Interview „Iuventa“„Die Diskursverschiebung gegen Seenotrettung hat Menschenleben gekostet“

Crew-Mitgliedern drohen Gefängnis und horrende Geldstrafen: Wer Menschen aus dem Meer rettet, wird überwacht und rechtlich verfolgt. Im Interview sprechen wir mit Hendrik Simon über politische Hürden für Seenotretter, über die Diskursverschiebung und die Schuld der europäischen Regierungen daran und über eine neue Webseite zum Fall des Schiffes „Iuventa“.

Rettung aus Seenot im Mittelmeer. – Alle Rechte vorbehalten Iuventa10

Die Flüchtlingspolitik ist aktuell wegen des verheerenden Brandes im größten Lager der EU im griechischen Moria wieder Tagesthema. Ob diese Katastrophe jedoch eine echte politische Wende einleiten kann, wird erst die Zukunft zeigen. Bezweifelt werden muss das, denn es reihen sich bereits seit Jahren viele kleine und große Katastrophen aneinander.

Viele Menschen hielten kurz inne, als vor fünf Jahren ein Foto durch alle Medien ging: Ein kleiner Junge mit knallrotem Shirt, tot am Strand liegend, das Gesicht im Sand. Er war ertrunken im Mittelmeer und wurde später als Alan Kurdi aus Syrien identifiziert. Vielen krampfte sich der Magen zusammen, weil das Foto mit brachialer Wucht ins Bewusstsein rückte, welche Tragödien sich jeden Tag im Mittelmeer abspielen und welche menschlichen Schicksale hinter den Zahlen der unnötig Ertrunkenen stehen. Aber so groß der Schock bei all jenen war, die nicht völlig abgestumpft sind, so schnell war das kleine tote Kind und das Sterben auf hoher See wieder vergessen. Politisch blieb alles beim Alten.

Manche Menschen finden sich damit nicht ab. Sie zeigen Aktivismus und persönlichen Einsatz gegen den eigentlich unerträglichen politischen Stillstand. Wer sich aber in privaten Organisationen für Seenotrettung engagiert und solche entsetzlichen Dramen zu verhindern sucht, muss strafrechtliche Konsequenzen einiger EU-Staaten fürchten: Nationale Gesetze wurden und werden herangezogen, um gegen Helfer vorzugehen.

=tweet @stephanpalagan
Zwei CSU-Minister setzten die Änderung der Schiffssicherheitsverordnung durch. Das kann man auch „gezielte Sabotage der Seenotrettung“ nennen. - Alle Rechte vorbehalten Stephan Anpalagan

Die EU hat das Mittelmeer bereits seit Jahren lückenlos im Blick. Dazu nutzt die Grenzagentur Frontex ein eigenes Überwachungsnetzwerk und hochauflösende Satellitenbilder. Statt zivile Seenotretter oder Beobachtungsmissionen im Meer technisch und politisch zu unterstützen, verschärfen die europäischen Länder ihre Gesetze zur Grenzabwehr: Italien drohte noch drastischere Strafen an, in Deutschland ist seit März ein Schiffssicherheitszeugnis notwendig, das dazu dient, den Hilfsorganisationen zur Seenotrettung oder zur Beobachtung der Menschenrechtslage die Arbeit schwerzumachen.

Nun ging eine umfängliche Website online, die Vorwürfe und Ermittlungen gegen Seenotretter detailliert beleuchtet und nachzeichnet. Der beschriebene Fall betrifft das Schiff „Iuventa“ der deutschen NGO „Jugend Rettet“, das beschlagnahmt wurde und gegen dessen Crew die italienische Justiz vorgeht. Der Verdacht lautet: Begünstigung illegaler Einwanderung. Die Vorwürfe gegen die Crew der „Iuventa“ sind mit drei Rettungseinsätzen verbunden, die im Herbst 2016 und im Sommer 2017 stattfanden. Die Besatzung und die NGO weisen den Verdacht zurück, mit Menschenhändlern habe man nichts zu schaffen.

Auf Mafia-Fälle spezialisierte Ermittler hatten monatelang die Seenotretter überwacht und auch umfängliche technische Abhöroperationen durchgeführt. Die Ermittlungsakte füllt weit über fünfhundert Seiten. Zu diesen Akten gehören auch die Aufnahmen von Wanzen, die an Bord des Schiffes plaziert worden waren, sowie von den abgehörten Telefonaten der Crew-Mitglieder. Diese Aufzeichnungen machen sogar einen Großteil der Polizeiakten aus.

Amnesty: „Ein Skandal“

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte zum dritten Jahrestag der Beschlagnahme der „Iuventa“ die weltweite Kampagne „Leben retten verboten“ gestartet, um auf die Ermittlungen gegen zehn ehemalige Besatzungsmitglieder hinzuweisen und gegen deren Bestrafung zu protestieren. Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sagte gegenüber netzpolitik.org zu der Soli-Kampagne, dass es um die grundsätzliche Frage gehe, wie wir mit Menschenleben umgehen wollen: „Die Absurdität, Menschen bestrafen zu wollen, weil sie Leben retten, ist vielleicht auch nach den letzten Monaten mit der Corona-Pandemie nochmal offensichtlicher geworden. Mich freut auch, dass sich soviele ‚Helden des Alltags‘, Menschen, die als Ärzt_innen, Sanitäter_innen oder Feuerwehrleute täglich Menschen retten, mit der Iuventa-Crew solidarisiert haben.“ Die Tatsache, dass Seenotretter in Europa überwacht und strafrechtlich verfolgt würden, sei „ein Skandal, und als solcher sollten wir alle ihn thematisieren – ob zu Hause, mit Freunden, in den Medien“.

screenshot amnesty-kampagne
Die Kampagne „Leben retten verboten“ setzt sich dafür ein, die Anschuldigungen fallenzulassen. - Alle Rechte vorbehalten Amnesty International

Die Crew der „Iuventa“, die auf ehrenamtlicher Basis arbeitete, konnte im Mittelmeer mehr als 14.000 Menschen vor dem Ertrinken retten. Dass mutiges zivilgesellschaftliches Handeln wie die Seenotrettung – auch durch deutsche Spitzenpolitiker – in eine kriminelle Ecke gestellt wird, dürfe nicht widerspruchslos hingenommen werden, betont Beeko: „Ich denke, wir alle sind gefordert zu widersprechen, wenn argumentiert wird, dass man Frauen, Männer und Kinder nicht vor dem Tod retten soll, damit nicht weitere Menschen die gefährliche Überfahrt wagen.“ Sie flöhen vor Gewalt, Misshandlung oder Menschenhandel, etwa in Libyen. „Regierungsverantwortliche, die so argumentieren, lassen nicht nur elementare menschliche Verantwortung vermissen, sondern verletzen ihren im Grundgesetz verankerten Auftrag“, so Beeko weiter.

Allein dieses Jahr wurden im Mittelmeer nach Schätzungen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge knapp fünfhundert flüchtende Menschen als tot oder vermisst gemeldet. Für das Jahr 2019 geht das UNHCR von 1.041 Menschen (pdf) aus, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen sind oder vermisst werden. Mit Blick auf die Diskussion um Rassismus und die Bewegung „Black Lives Matter“ sagt Amnesty-Generalsekretär Beeko, dass wir uns alle in der öffentlichen Debatte von einem Grundsatz leiten lassen sollten: „Es kann nicht sein, dass wir Menschen im Meer ertrinken oder in der Wüste verdursten lassen, weil sie Schwarze sind oder weil ihnen ihre Flucht aus Syrien oder Afghanistan nur mit Hilfe von kriminellen Schlepperbanden gelingt. Leben muss gerettet werden – ohne Ansehen der Person oder ihres Flucht- oder Migrationsgrundes.“


Foto Hendrik Simon
Hendrik Simon (hinten) beim Einsatz im Mittelmeer. Foto: Iuventa10.

Wir sprechen über den Fall der „Iuventa“, über die Wanzen, die Spione und die Ermittlungen gegen die Crew, aber auch über die Medienarbeit nach der Beschlagnahme und über die Diskursverschiebung beim Thema Seenotrettung mit Hendrik Simon, der zur Besatzung des Rettungsschiffes gehörte.

Das Interview haben wir kurz vor dem Brand in Moria aufgezeichnet. Dort wird aktuell dringend um Hilfe gebeten, um die Menschen auf Lesbos direkt zu unterstützen. Wenn möglich, helft ihnen bitte!

Zwanzig Jahre Haft für Seenotrettung?

netzpolitik.org: Du gehörtest zur Crew des Rettungsschiffes „Iuventa“. Wofür droht Euch Gefängnis, was ist der Vorwurf?

Hendrik Simon: Der Vorwurf lautet: Beihilfe zu illegalen Einreise. Dafür drohen uns bis zu zwanzig Jahre Haft und eine horrende Geldstrafe. Uns wird vorgeworfen, Menschen nach Italien gebracht und dabei italienisches Recht gebrochen zu haben. Das ist in vielerlei Hinsicht absurd, da wir die Menschen zunächst aus Seenot gerettet und dann anderen Schiffen übergeben haben, die sie nach Italien gebracht haben. Unser Schiff war überhaupt nicht in der Lage, die Menschen bis nach Italien zu transportieren. Dafür war es viel zu klein.

Wir waren – wenn man das so sagen will – Ersthelfer. Wir haben die Boote in Seenot gesucht und gefunden und die Situation zunächst stabilisiert, Verletzte versorgt und behandelt und dann auf Hilfe gewartet, die uns von der koordinierenden Behörde geschickt wurde. Das war zu der Zeit die Seenotrettungsleitstelle in Rom (MRCC). Wir haben also nichts weiter gemacht, als geltendes Recht umzusetzen, denn im Seerecht steht klipp und klar, dass es eine Pflicht ist, Menschen in Seenot zu retten.

Und danach greift dann das Völkerrecht: Das verbietet, Menschen, die fliehen, wieder in das Land zurückzuschicken, aus dem sie geflohen sind, oder in ein anderes zu schicken, in dem ihnen Folter, Verfolgung oder ähnliches droht. Der nächste sichere Ort ist also Italien oder Malta. Alle unsere Rettungen sind von der Seenotrettungsleitstelle in Rom koordiniert worden.

die Iuventa, Foto von Kenny Karpov
Die „Iuventa“. - Alle Rechte vorbehalten Kenny Karpov

netzpolitik.org: Die „Iuventa“ wurde damals von italienischen Staatsanwälten „präventiv“ beschlagnahmt. Wie muss man sich das praktisch vorstellen bei einem großen Meeresschiff?

Hendrik Simon: Das Schiff wurde mit einem Trick nach Lampedusa gelockt. Als es dann in italienische Hoheitsgewässer eingefahren war, wurde es von der Küstenwache umzingelt und mit Blaulicht in den Hafen Lampedusas begleitet. Es war nachts, viele Journalist*innen standen an Land mit Foto- und Filmkameras, damit der Effekt besonders gut rüberkommt. Das war eigentlich unnötig, weil die Iuventa sowieso nach Lampedusa gefahren wäre, aber ist natürlich ein schöner Effekt, wenn man uns in ein negatives Licht stellen will.

Das Schiff wurde dann beschlagnahmt und von Mitarbeiter*innen der Küstenwache nach Trapani auf Sizilien gefahren, wo es bis heute liegt. Dort laufen auch die Ermittlungen gegen uns.

netzpolitik.org: Woher wussten diese Journalisten und Journalistinnen, dass es zu einer fotowürdigen Blaulichtaktion kommen würde?

Hendrik Simon: Die italienische Presse war offensichtlich zuvor aus Behördenkreisen informiert worden. Sie hatten Auszüge aus dem Beschlagnahmungsbeschluss, noch bevor das Schiff im Hafen war. Wir wurden lange im Unklaren darüber gelassen, was eigentlich passiert, und es hieß immer, es sei eine Routinekontrolle. Währenddessen zitierten italienische Medien bereits aus dem Beschluss zur Beschlagnahmung, hatten von der Polizei offenischtlich aus dem Kontext gerissene und falsch beschriftete Bilder und sogar Audioaufnahmen von der Brücke der Iuventa, die zuvor verwanzt worden war. Außerdem berichteten uns Einwohner*innen von Lampedusa von einem regen Flugverkehr am Tag zuvor, weil die ganzen Journalist*innen und Polizist*innen natürlich irgendwie auf diese kleine Insel gebracht werden mussten.

netzpolitik.org: Wie kam die Staatsanwaltschaft denn an die Audio-Dateien von der Brücke?

Hendrik Simon: Die Brücke der Iuventa wurde im Mai 2017 verwanzt. Schon damals wurde die Iuventa mit einem Trick nach Lampedusa beordert. Ich hatte bereits gesagt, dass wir eigentlich keine Menschen nach Italien transportiert haben, weil das Schiff zu klein war. Die Rettungen wurden von der Seenotrettungsleitstelle in Rom koordiniert. Wir hatten im Mai bei einer Rettung knapp zweihundert Menschen an Bord und waren gerade dabei, sie auf ein größeres Schiff zu transportieren, als uns befohlen wurde, die letzten zwanzig Menschen selber nach Lampedusa zu bringen. Das gab es so noch nie, zumal wir aus einem laufenden Einsatz rausbeordert wurden.

Wir hatten zu dem Zeitpunkt allerdings eine gute Zusammenarbeit mit den Behörden und haben da erstmal drauf vertraut. Wir sind dann nach Lampedusa gefahren. Dort wurde dann offensichtlich die Brücke verwanzt.

Einerseits kriminalisiert, andererseits geehrt: Die Crew der „Iuventa“ erhält 2019 den Paul-Grüninger-Preis. - Alle Rechte vorbehalten Kai von Kotze

netzpolitik.org: Als im September 2017 ein sizilianisches Gericht die Freigabe des Schiffes ablehnte, tickerten die Presseagenturen, Eure Hilfsorganisation sehe sich als „Opfer einer politischen Kampagne“. Wie ist Deine Einschätzung dazu heute, drei Jahre später?

Hendrik Simon: Absolut genauso. Die Iuventa war das erste Schiff, das beschlagnahmt wurde, und wo von den Behörden ausprobiert wurde, was geht. Das war ja noch unter der italienischen Mitte-Links-Regierung, wenn man die Sozialdemokraten links nennen will, also bevor Matteo Salvini Innenminister wurde. Der damalige Innenminister Marco Minniti hat gemeinsam mit vielen anderen hochrangigen Politikern aus der EU, beispielsweise Thomas de Maizière aus Deutschland und Sebastian Kurz aus Österreich, massiv Stimmung gegen die NGOs gemacht. Und mit der Iuventa haben sie das schwächste Glied in der Kette ausgesucht, nämlich ohne eine große Organisation im Hintergrund, um hier ihre Maßnahmen auszuprobieren.

Wie die Arbeit der Seenotretter öffentlich verunglimpft wird

netzpolitik.org: Dieser eben erwähnte damalige Oppositionspolitiker und spätere Innenminister von Italien, Matteo Salvini, soll sich höchstpersönlich dafür eingesetzt haben, die Crew der „Iuventa“ auszuspionieren. Er soll mit einem Spion an Bord sogar direkt kommuniziert haben. Ist diese Behauptung, die der Spion selbst erhoben hat, glaubwürdig?

Hendrik Simon: Die Ermittlungen gegen uns wurden angestoßen durch Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes an Bord eines anderen NGO-Schiffes. Die standen zum Teil rechtsextremen Parteien nahe und waren von einer Reederei engagiert worden, um an Bord eines gecharterten NGO-Schiffes für die Sicherheit zu sorgen. Sie waren teilweise an Einsätzen beteiligt, wo wir auch vor Ort waren, und haben Beobachtungen gemacht, von denen sie dachten, das sieht irgendwie komisch aus. Sie vermuteten eine Zusammenarbeit mit Schmugglern. Das haben sie dann dem italienischen Geheimdienst, Salvini und der Fünf-Sterne-Bewegung berichtet. Daraufhin hat Salvini sie beauftragt, für ihn zu spionieren. Sie haben ihm über Monate hinweg Details aus der NGO-Arbeit geliefert, die offensichtlich nichts Brisantes enthielten, denn das wurde nie irgendwo verwendet. Die „Zeit“ hat einen dieser Mitarbeiter letztes Jahr interviewt. Er hat alles widerrufen, was er damals behauptet hat – viel zu spät leider.

netzpolitik.org: Salvini ist ja nur ein Beispiel von Spitzenpolitikern, die daran mitgewirkt haben, die Arbeit der Seenotretter öffentlich zu verunglimpfen und zu kriminalisieren. Politiker bis hin zu Ministern in anderen Ländern hast Du genannt, die ähnlich argumentiert haben. In welcher Weise hat sich das öffentliche Bild der Seenotrettung in den letzten Jahren gewandelt?

Hendrik Simon: Als wir im Jahr 2015 angefangen haben, wurden wir sehr positiv gesehen: zivilgesellschaftliches Handeln, da wo Europa versagt, so wurden wir portraitiert. Das ist natürlich kein Versagen im Wortsinn, sondern bewusstes Handeln der europäischen Regierungen.

tweet @HoseBurkhard
Die Normalisierung des Unerträglichen.

Das Bild änderte sich, als Ende 2016 die ersten (fälschlichen) Berichte vor allem aus der Ecke der sogenannten Identitären auftauchten: Wir würden mit Schleppern kooperieren und andere Falschbehauptungen. Dieser Verdacht wurde schnell auch von Fabrice Leggeri geäußert, dem Direktor der europäischen Abschottungsagentur Frontex. Auf diese Weise hat es die Behauptung bis in die Financial Times geschafft. Diese Gerüchte – und es waren immer nur Behauptungen und Andeutungen, Beweise gibt es bis heute nicht – wurden von Politiker*innen aufgegriffen, die in den Medien einen ganz anderen Stellenwert haben als irgendwelche Nazis. So wurde immer wieder mitberichtet, dass unsere Einsätze auch kritisiert würden oder umstritten seien. Diese Diskursverschiebung hat das Bild der zivilen Seenotrettung deutlich negativer gemacht, unsere Arbeit massiv erschwert und so am Ende Menschenleben gekostet. Die Beschlagnahme der Iuventa war ein Puzzleteil in dieser Diskursverschiebung.

netzpolitik.org: Wenn man diese Diskursverschiebung als bewusstes Handeln der europäischen Regierungen versteht, was heißt das für die Rettungsschiffe, die derzeit auf dem Meer sind?

Hendrik Simon: Das Ergebnis sehen wir eigentlich bereits seit Herbst 2017: Es sind deutlich weniger Rettungsschiffe unterwegs, viele wurden unter vorgeschobenen Gründen beschlagnahmt, Menschen sterben. NGO-Schiffe suchen tage- und teils wochenlang nach einem sicheren Hafen, es gibt immer wieder kritische Situationen an Bord, weil die Menschen verzweifelt sind.

Noch schlimmer trifft es aktuell aber die kommerzielle Seefahrt. An der „Maersk Etienne“ wird gerade ein Exempel statuert, das allen Kapitän*innen zeigen soll: Rettet bloß keine Menschen mit dem falschen Pass. Seit mittlerweile fast fünf Wochen liegt das Schiff vor Malta und hat Geflüchtete an Bord, ohne dass sie einen sicheren Hafen zugewiesen bekommen. Es sind bereits verzweifelte Migrant*innen über Bord gesprungen, weil sie die Crew nicht weiter belasten wollten. Zum Glück wurden sie gerettet. Dabei hat das Schiff sogar auf Anweisung von Malta gehandelt. Die Nachricht ist klar: Wer rettet, hat ein Problem!

Kontinuierliche Medienarbeit

netzpolitik.org: Nicht in allen Ländern Europas, aus denen Crew-Mitglieder kommen, ist die Reaktion der Öffentlichkeit gleich. Was für Feedback hast Du als Deutscher erhalten?

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Das rechtliche Vorgehen gegen die „Iuventa“ war in Deutschland immer wieder Nachrichtenthema. - Alle Rechte vorbehalten ARD-tagesschau

Hendrik Simon: Wir hatten hier nach anfänglicher Skepsis doch ein sehr positives Echo. Zunächst hat die Erzählung der italienischen Medien dominiert: Wir hätten gegen das Gesetz verstoßen. Diese Erzählung war sehr gut vorbereitet und traf uns völlig unvorbereitet. Das haben wir in mühsamer kontinuierlicher Medienarbeit ganz gut in den Griff bekommen. Vor allem auch mit der Bewegung Seebrücke haben wir es geschafft, das Bild der zivilen Seenotrettung wieder in ein besseres Licht zu rücken.

Einer von uns zehn Crew-Mitgliedern kommt aber beispielsweise aus Portugal. Dort stehen wirklich alle Parteien hinter ihm, sogar der Präsident hat ihn angerufen und gefragt, ob er etwas für ihn tun kann. Er hat dann auch seinen italienischen Amtskollegen angerufen und gesagt, dass das so nicht ginge, Menschen wegen Seenotrettung vor Gericht zu stellen. Konsequenzen hatte das bisher aber nicht.

netzpolitik.org: Was bedeutet kontinuierliche Medienarbeit, wenn sich der Fall wie bei Euch jahrelang hinzieht? Gibt es noch Medieninteresse? Welche Kanäle nutzt ihr, um Interessierte direkt zu informieren?

Hendrik Simon: Kontinuierliche Medienarbeit heißt zum einen wenig Zeit für anderes: Interviews geben, Vorträge halten, Anlässe finden, die berichtenswert sind. So funktionieren Medien ja leider, dass es immer einen aktuellen Aufhänger geben muss. Wir haben eine Webseite erstellt: iuventa10.org, wo wir gerade erst eine lange Einordnung unseres Falls publiziert haben. Wir haben bereits 2017 mit dem Forscher*innenteam von „Forensic Architecture“ unseren Fall analysiert und alle gegen uns erhobenen Vorwürfe widerlegt. Und es heißt eben auch Spenden sammeln, denn so ein Prozess und die zugehörige kontinuierliche Pressearbeit kostet eben auch Geld.

Wie kann man sich engagieren?

netzpolitik.org: Wenn sich wie eben schon angesprochen die Reaktion der Zivilgesellschaft Europas auf Hilfsorganisationen für die Seenotrettung verändert hat, dann mal ganz konkret gefragt: Reichen heute die Spenden, um die Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren? Du sprachst vorhin auch von einer „horrenden Geldstrafe“, die Euch droht. Wie kann man Euch finanziell unterstützen?

Hendrik Simon: Natürlich wird immer Geld gebraucht, und einige Organisationen konnten zuletzt nicht auslaufen, weil Geld fehlte, das dann erst organisiert werden musste. Durch die Kritik an der Seenotrettung von Seiten der Politik sind einerseits die Spenden schon eingebrochen. Das Problem im Moment sind aber vor allem auch politische Hürden. Staaten wie Deutschland und die Niederlande ändern Gesetze, um Registrierungen von Schiffen für die Seenotrettung massiv zu erschweren. Italien beschlagnahmt Schiffe mit fadenscheinigen Begründungen.

Andererseits haben wir aber nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen uns – das war ja erst ein Jahr nach der Beschlagnahmung – auch wahnsinnig viel Unterstützung bekommen. Wir sind damals direkt an die Öffentlichkeit gegangen. Ich finde nach wie vor, das war das Beste, was wir tun konnten: die ganze Geschichte offensiv anzugehen, uns nicht zu verstecken, sondern rauszugehen und unsere Geschichte zu erzählen!

netzpolitik.org: Jenseits von Geldspenden: Wie kann man sich engagieren, wenn man sonst noch helfen möchte, aber vielleicht kein Geld hat und selber auch nicht hochseetauglich ist?

Hendrik Simon: Es gibt wahnsinnig viel, was an Land getan werden kann. Seenotrettung ist ja nur ein ganz kleiner Teil der Arbeit. Viele Menschen, die es geschafft haben, brauchen Unterstützung. Migrant*innen sind nach wie vor diejenigen, die am stärksten verfolgt werden und auch regelmäßig in den Knast wandern – im Gegensatz zu NGO-Mitarbeiter*innen mit europäischem Pass.

Guckt euch in eurer Stadt, auf eurem Dorf um. Es gibt Seebrücke-Gruppen, in denen man sich engagieren kann, es gibt migrantische Gruppen, die Unterstützung brauchen. Geht hin, hört zu und helft da, wo ihr könnt! Und lasst Idioten nicht unkommentiert Quatsch erzählen. Mischt euch in Diksussionen ein – online und abseits der Tastatur!

netzpolitik.org: Eure Website hast Du eben schon erwähnt. Ihr habt den Fall mit sehr vielen Details und mit aussagekräftiger Bebilderung zu den Vorwürfen und deren Widerlegung gerade online gestellt. Dazu gehören auch Video- und Audiodaten und Seekarten, die eine Einschätzung der Vorwürfe ermöglichen. Warum ist diese ausführliche Dokumentation des Falles erst jetzt veröffentlicht worden?

Hendrik Simon: Weil es wahnsinnig viel Arbeit war. Wir hätten sie gern schon viel früher veröffentlicht, aber wir haben alle auch Jobs und hatten nebenbei auch viel damit zu tun, erstmal die Rahmenbedingungen zu schaffen, um in Ruhe auf den Prozess hinarbeiten zu können: also Geld zu sammeln, um die Anwält*innen in Italien zu bezahlen, und alle möglichen Orga-Tätigkeiten. Jetzt war dann endlich mal die Zeit da, die wir genutzt haben, um die Seite über unseren Fall endlich fertigzustellen. Uns war es wichtig, dass wir unsere Version der Geschichte in eigenen Worten erzählen und nicht immer nur andere über uns schreiben lassen.

netzpolitik.org: Vielen Dank für Deine Zeit und das Interview!

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7 Ergänzungen

  1. In Deutschland droht Bürgern eine Strafe bei unterlassener Hilfeleistung oder wenn sie auf der Autobahn keine Rettungsgasse bilden. Im Mittelmeer ist das Unterlassen von Hilfe und aktive Verhindern von Rettung in den Augen der Regierung auf einmal duldbar.

    Der Tod von ein paar hundert deutschen Flüchtlingen damals an der innerdeutschen Grenze ist eine große Tragödie – dass tausende Flüchtlinge im Mittelmeer sterben oder an der EU Grenze fürchten müssen erschossen zu werden – das geht uns ja nichts an, schließlich sind es ja keine Deutschen.
    Es ist abscheulich, dass Menschenrechte offenbar Auslegungssache sind. Die Schuld an den Menschenrechtsverstößen schiebt man einfach auf Drittländer, die Flüchtlinge aufhalten sollen, bevor sie überhaupt nach Europa kommen. Beispiel Libyen: https://www.proasyl.de/news/der-menschenverachtende-deal-der-eu-mit-libyen/
    Welche verstörenden Zustände durch dieses Handeln der „zivilisierten Welt“ stillschweigend hingenommen (und auch finanziert) werden, wird eindrücklich in der Dokumentation „Reise durch die Hölle“ vom ZDF belegt https://www.merkur.de/politik/reise-durch-hoelle-zdf-doku-zeigt-schlimme-situation-von-fluechtlingen-in-libyen-zr-12849146.html

    Es ist logisch, dass Europa nicht alle Menschen, die in Afrika leben aufnehmen kann. Allerdings haben wir die moralische Verpflichtung sicherzustellen, dass keine Menschenrechte verletzt werden, nur damit wir uns nicht mit dem Thema auseinandersetzen müssen.
    Die einzige Lösung ist die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen vor Ort – doch die dürftige Entwicklungshilfe greift da viel zu kurz – nennenswertes Engagement der westlichen Länder ist praktisch immer an ökonomische Interessen gekoppelt, die Erfolge der Entwicklungsarbeit zunichte machen.
    Solange die westliche Welt die Fluchtursachen nicht ernsthaft (!) bekämpft und den Menschen eine Perspektive gibt, solange kann keinem Menschen vorgeworfen werden, nach Europa fliehen zu wollen. Zumal der Westen durch Ausbeutung, Kriege und Umweltverschmutzung/Zerstörung wesentlich für diese Ursachen verantwortlich ist.

    1. @ ap
      In Deutschland herrscht bereits ein 2-Klasssen-Recht. Bei Verkehrsübertretungen, Corona Abstandverletzungen, Fotografien von Kindern werden empfindliche Strafen oder Bußgelder verhängt. Die treffen aber nur Menschen, die Führerschein, Einkommen, Vermögen und soziales Ansehen haben, also meist Deutsche. Wer dies nicht hat, muss vom deutschen Staat nur dann Sanktionen fürchten, wenn er so dumm war, sich nach Raub, Mord oder Totschlag zu erkennen zu geben. Insofern nähert sich Deutschland den korrupten Staaten an, aus denen dien Menschen fliehen – um in Deutschland bzw. Europa ihre Menschenrechte genießen zu können.

      Die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den betreffenden Flucht-Ländern ist nicht allein mit Entwicklungshilfe zu gewährleisten. Das haben wir in den vergangenen 50 Jahren immer wieder erfahren. müssen. Notwenig ist eine Kombination von militärischen und poltischen Maßnahmen. Dazu müssen die dort herrschende Korruption und Menschenrechtsverletzungen von einer internationalen Polizei mit Zwangsmassnahmen beendet werden. Wer fordert, die Fluchtursachen zu beseitigen, muss polizeilichen Zwang akzeptieren.

      Uns nein, wir haben keine moralische Verpflichtung, die Menschenrechte auf der ganzen Welt durchzusetzen! Wir müssen sie nur in unserem Machtbereich gewährleisten.

    2. Naja moralisch…

      es ist eigentlich eine existentielle Aufgabe, keine Abgehängten zu erzeugen, bzw. genügend Durchlässigkeit und Fluktuation herzustellen. Das funktionierende auf Sklavenhaltung basierende System ist ein Märchen.

      Das kann man im Moment vielleicht nicht mathematisch beweisen, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit größer dass die Menschheit ausstirbt, bevor eine theoretische Lösung überhaupt auch nur in angemessener Weise versucht wurde, als dass es der Menschheit schlechter geht, wenn sie auf Kooperation setzt, unter der Annahme dass die derzeitige vorherrschende Richtung auf jeden Fall mit globalem Selbstmord gleichzusetzen ist. Wohl zu Teilen ein erweiterter Selbstmord, aber dennoch…

      Das ist aber das bestimmende Problem, dass Machttragenden der Blick auf die Menschheit irgendwie fehlt. Wir sind konzeptionell bei Oligarchen und Monarchen, Psychopathen und eigentlich schon recht konkretem Massenmord.

  2. Die behauptete „Diskursverschiebung“ beginnt schon damit, dass man Seenotrettung mit politischen Zielen auflädt:

    Seenotrettung war ursprünglich die Pflicht, Havaristen an Bord zu nehmen und im nächsten Hafen (1) an Land zu bringen. In der SOLAS-Verordnung wurde daraus ein „sicherer Hafen“ (2). Darunter wird nunmehr ein Hafen verstanden, in denen die Geretteten keinen Repressalien ausgesetzt sind. Als frei von Repressalien versteht man im Wesentlichen (3) rechtsstaatlich verfasste Länder, die die (im Wesentlichen) Menschenrechte achten, Asylrecht und Rechtsschutz gewähren. Da bleibt nur noch Europa, Kanada, und wer noch?

    Diese Art der Rechtsanwendung gibt jedem in Seenot geratenen das quasi-Recht, nach Europa zu immigrieren. Und das wiederum verleitet viele, sich bewusst auf seeuntüchtige Schiffe einzulassen, mit denen sie dann den Seenotfall provozieren, um gerettet zu werden. Und diese wenigen Länder müssen dann alle Menschen vom Rest der Welt aufnehmen, was sie ganz offensichtlich politisch, finanziell und integrativ überlastet.

    Wer also über Diskursverschiebung schreibt, sollte zunächst mal zwischen Seenot und Flucht unterscheiden.

    1. Seenot ist Seenot. Dass es fahrlässig oder durch falsche Versprechen herbeigeführt worden sein mag, ist dabei IRRELEVANT.

      Was einen Asylantrag betrifft, da kann man anfangen zu hinterfragen, wen wir auf welche Weise nehmen wollen. Z.B. könnten wir Flüchtlinge aus den Nachbarländern von Katstrophenregionen klauen und hierherverfrachten, währende diejenigen die selbst vorbei kommen, aus Prinzip wieder in jene Nachbarländer zurückgeschickt werden. Dafür baut die EU FUNKTIONIERENDE Flüchtlingslager und sorgt für IT-gestützte Bildungs möglichkeiten hier wie dort vor Ort. Juntas werden dekapitiert oder aggressiv isoliert, nicht dass da Mißverständnisse mit den Lagern aufkommen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.