzfindigkeit, Verantwortung und Schuld für die Nazi- Verbrechen mit Befehlsabhängigkeit zu minimalisieren, anklagte.

Auch netzpolitik.org nennt Verantwortliche für massenhafte Zugriffe auf personenbezogene Daten und für bestimmte gesetzgeberische Maßnahmen mit freiheitsbeschränkender Wirkung und macht für ein großes Publikum transparent, welche Gefahren für die Freiheitsrechte in anlassloser Vorratsdatenspeicherung bestimmter Daten, bei der Quellen-TKÜ, bei Überwachungsmaßnahmen des BND und der Verfassungsschutzämter liegen und welche Missbrauchs- und Gefahrenpotenziale bei der Nutzung von Sicherheitslücken im Netz bestehen.

Netzpolitik.org agiert gegen einen gewissen Trend, Freiheitsbeschränkungen als in Kauf zu nehmende Kollateralschäden zur Maximierung wirtschaftlichen Erfolges der Digitalisierung hinzunehmen, genauso wie zum angeblich nur so erfolgreichen Kampf gegen Terrorismus welcher Art auch immer.

Auch das verbindet den Namensträger des Preises und den diesjährigen Preisträger. Nicht konform, leise und unbemerkt im Zeitgeist mitschwimmen, sondern sich dann vehement, kompetent und lautstark entgegenstellen, wenn wichtige Werte gefährdet werden – wie zum Beispiel die informationelle Selbstbestimmung des einzelnen oder die Persönlichkeitsrechte. Aber genauso sorgen Sie für die notwendige Kontrolle staatlichen Handelns, für Transparenz, die so entscheidend für das Vertrauen in politisches Handeln ist.

Ich gratuliere Ihnen, lieber Markus Beckedahl, und dem gesamten Redaktionsteam von netzpolitik.org zu dieser Auszeichnung. Sie stellt Sie alle in die Reihe so großartiger Preisträger wie unter anderem Gustav Heinemann, Günter Grass, Regine Hildebrandt, meinen langjährigen, geschätzten Freund Burkhard Hirsch oder den mutigen Whistleblower Edward Snowden.

Dieses Mal wird ein Team ausgezeichnet, das hinter netzpolitik.org steht. Ihre Geschichte ist jung. Als einfaches News-Blog 2002 gegründet wurde es 2004 zu einer Plattform für netzpolitische Themen ausgeweitet. Sie sind die Plattform bzw. das journalistische Format, das vor 19 Jahren das damalige Nischenthema „Netzpolitik“ nachhaltig geprägt hat. Damit haben Sie 5 Jahre vor dem ersten iPhone Ihre Arbeit aufgenommen und den Begriff “Netzpolitik” mit Leben gefüllt, bevor die Politik verstanden hat, was Internet und Digitalisierung für unser gesamtes Leben bedeuten.

Mit journalistischer Expertise treten Sie konsequent für Bürgerrechte und gegen Überwachung ein. Oftmals tiefergehend als andere Journalistinnen und Journalisten. Die Plattform zeigt selber schon, dass das Internet verstanden wurde. Die Texte sind häufig sehr „blau“, weil überall, wo möglich und nötig, auf Quellen bzw. Hintergrundinformationen verlinkt wird – Wissen teilen ist sichtbare Maxime.

Inhaltliche Schwerpunkte gibt es mehr als genug. Ich habe einmal in den verfügbaren Webarchiven gestöbert und versucht eine frühe Version der Webseite netzpolitik.org aufzurufen. Die erste Webseitenversion, die in der Way-Back-Machine, einem der bekannten Webseitenarchive, von netzpolitik.org gespeichert ist, stammt aus dem Dezember 2004. Drei Schlagzeilen von dieser Seite möchte ich kurz zitieren:

  •  „ver.di setzt auf Freie Software“

  •  “Aktionsbündnis Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft legt umfangreiche Expertise vor”

  • “Veranstaltung: “Biometrie in Politik und Technik””

Also ich kann fast keinen Unterschied zu heute erkennen. Die Themen, über die Sie damals berichtet haben, finden heute noch genauso statt. Die immer größer werdende Abhängigkeit der öffentlichen Verwaltung von proprietärer Software, der Streit um eine Entfristung des Urheberwissenschaftsgesetzes dieses Jahr und die kontrovers geführte Debatte über ein Verbot von intelligenten Überwachungskameras im öffentlichen Raum – das alles sind Themen, die gerade brandaktuell sind.

Liebes Team von netzpolitik.org. Es ist nicht die Themenauswahl allein, die Sie auszeichnet. Es ist auch Ihre Art des Journalismus. Sie haben durch Ihr konsequentes Eintreten für Bürgerrechte im digitalen Raum und gegen jede Form der Überwachung Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für Themen geschaffen, die gerade 20 Jahre nach den Anschlägen von 9/11 drängender sind wie nie zuvor. Sie haben aber nicht nur berichtet, sie haben wirklichen Einsatz für die Sache gezeigt und den Begriff des Haltungsjournalismus für netzpolitische Themen mit Leben gefüllt. Dafür sind Sie auch an die Grenzen des Journalismus gegangen.

Aber nicht immer lief die Arbeit so glatt. Wer erinnert sich nicht an die Ermittlungen des Generalbundesanwalts Harald Range gegen Markus Beckedahl und André Meister 2015 wegen des Verdachts des Landesverrats. Anlass war der Vorwurf, sie hätten einen als Verschlusssache eingestuften Bericht des Verfassungsschutzes veröffentlicht (bzw. Ausschnitte daraus), der im Rahmen des NSA – Untersuchungsausschusses vorgelegt wurde. Und wer hat da mitgemischt, Hinweise gegeben und damit auch die Ermittlungen initiiert? Der damalige Präsident des BfV, Hans-Georg Maaßen. Dass Hans-Georg Maaßen nichts von unabhängiger Berichterstattung hält und am liebsten nur das hören möchte, was ihm passt, hat er erst vor Kurzem mit seiner Bezeichnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als

Propaganda-Medium deutlich gemacht. Die Maxime, als Nachrichten-Medium so unbequem zu sein, dass Herr Maaßen sich daran stört, ist eine gute journalistische Messlatte.

Quellenschutz und investigativer Journalismus haben letztendlich gesiegt. Auch wenn die Ermittlungen eingestellt wurden, ist der Vorgang seit der Spiegel Affäre einmalig – negativ!! Denn was hätte mit diesen Ermittlungen erreicht werden können und vielleicht sogar sollen? Einschüchterung und Selbstbeschränkung. Aber nicht bei netzpolitik.org. Die Unterstützung für Sie aus der Gesellschaft und von vielen Organisationen war gigantisch und Sie wurden gestärkt.

Nur am Rande sei erwähnt, dass es weitere Vorwürfe gab wegen der Veröffentlichung eines internen Memos des Berliner Landesdatenschutzbeauftragten Alexander Dix zur Datenaffäre der Deutschen Bahn. Es waren Vorwürfe des Verrats von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen der DB und von Urheberrechtsverletzungen. Markus Beckedahl verweigerte das Unterzeichnen einer Unterlassungserklärung.

Haben wir es beim Preisträger etwa mit notorischen Rechtsbrechern zu tun? Nein, ganz im Gegenteil. Netzpolitik.org lotet aus, was geht, wie man gegen mächtige Institutionen ankommt und wie man die Bürger und Bürgerinnen stärkt. Im Rahmen des rechtlich Möglichen. Dabei ist Netzpolitik.org immer unabhängig geblieben – finanziert durch Spenden, keine Werbung, kein Tracking.

Die heutige Preisverleihung ist ein wunderbares Ereignis. Aber heute begehen wir auch ein trauriges Jubiläum. Die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 jähren sich zum 20. Mal. Deshalb erlauben Sie mir, auf eine sehr bedenkliche Entwicklung in der Sicherheitsgesetzgebung der letzten Jahre hinzuweisen. Die Anschläge von 9/11 waren eine Zäsur. Sie haben die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzt und damit den Nährboden für eine Politik geschaffen, die Freiheit und Sicherheit als Gegensatz begreift. Ergebnis dieses politischen Narrativs war in den letzten 20 Jahren eine entfesselte Sicherheitsgesetzgebung, die eine immer feinmaschigere Überwachung der Bürgerinnen und Bürger weltweit zur Folge hatte.

Sie haben von netzpolitik.org nicht nur über jedes der Überwachungs-Gesetze oder auch Urteile aus Karlsruhe, durch die Gesetze wieder kassiert wurden, ausführlich berichtet. Sie haben auch für mehr Transparenz in Gesetzgebungsprozessen gesorgt. Auf Ihrer Plattform haben Sie ganze Referentenentwürfe von Gesetzen oder durch Informationsfreiheitsanfragen erlangte Dokumente veröffentlicht. Allein dadurch haben Sie einen Beitrag dazu geleistet, dass Debatten in der Öffentlichkeit überhaupt geführt wurden, sich frühzeitig entwickeln konnten und zivilgesellschaftliche Akteure, die auf öffentlich verfügbare Informationen angewiesen sind, sich in diese Debatten mit ihrer Fachkunde einbringen konnten. Wissen zu teilen und dadurch zu vermehren, ist auch hier sichtbare Leitlinie Ihrer Plattform.

Mit Blick auf Bürgerrechte im digitalen Raum gibt es neben ständig neuen Überwachungsbefugnissen auch gewisse Zombie-Debatten, die im Sicherheitsbereich immer wieder auferstehen und einfach nicht totzukriegen sind. Meistens tauchen sie nicht einmal an der passenden Stelle auf. Die Erforderlichkeit einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung oder des Ausspionierens von Mobilgeräten mithilfe eines Staatstrojaners sind zwei solche Zombies. Dass innerhalb weniger Stunden nach einem wie auch immer gearteten Sicherheitsvorfall Forderungen nach der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung und dem Staatstrojaner erhoben werden, ist fast so sicher wie das Amen in der Kirche.

Gerade an dieser Stelle war in der Vergangenheit auch die Arbeit von Ihnen bei netzpolitik.org besonders wichtig und wertvoll. Ein Beispiel: Aus der Ende letzten Jahres vom Bundesamt für Justiz veröffentlichten Statistik zur Telekommunikationsüberwachung für das Jahr 2019 ging eine extrem hohe Anzahl an tatsächlich durchgeführten Quellen- Telekommunikationsüberwachungen hervor. Sie titelten damals, passend zu den Zahlen, dass die Polizei täglich den Staatstrojaner einsetzt. Das Ganze wurde dann ziemlich schnell ziemlich peinlich für das Bundesamt für Justiz und alle involvierten Stellen. Denn offensichtlich hatte irgendjemand bei der Erstellung der Statistik die Rechtsgrundlagen verwechselt. Die Zahlen mussten nachträglich korrigiert werden. Letztlich kam dann heraus, dass der Staatstrojaner als Mittel von Polizei und Ermittlungsbehörden zum einen in einer nur sehr geringen Zahl von Fällen eingesetzt wird und zum anderem vor allem zur Aufklärung von Drogen und Vermögensdelikten. Nicht etwa im Bereich des Kindesmissbrauchs oder des Terrorismus, wie man vermuten würde. Mit Ihrer pointierten Berichterstattung haben Sie zur Aufklärung von irreführenden Informationen beigetragen und sichtbar gemacht, dass mit diesen Zahlen nicht belegt werden kann, wie angeblich unverzichtbar die anlasslose Vorratsdatenspeicherung beim Vorgehen gegen Kindesmissbrauch sein soll.

Es gäbe noch so viele weitere Dinge herauszuheben, die Sie zu einem würdigen Träger des Fritz-Bauer-Preises machen. Wenn man über netzpolitik.org spricht, muss man auch einmal über Sie, lieber Markus Beckedahl sprechen, den Gründer und bis heute das Gesicht von netzpolitik.org. Lieber Herr Beckedahl, ich habe großen Respekt davor, wie Sie diesogenannte “Netzgemeinde” geprägt und wie Sie ihr immer wieder eine Plattform gegeben haben. Zum einen natürlich durch informative und aufklärerische Berichterstattung auf netzpolitik.org. Zum anderen aber auch durch Ihre Mitbegründung der “republica”. Sie ist quasi das „Klassentreffen“ der Internetgemeinde. Jedes Jahr ist es das Event für alle Interessierten aus dem Digital- und Medienbereich, auf dem wirklich alle Aspekte dessen, wie sich die Digitalisierung auf unsere Gesellschaft auswirkt, teilweise mit großer Detailverliebtheit, besprochen wird.

Ich möchte auch noch die Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union ansprechen, die Markus Beckedahl neben vielen Wissenschaftlern, Schriftstellern, Journalisten und Politikern unter dem Dach der Zeit-Stiftung unterschrieben hat, ich auch.

Mit dieser Charta wurden die von den Initiatoren erwünschten digitalen Grundrechte umfangreich schriftlich niedergelegt. Es ging den Urhebern nicht um einen verfassungsgebenden Text, sondern um eine Grundlage für einen gesellschaftlichen Diskurs. Es geht darum, die Freiheit und Souveränität des Einzelnen in der digitalen Welt zu schützen – gegen staatliche Totalüberwachung und den Zugriff mächtiger Wirtschaftskonzerne. Mit der Kritik war man fast ritualisiert schnell dabei: Zensurphantastereien, Mediengängelung, Gummiparagraphen, zu Deutsch. Damit wird bewusst negiert, dass es Anstöße zum Diskurs sind und es nicht reicht, es nur bei den bestehenden Regelungen zu belassen. Angesichts der rasanten digitalen Entwicklung wie der künstlichen Intelligenz und der immer stärker werdenden Abhängigkeit der Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Weltakteuren wäre es gut, die Forderungen der Charta der digitalen Grundrechte in die nächsten Koalitionsverhandlungen nach dem 26.09. einzubringen.

Die kritische Begleitung digitalpolitischer Themen in Deutschland und Europa hat einen Namen und einen Ort: Dieser heißt netzpolitik.org und befindet sich im Netz.

Die hochrangige Auszeichnung mit dem Fritz-Bauer-Preis ist nicht nur die Anerkennung für Ihr gesellschaftspolitisches Wirken, sondern soll Ansporn sein, unverdrossen weiter zu machen. Bleiben Sie informativ, aufklärerisch und unbequem.

Herzlichen Glückwunsch.

Dankesrede für Fritz-Bauer-Preis von Markus Beckedahl

Ich weiß nicht, ob das heutige Datum für Eure Mitgliederversammlung und diese Preisverleihung bewusst als Statement gewählt wurde oder einfach nur Corona geschuldet ist. Auch wenn die Anschläge vom 11. September weit weg sind, sie waren und sind auch eine massive Zäsur in der Grundrechtspolitik.

Aber der 11. September hatte auch was gutes: Ich kam zum ersten Mal in Kontakt mit der Humanistischen Union. Ich erinnere mich noch, wie ich damals als Mittzwanziger in Euer Büro kam und Euren damaligen Geschäftsführer Nils Leopold und Tobias Baur kennenlernte.

Die Humanistische Union koordinierte ein zivilgesellschaftliches Bündnis, dass sich gegen die zahlreichen Grundrechtseinschränkungen der Otto-Kataloge stellte. Der Widerstand war klein und wir kämpften weitgehend gegen die Windmühlen des Zeitgeistes namens „Innere Sicherheit“. Aber zumindest mich motivierte die Zeit, nicht aufzugeben und weiter gegen die immer ausufernde Überwachung zu kämpfen – und nicht viel später netzpolitik.org zu gründen.

Seit zwanzig Jahren ist der Damm gebrochen, wir reden nur noch über die Ausweitung zahlreicher Überwachungsmaßnahmen, während das Bundesverfassungsgericht nicht mehr hinterher kommt, alle Überwachungsgesetze zeitnah zu überprüfen.

Wir warten seit Jahren auf die Verhandlungen der Gesetze der vorherigen Großen Koalition, gegen die wir als Beschwerdeführer:innen zusammen mit anderen Organisationen klagen – sei es die Datenhehlerei, versteckt im Anhang des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung oder die drastische Erweiterung des automatisierten Biometriezugriffs durch sämtliche Polizeien und Geheimdienste sowie weitere Behörden. Und dazu kommen zahlreiche weitere Klagen gegen noch mehr Überwachungsgesetze, auch aus dieser Legislaturperiode. Aber es bringt auch Erfolge: Fast alle Überwachungsgesetze werden vom Bundesverfassungsgericht für zumindest in Teilen verfassungswidrig erklärt.

Traurig ist es jedoch schon, dass dies keine politischen Konsequenzen hat, außer dass schnell wieder entlang der definierten roten Linien neue Überwachungsreformgesetze eingebracht werden. Gegen die dann wieder geklagt werden muss.

In der achtzehnjährigen Geschichte von netzpolitik.org haben wir zahlreiche Gesetzesprozesse ausführlich dokumentiert, kritisch begleitet und Öffentlichkeit für Grundrechtsaspekte geschaffen, die in der politischen und medialen Debatte häufig zu kurz kamen. Wir fanden die Vorratsdatenspeicherung schon vollkommen unverhältnismäßig und inakzeptabel, bevor der Widerstand cool wurde. Jetzt fiebern wir der kommenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes entgegen und hoffen, dass zum wiederholten Male die Vollprotokollierung unserer Verbindungsdaten, wer mit wem telefoniert und vor allem Dingen, wann unser Smartphone wo nach Hause telefoniert, gestoppt wird.

Lange war es schwierig über den massiven Ausbau der Massenüberwachung offen zu sprechen, ohne Angst haben zu müssen, in die Aluhut-Ecke der Verschwörungsmythen gerückt zu werden.

Die Enthüllungen, die wir Edward Snowden zu verdanken haben, dokumentierten, dass alles noch viel schlimmer war, als selbst wir das befürchtet hatten. Unsere Bundesregierung duckte sich erst mal weg und versuchte zu suggerieren, dass man das alles auch erst aus der Zeitung erfahren habe. Durch die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses, bzw. vor allem der engagierten Arbeit der kleinen Opposition darin, allen voran Hans-Christian Ströbele und Martina Renner, und vieler investigativer Recherchen kam heraus, dass unsere Geheimdienste knietief mit im Überwachungssumpf von NSA und Co standen. Und häufig im Geheimen verfassungswidrig agierten.

Leider wurde das Ziel von Edward Snowden nicht erreicht, weniger Überwachung zu bekommen. Die Enthüllungen wurden nicht als Warnung, sondern als Machbarkeitsstudie gesehen. Die Massenüberwachung und die Befugnisse unserer 19 Geheimdienste wurden in den vergangenen Jahren massiv ausgeweitet, mittlerweile darf der BND legal noch viel mehr überwachen und es gibt Staatstrojaner für alle. Das im Namen der Sicherheit massive IT-Unsicherheit geschaffen wird, indem für die Munitionierung von Staatstrojanern Sicherheitslücken genutzt werden, die dann eben offen bleiben, ist dabei leider egal.

Ein Motto von uns war und ist: „Uns liegen Dokumente nicht nur vor, wir veröffentlichen sie auch.“ Wir praktizieren das schon lange, wenn auch nicht immer, weil manchmal gute Gründe dagegen sprechen.

Und immer mehr entwickelt sich diese Praxis zu einer neuen Norm im Journalismus, denn Platz gibt es noch genug im Netz. Früher musste man erklären, warum man ein Dokument veröffentlichte. Heute ist es anders. Und das ist auch gut so. Denn wenn wir Originaldokumente veröffentlichen, können unsere Leser:innen unsere Arbeit besser kontrollieren, es schafft Vertrauen, wir teilen Wissen und Andere können darauf im Idealfall aufbauen.

Manchmal kann man deswegen auch Probleme bekommen, wie wir vor sechs Jahren feststellen konnten, als wir einen gelben Brief vom Generalbundesanwalt bekamen und über Ermittlungen wegen Landesverrat informiert wurden – gegen Andre Meister und mich sowie unsere Quellen.

Wissen Sie noch, wer dahinter steckte? Es war der damalige Verfassungsschutzpräsident und heutige Verschwörungsideologe sowie CDU-Bundestagskandidat Hans-Georg-Maaßen, gedeckt von Kanzleramt und Bundesinnenministerium. Viele Details sind immer noch ungeklärt und vielleicht werden wir in 24 Jahren mehr erfahren, falls dann überhaupt die Akten freigegeben werden.

Dass wir vor einer Haus- und Redaktionsdurchsuchung durch den Generalbundesanwalt informiert wurden, war eher Zufall und Glück für uns. Wir suchten im Internet, was dieser Landesverrat eigentlich ist, stellten das Schreiben ins Netz und landeten im Zentrum einer Staatsaffäre: Der amtierende Generalbundesanwalt wurde gefeuert, die Ermittlungen nach wenigen Tagen eingestellt.

Auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit und die große Solidarität uns seinerzeit geschützt hat: Ermittlungen wegen „Landesverrats“ (§ 94) oder das direkt daneben stehende „Offenbaren von Staatsgeheimnissen“ (§ 95) hängen immer noch wie ein Damoklesschwert über investigativen Journalist:innen. Der damalige Justiz- und heutige Außenminister Heiko Maas versprach, den betreffenden Paragraphen zu reformieren und damit die Pressefreiheit besserzustellen. Seitdem ist nichts passiert, hier stellen sich Union-geführte Ministerien quer.

Wo sich die Union aber mit Sicherheit nicht querstellt, ist der Ausbau technisierter Überwachung, auch wenn es die Pressefreiheit weiter bedroht: Die aktuelle Große Koalition hat dem unter Maaßen kräftig gewachsenen Inlandsgeheimdienst noch mehr Überwachungsbefugnisse im Rahmen der Verfassungsschutzreform gegeben. Auch mit Staatstrojanern gegen Journalist:innen vorzugehen, wurde ihm erlaubt. Das ist als ein Angriff auf unsere Grundrechte, auf die Pressefreiheit und auch auf die IT-Sicherheit in Deutschland zu bewerten.

Aber nicht nur der Staat gefährdet in heutigen Zeiten unsere Grundrechte. Während viele Politiker:innen in den vergangenen zwölf Jahren damit beschäftigt waren, ihre Facebook-Seiten, Instagram-Accounts und Youtube-Kanäle für den nächsten Wahlkampf zu optimieren, wuchs die Macht der bisher viel zu unregulierten Plattformen massiv an.

Wir haben uns als Gesellschaften abhängig von wenigen Unternehmen gemacht, auf deren Plattformen sich die neuen Öffentlichkeiten konstituieren. Aber leider sind es privatisierte Öffentlichkeiten und die Regeln, wie wir dort zu welchen Bedingungen kommunizieren und uns informieren können, werden weitgehend einseitig durch technisches Design und Allgemeine Geschäftsbedingungen vorgegeben. Das muss demokratischer ablaufen.

Momentan werden auf den Plattformen riesige Datenmengen gesammelt und ausgewertet, um detaillierte Profile von Nutzer:innen anzulegen, das Denken und die Wünsche von Nutzer:innen vorauszusagen und dann mittels Werbung die Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Diese Art von Werbung aber, die auf Vorhersagen und Manipulation unseres Verhaltens basiert, hat in einer freien Gesellschaft nichts zu suchen. Der Überwachungskapitalismus ist einfach ein furchtbares Geschäftsmodell für soziale Infrastrukturen.

Wir sollten es auch nicht resigniert akzeptieren, dass wir überall im Netz intransparent im Hintergrund zum Zwecke der Werbevermarktung oder der Massenüberwachung von Geheimdiensten ausspioniert werden. Und dabei vollkommen unklar ist, welche Daten über uns unkontrolliert gesammelt, verarbeitet, analysiert und weitergegeben werden.

Diesen Praktiken muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden, denn auch im öffentlichen Raum werden wir nicht totalüberwacht – auch wenn die Ausweitung von Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung leider keine Science-Fiction mehr ist, sondern die aktuelle Forderung einer Regierungspartei in diesem Wahlkampf. Wir brauchen dringend ein Verbot biometrischer Massenüberwachung im öffentlichen Raum.

Sie sehen und hören, ich könnte stundenlang über zu viele Überwachungsgesetze sprechen. Aber heute sind wir ja hier zum Feiern, lesen Sie weitere Details lieber direkt bei uns auf netzpolitik.org.

Wir danken allen unseren Unterstützer:innen, die unsere Arbeit erst ermöglichen. Ohne unsere Spender:innen könnten wir nicht so frei arbeiten und uns in Themen festbeißen. Ohne unsere vielen Tippgeber:innen wüssten wir viel weniger.

Euer Fritz-Bauer-Preis ist uns ein Ansporn, weiterhin engagiert gegen Grundrechtseinschränkungen anzuschreiben und Rahmenbedingungen für eine bessere digitale Gesellschaft schaffen zu wollen. Wir fühlen uns auch sehr geehrt, wenn man die lange Liste früherer Preisträger:innen anschaut, von denen viele den Grundrechtsdiskurs dieser Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt haben. Und auf deren Schultern stehen wir und denen wir auch viele unserer Freiheiten zu verdanken haben.

Danke für Euer Engagement, danke, dass wir der Preisträger des diesjährigen Fritz-Bauer-Preis sein dürfen. Lasst uns weiter gemeinsam für Grundrechte eintreten und uns der ausufernden Überwachung entgegenstellen. Immer wieder, auch wenn es manchmal frustrierend ist.

Freiheit, Demokratie und unsere Grundrechte sind es einfach wert.

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Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

2 Ergänzungen

  1. „Ohne unsere vielen Tippgeber:innen wüssten wir viel weniger. “

    Und wo auf netzpolitik.org findet man eine Anleitung für Whistle-Blower, wie man sicher verschlüsselt _und_ anonym Kontakt zu Redakteuren aufnimmt und/oder Dokumente senden kann?

    Vielleicht macht ihr mal einen Artikel daraus und zeigt euren Lesern, wie das bei Euch geht, nebst Erklärung was Quellenschutz für Tippgeber und Tippgeberinnen bedeutet und wie Ihr dazu steht.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.