Preprint-Server in Zeiten von Covid-19Zwischen Fast Science und Fake News

Fachleute verbringen Monate damit, neue Studien zu prüfen, bevor sie in einem Fachjournal veröffentlicht werden. In der Coronakrise ist Zeit knapp, deshalb greifen viele auf Wissen aus Studien zurück, die noch nicht geprüft wurden – zu finden auf Preprint-Servern. Dabei findet auch ein Kampf um wissenschaftliche Deutungshoheit statt.

Puzzleteile in Nahaufnahme.
Normalerweise sind Geduld und Zeit für verlässliche Forschung unabdingbar. In der Coronakrise kommt es aber sehr auf Geschwindigkeit an (Symbolbild). CC-BY-NC 2.0 Erin Brown-John

Maximilian Heimstädt ist Betriebswirt und leitet die Forschungsgruppe „Reorganisation von Wissenspraktiken“ am Weizenbaum-Institut in Berlin. Er forscht zu Offenheit als Organisationsprinzip, unter anderem im Kontext von Open Government, Open Science und Open Strategy. Er twittert als @heimstaedt.

Seit einem Monat berichtet der Virologe Christian Drosten im täglichen Podcast „Coronavirus-Update“ über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zum Erreger und spricht Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft aus. Oft gelobt wird Drosten dabei für seine abwägende und bedachte Art der Wissenschaftskommunikation.

Statt auf unveränderbare Professorenmeinung verweist Drosten immer wieder auf die Dynamik und Unvollständigkeit der bestehenden Forschung zu Covid-19. Als unabdingbar für seine Rolle als wissenschaftlicher Berater beschreibt er seinen täglichen Besuch sogenannter „Preprint-Server“.

Fast Science: Preprint-Server retten Leben

Bereits in den frühen 90er Jahren begannen Physiker:innen ihre vollendeten Manuskripte auf dem Onlinerepositorium arXiv.org abzulegen und somit direkt nach Fertigstellung anderen Wissenschaftler:innen zugänglich zu machen. ArXiv war somit der erste Preprint-Server. Heutzutage existieren spezialisierte Preprint-Server für fast alle wissenschaftlichen Disziplinen. Mitunter konkurrieren sogar mehrere solcher Server um unbegutachtete Manuskripte eines Forschungsfeldes.

Anders als Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften wurden Preprints noch keinem wissenschaftlichen Begutachtungsverfahren („Peer Review“) unterzogen. Oft werden die Preprints jedoch parallel zur Veröffentlichung auf einem Preprint-Server auch bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Begutachtung eingereicht. Über mehrere Monate oder sogar Jahre wandern die Manuskripte dann zwischen Autor:innen, anonymen Gutachter:innen und Editor:innen hin und her, bis die Autor:innen alle wissenschaftlichen Bedenken der beiden anderen Parteien ausräumen konnten. Die abschließend begutachtete Version der Texte unterscheiden sich oftmals stark von der Preprint-Version.

Als „Schnellstraße“ neben diesem Begutachtungssystem versprechen Preprint-Server, wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zeitnah und frei zugänglich der weiteren Forschung, Politik oder anderen Interessensgruppen zur Verfügung zu stellen. Im NDR-Podcast berichtet Drosten, dass er täglich den fachspezifischen PrePrint-Server bioRxiv nach neuen Veröffentlichungen zu Covid-19 durchsucht. Als Experte in seinem Forschungsfeld sieht sich Drosten in der Lage, die Aussagekraft neuer Preprints auch ohne Peer Review einschätzen zu können. Mit Blick auf seine Rolle als Politikberater lässt sich somit nur wenig zugespitzt sagen: Preprint-Server retten Leben.

Fake News: Preprint-Server begünstigen Clickbait-Wissenschaft

Im Verlauf der letzten Wochen zeigten sich jedoch auch unbeabsichtigte Nebenfolgen des aktuellen Preprint-Interesses. Preprint-Server begünstigen eine aufmerksamkeitheischende Präsentation von Forschungsergebnissen, die auf eine Verbreitung über soziale Netzwerke abzielt. Schnell wird aus solcher Clickbait-Wissenschaft Desinformation, wie kürzlich von Journalist:innen des Schweizer Onlinemagazins Republik beschrieben.

Am 31. Januar erschien auf bioRxiv eine neue Studie von Forscher:innen aus Delhi. Die Studie behauptet, starke Ähnlichkeiten zwischen Covid-19 und dem HI-Virus entdeckt zu haben. Angefacht von einem mehrdeutig formulierten Titel der Studie („uncanny similarity“ / „unheimliche Ähnlichkeit“) verbreiteten sich in rasanter Geschwindigkeit Verschwörungstheorien und Fake News auf Twitter. Viele davon präsentieren die Studie als einen Beweis dafür, dass Covid-19 das Ergebnis eines verunglückten Laborexperimentes oder sogar eine bewusst erschaffene „Biowaffe“ sei.

Zur selben Zeit entspinnt sich im Kommentarbereich des Preprint-Servers eine rege Diskussion zwischen Wissenschaftler:innen, die überwiegend einstimmig Argumente für die handwerkliche Hinfälligkeit der Studie erarbeiten. Noch während der Diskussion auf bioRxiv mischen sich einzelne Wissenschaftler:innen auch auf Twitter ein und bemühen sich darum, die dort verbreiteten Verschwörungstheorien zu widerlegen. Am 1. Februar, einen Tag nach Veröffentlichung der Studie, sieht sich bioRxiv dazu veranlasst, über jedem Preprint zum Coronavirus einen Warnhinweis zu platzieren:

bioRxiv is receiving many new papers on coronavirus 2019-nCoV. A reminder: these are preliminary reports that have not been peer-reviewed. They should not be regarded as conclusive, guide clinical practice/health-related behavior, or be reported in news media as established information.

[Eigene Übersetzung: „bioRxiv erhält viele neue Papers zum Coronavirus 2019-nCoV. Zur Erinnerung: Bei ihnen handelt es sich um Vorabveröffentlichungen ohne Peer Review. Sie sollten nicht als abschließend betrachtet, als Anleitung für klinische Praxis/gesundheitsbezogenes Verhalten verstanden oder in der Berichterstattung als etablierte Information dargestellt werden.“]

Am 2. Februar ziehen die Autor:innen die besagte Studie zurück. Trotz formalem Widerruf der Studie bleibt diese jedoch mit einem weiteren Warnhinweis versehen auf bioRxiv verfügbar.

Preprint-Server sind politisch

Die Covid-19-Krise hat Schattenseiten des Fast-Science-Versprechens von Preprint-Servern sichtbar gemacht. Diese Schattenseiten sind jedoch nicht auf die biomedizinische Forschung beschränkt.

2013 stellte sich beispielsweise eine unbegutachtete, aber politisch sehr einflussreiche Studie der US-Ökonom:innen Carmen Reinhart and Kenneth Rogoff als methodisch und in ihren Ergebnissen fehlerhaft heraus. Passend beschrieben wurde die zugrunde liegende Dynamik von der feministischen Autorin Jo Freeman bereits 1972 als „Tyrannei der Strukturlosigkeit“.

Befreit von der scheinbar hemmenden Struktur wissenschaftlicher Begutachtungsprozesse führen Preprint-Server eben nicht nur zu einer schnellen Verfügbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern dienen zugleich als Nährboden für vorschnelle Veröffentlichung, Clickbait-Titel und letztlich Desinformation. Manche Kommentatoren sprechen bereits von „Preprint Wars“ – Kämpfen über wissenschaftliche Deutungshoheit, deren Ergebnisse starken Einfluss auf den öffentlichen Diskurs haben können. Preprint-Server sind politisch.

In der Debatte um Covid-19 und Fake News stellen Preprint-Server eine bisher wenig beachteten, aber einflussreichen Schauplatz dar. In den kommenden Monaten können wir neben weiteren medizinischen Erkenntnissen auch Studien zu den psychologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen von Social Distancing und Ausgangsbeschränkungen erwarten.

Zwar sind Wissenschaftler wie Christian Drosten in der Lage, die Qualität von Preprints ihres Fachgebetes auch ohne Begutachtung einzuschätzen, doch scheint es entscheidend, dass auch Journalist:innen und andere Multiplikator:innen sich mit den wichtigsten Preprint-Server und ihren Moderationstechniken vertraut machen – bei bioRxiv findet etwa ein Screening nach anstößigen oder gefährlichen Inhalten hochgeladener Preprints statt. Bisherige Angebote zum verantwortungsvollen Umgang mit Preprints sind beispielsweise Faktenchecks von Medien und Recherchebüros und Organisationen wie das Science Media Center Germany, die sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus verstehen.

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8 Ergänzungen

  1. Warum sollen die Preprint-Server das Problem sein? Aufmerksamkeitsheischenden Unfug kann man überall veröffentlichen.
    Das Problem sind sind doch wohl wie immer die Vorschlags-Algorithmen der werbefinanzierten sozialen Netze. In Ihrem Bestreben um maximale Benutzeraufmerksamkeit sind es eben gerade die Verschwörungstheorien rund um Corona, die viel Aufmerksamkeit bekommen und deshalb automatisch gepusht werden bzw. „trenden“. Woher der jeweilige Content stammt ist dabei völlig egal. Auf den Preprint-Servern wird auch schon vor Corona viel zweifelhafter Content gelegen haben.

    1. Die Preprint-Server sind natürlich nicht der zentrale Verbreitungsmechanismus von Desinformation, da greifen viele Dinge ineinander und auch Vorschlags-Algorithmen spielen eine Rolle. In dem Beitrag geht es mir aber um die Schnittstelle von Wissenschaft und Journalismus. Erst durch Preprint-Server gelangen ungeprüfte und somit manchmal sehr reißerisch/missverständlich formulierte Studien in die Berichterstattung.

      1. Meine Wahrnehmung ist, dass die Sachen in die Berichterstattung kommen, die in den sozialen Netzen trenden. Und was dort trendet, entscheidet die KI. Ohne Twitter, FB, YT etc. bliebe es bei einzelnen Erwähnungen von Preprints. Erst deren KI findet zielsicher die Klientel, die auch noch für den größten Unsinn empfänglich ist. Und da Menschen sehr viel empfänglicher für Gefahr als für positive Inhalte sind, wirkt auch auch hier wieder das Geschäftsmodell dieser Unternehmen als der inzwischen gewohnte Verstärker für Angst, Hass und Gewalt.
        Es macht wenig Sinn, über die Bereitstellung von solchem Content nachzudenken, solange man die Mechanismen ignoriert, die reißerische Verschwörungserzählungen ungleich stärker belohnen als ernsthafte Wissenschaft.

        1. Ich denke es gibt mehrere Wege vom Preprint zur Verbreitung von wissenschaftlichen Unwahrheiten auf den sozialen Netzwerken. Oft sind die Wege einzelner Nachrichten nur schwer nachzuvollziehen. In dem Republik-Artikel den ich verlinke (https://www.republik.ch/2020/03/17/die-wissenschaft-im-stresstest) wird berichtet, dass ein Preprint der Schlangen fälschlicherweise als Übermittler des Virus darstellt von CNN verbreitet wurde. Die CNN Meldung ging dann wiederum auf Twitter und co rum. Ob CNN nun selbst ein Auge auf die Preprint-Server und die Diskussionen dort wirft oder ob CNN die Geschichte wiederum über die sozialen Netzwerke aufgegriffen scheint nicht nachzuvollziehen.

  2. Der Tonfall ist mir ein bisschen zu negativ. Auf „Clickbait“ oder eine Verbreitung über soziale Netzwerke außerhalb der Fachcommunity schielen wohl die wenigsten Wissenschaftler:innen. Im Gegenteil bedenken wohl die wenigsten, dass ihre Arbeiten nicht nur von der Community gelesen werden. Kaum jemand würde seinen Ruf mit halbfertigen oder fragwürdigen Manuskripten beschädigen wollen. Und wer bewusst Abwegiges verbreiten will, findet genug andere Möglichkeiten. Auch in renommierten Zeitschriften stand schon jede Mange Falsches – man denke nur an den Wakefield-Artikel zu Autismus und Impfen, der in „The Lancet“ erschienen ist. Völlig richtig ist es natürlich, dass Öffentlichkeit und Medien verstehen müssen, was Preprints sind.

    Ein Punkt fehlt völlig: Die wichtige Rolle von Preprints für den „grünen Weg“ zu Open Access. Im Gegensatz zu Zeitschriftenartikeln, die sich noch immer häufig hinter Paywalls befinden und damit z.B. für Forschende in Entwicklungkländern oder niedergelassene Ärzt:innen schwer oder gar nicht zugänglich sind, sind Preprints für alle frei zugänglich.

    1. Mein Eindruck ist, dass die Autor*innen der HIV/COVID19 Studie schon auf die Aufmerksamkeitsökonomie innerhalb der Preprint-Server geschielt haben, als sie den doch wirklich reißerischen Titel ihrer Studie gewählt haben. Diese Server werden dieser Tage mit so vielen Studien überflutet, dass die Frage nach einem catchy Titel zumindest relevanter erscheinen kann als im „Normalbetrieb“.

      Zu Green Open Access: Es gibt hier eine allgemeine Sprachverwirrung rund um Pre-Prints. Was du meinst sind Autor*innen-Versionen von begutachteten Manuskripten. Die werden oft als Preprints bezeichnet, technisch korrekt heißen sie aber „Post-Prints“. Die gelayoutete Version des Verlages heißt „Authors Copy“. Die Dokumente von denen ich im Beitrag spreche sind aber „echte“ Preprints, also unbegutachtete Manuskripte.

      1. Mit den Lebenswissenschaften bin ich zu wenig vertraut, aber auf arXiv (wo ich selbst unzählige Paper veröffentlicht habe) ist es üblich, eine aktualisierte Version des Manuskripts hochzuladen, sobald es akzeptiert wurde (wenn es nicht ohnehin erst nach der Annahme hochgeladen wurde) und nach der Veröffentlichung den DOI der Verlagsversion zu ergänzen, so dass die beiden Versionen (die sich höchstens im Layout unterscheiden) miteinander verknüpft sind (und z.B. über Unpaywall gefunden werden). In Mathematik und Physik (wo je nach Teilgebiet fast 100% der Zeitschriftenatikel vorab auf arXiv hochgeladen werden) ist arXiv essentieller Aspekt des grünen Open Access.

        „Preprint“ heißt im Wortsinn und in meinem Verständnis „vor dem Druck“. arXiv stammt ja aus einer Zeit, als es noch gar keine elektronischen Zeitschriften gab und durch das Setzen, Drucken und Versenden der Zeitschriftenbände Wochen und Monate vergehen konnten, bis ein Artikel bei den Leser:innen war. Ob ein Paper gleich beim Einreichen auf arXiv hochgeladen wird oder erst, nachdem es akzeptiert wurde, liegt im Ermessen der Autor:innen und hält sich geschätzt in etwa die Waage. Aber es scheint, dass andere das stärker trennen und für Biolog:innen nur unbegutachtete Preprints „echte“ Preprints sind… Vielleicht spricht man so wie arXiv selbst am besten von „e-prints“.

  3. Das Problem ist, dass derzeit mit Preprints zu viel Unsinn in der breiten Öffentlichkeit getrieben wird. Daher sollte man den Zugang zu Preprint-Servern auf Personen beschränken, die von der Sache was verstehen, etwa Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsjournalist*innen, und gleichzeitig die Erwartung ausdrücken, dass die Preprints nicht in die breiten Öffentlichkeit zu tragen sind.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.