Attacke auf PressefreiheitSeehofers Nebelkerze

Die aufgeblasene Debatte um eine Kolumne in der taz wird spätestens mit der angekündigten Strafanzeige des Innenministers zu einem Angriff auf die Pressefreiheit. Ihm scheint jedes Mittel recht, um die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt zu beenden. Ein Kommentar.

Die Debatte um Polizeigewalt und Rassismus mit einer Nebelkerze beendet. (Symbolbild) CC-BY-NC-SA 2.0 ۞DLB۞ / agfreiburg / Montage: netzpolitik.org

Vor zwei Wochen demonstrierten Millionen Menschen auf der ganzen Welt und alleine in Deutschland mehr als 150.000 gegen Polizeigewalt und Rassismus. In der Folge begann eine längst überfällige Diskussion über die Missstände der Polizei hierzulande, in der auch die Stimmen schwarzer Expert:innen endlich zu hören waren. Den Polizeigewerkschaften ist nun Hand in Hand mit dem rechten Mob, zusammen mit wie immer unkritischen Polizei-Claqueuren aller Parteien und mit der Hilfe des Innenministers gelungen, diese Debatte über Polizeigewalt und Rassismus umzudrehen.

Denn seit Tagen redet Deutschland nicht mehr über Racial Profiling, institutionellen Rassismus und Polizeigewalt, sondern über die viel bequemere Frage: ob eine polemische Kolumne in der taz nun eine von der Pressefreiheit gedeckte Kritik an der Polizei oder strafbare Volksverhetzung darstellt.

Kalkulierte Drohgebärde

Es ist mittlerweile vollkommen unerheblich, ob man die Polizei-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah in der taz gut oder schlecht fand. Es ist vollkommen egal, ob Innenminister Seehofer nach seiner vollmundigen Ankündigung einer Strafanzeige jetzt doch einen Rückzieher macht. Was bleibt: Der Innenminister schüchtert mit einer kalkulierten Drohgebärde Journalist:innen ein. Der Innenminister attackiert die Pressefreiheit.

Ein Innenminister hat laut Gesetz die Pressefreiheit zu verteidigen, auch wenn ihm ein Artikel missfällt. Wenn Mitglieder der Bundesregierung mit all ihrer Macht und mit der Drohung ihres Apparates juristisch gegen die Presse vorgehen, dann erinnert das an autoritäre Staaten wie Ungarn oder die Türkei. Es ist ein fatales Signal an die Dutertes, die Putins und die Chameneis dieser Welt: „Seht her, auch in Deutschland machen wir das so.“

Gigantische Nebelkerze

Dass ausgerechnet Seehofer beklagt, dass eine Enthemmung der Worte unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten führt, setzt dieser vollkommen eskalierten Debatte die Krone auf. Ausgerechnet jener Seehofer, der sich „bis zur letzten Patrone“ gegen Zuwanderung wehren will und Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet. Dessen Partei letzte Woche im besten Nazi-Style zielscheibenartig zur Hatz auf die taz-Kolumnist:in geblasen hat. Der Seehofer, der dem rechten Mob und ihren Mordbrennern und Schlägern immer schon das diffuse Gefühl gab, ein gehörter Teil der bundesdeutschen Debatte zu sein. Ausgerechnet dieser Seehofer versucht nun der taz-Autor:in die Schuld für die Krawalle in Stuttgart zuzuschieben.

Wir lernen durch die angekündigte Strafanzeige: Dem Innenminister ist fast jedes Mittel recht, um von Problemen in den Sicherheitsbehörden abzulenken. Die Drohgebärden und die Einschüchterung richten sich nicht nur gegen Hengameh Yaghoobifarah und die taz, sondern gegen alle Journalist:innen, die kritisch über die Polizei berichten – und damit gegen die Pressefreiheit insgesamt.

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11 Ergänzungen

  1. …und wieder einmal wird mit zweierlei Maß gemessen. Wenn Politiker sich in den letzten Jahren aus der Rethorik-Kiste der AFD bedient hatten (->Seehofer) hieß es ja auch „das wird man wohl noch sagen dürfen“…

    Ich habe den Taz Artikel als Gesellschaftskritik aus der Perspektive einer Minderheit verstanden, die jegliches Vertrauen in die Institution Polizei verloren hat.
    Hier wird einmal der Spieß mit den Vorurteilen umgedreht.
    So scharf der Ton auch sein mag, er trifft offenbar einen wunden Punkt.
    Denn gerade Berufe in Uniform (Polizei, Bundeswehr) sind ein Sammelbecken für Menschen mit Geltungsbedürfnis und Machtambitionen. Das ist ein strukturelles Problem. Die Menschen, die besonders häufig mit der Polizei in Kontakt kommen, merken das viel eher als Passanten, die den netten Polizisten auf dem Markt nach dem Weg fragen.

    Viele Bürger in Deutschland sehen viele Probleme nicht (oder übersehen sie absichtlich), weil sie selbst nicht davon betroffen sind. Menschen, die von Polizeiwillkür, Gewalt und Diskriminierung betroffen sind haben verständlicherweise die Schnauze voll. Insbesondere da sich, abgesehen von Lippenbekenntnissen und „Wegbeförderungen“ vermutlich auch diesmal nichts strukturell ändern wird. Spätestens nach dem G20 Gipfel 2017 hätte man die Polizei gründlich aufräumen müssen, heute sind alle Verfahren gegen Polizisten im Sand verlaufen.

    Die Kernfrage des Taz Beitrags ist auch berechtigt: selbst falls in Polizei (und Bundeswehr) ein gründlicher „Frühjahrsputz“ vorgenommen würde – was soll man mit den „schwarzen Schafen“ machen? Denn sie sind es gewohnt Macht über Andere auszuüben – eine Eigenschaft die in den meisten Berufen nicht gerade wünschenswert ist. Viel Auswahl bleibt da tatsächlich nicht.

  2. Nicht unerwähnt bleiben sollte dies:

    Die CSU hatte in der vergangenen Woche bereits ein Foto der Autor.in auf Twitter veröffentlicht mit dem Zusatz: „Die hässliche Fratze der hasserfüllten Linken“. Das wirkte wie ein virtueller Pranger. Mittlerweile hat die CSU den Tweet gelöscht und sich für die Form entschuldigt. „Unsere Autor.in wurde so zur Zielscheibe von Hass und Hetze gemacht. Mit seiner angekündigten Anzeige führt Seehofer diesen Kurs fort und setzt Hengameh Yaghoobifarah erneut Bedrohungen aus“, sagt Barbara Junge.

    https://taz.de/Pressefreiheit-in-Deutschland/!5696649/

  3. „Flood the zone with shit“ – von Trump lernen heisst Siegen lernen, denken sich die Konservativen.

  4. Ich hab die Kolumne gestern erst gelesen. Und zuerst ist mir aufgefallen das die Suchmaschine(n) nicht die Kolumne, sondern die Kommentare dazu Prominent plazierten, selbst mit Nennung des Anfangs der Artikelüberschrift. Und beim Lesen ist mir besonders das Hypothetische Konstrukt „wenn die Polizei abgeschafft würde, der Kapitalismus aber nicht“ ins Auge und in Erinnerung geblieben. Und da verstehe ich die Aufregung schon nicht mehr denn das ist doch schon unrealistisch. Ich denke „der Kapitalismus“ wird immer eine Polizei brauchen; z.B. zur Durchsetzung seiner Interessen; warum sollte sie also „abgeschafft“ werden. Und wenn man Kapitalismus als „Arbeit gegen Geld“versteht: Wer würde ohne Kapitalismus noch eine Arbeit bei der Polizei machen wollen. DA blieben dann wohl in der Tat nur noch Machtgeile Menschen übrig. Aber auch da stinkt der Fisch vom Kopfe her. Die Schlimmeren Machtmenschen sind m.E. jene in den sogenannten Spitzenpositionen der Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft. Denn deren Schlechtes Vorbild beeinflußt gleich mal Tausende. Zumindest DAS hat Seehofer Demonstriert. DEN würde ich pers. auch lieber als Müllmann auf einer Deponie werkeln sehen. Wäre auch eine Gute Grundausbildung für jeden „Macht“Menschen. Wer sich mal abmühte den Dreck der anderen Weg zu räumen der sieht die Großen Probleme danach hoffentlich auch etwas Realistischer.

  5. Naja, also ganz ehrlich: Die „Kolumne“ ist schon so sehr daneben, und dass man das hier nicht einmal kurz zugeben kann, find ich schon schwach.
    „Es ist mittlerweile vollkommen unerheblich, ob man die Polizei-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah in der taz gut oder schlecht fand.“ stimmt eben nicht. Das war totaler Schwachsinn und wird zurecht stark kritisiert. So ehrlich muss man zu sich selbst doch sein können.

    Ansonsten habt ihr völlig Recht, was die CSU jetzt macht, ist auch mal wieder völlig daneben. Dass das von der Kritik an teilweise vorhandenen rechten Strukturen in der Polizei ablenken soll, anstatt sich mal auf eine konstruktive Diskussion einzulassen, ist auch klar.

    Die Formulierung „[…] Dessen Partei letzte Woche im besten Nazi-Style zielscheibenartig zur Hatz auf die taz-Kolumnist:in geblasen hat.“ ist aber auch mal wieder übertrieben. Der Tweet ist gelöscht, aber der im verlinkten Artikel zitierte Inhalt ist klar kein Aufruf zur „Hatz“.

  6. > Ihm scheint jedes Mittel recht, …

    so wurde ein zuvor weggeschafftes demoliertes Polizeifahrzeug für einen Pressetermin in Stuttgart wieder aufgestellt, damit sich der liebe Herr Seehofer für die Presse in Szene setzen konnte.

    https://t.co/ZCouiYbMkc

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.