Gesundheitsämter in der Corona-KriseEin unvollständiges Bild

Die Politik schränkt Grundrechte ein, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Ob die Maßnahmen erfolgreich sind, können zunächst nur die Fallzahlen zeigen. Doch Recherchen zeigen, dass deren Zuverlässigkeit deutlich abnimmt.

Der Aufwand, der betrieben wird, um Meldungen von Laboren und Ärzt:innen auszuwerten, ist enorm. Meist gehen sie bei den Ämtern per Fax ein.
Der Aufwand, der betrieben wird, um Meldungen von Laboren und Ärzt:innen auszuwerten, ist enorm. Meist gehen sie bei den Ämtern per Fax ein. CC-BY 2.0 Abhisek Sarda

Das öffentliche Leben in Deutschland ist seit Tagen weitgehend lahmgelegt, um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen. Zu den Maßnahmen zählen auch dramatische Eingriffe in die Grundrechte, etwa die Ausgangsbeschränkungen. Ob sie den erhofften Effekt haben, können zunächst nur die Zahlen der Neuinfektionen zeigen. Doch wie verlässlich diese in den kommenden Wochen und Monaten sein werden, ist fraglich. Nach Recherchen von netzpolitik.org beklagen Gesundheitsämter im ganzen Land Probleme, die ihnen die Arbeit unnötig erschweren.

Wer am Sonntag einen Blick auf die deutschen Fallzahlen warf, konnte beinahe den Eindruck gewinnen, das Schlimmste sei bereits überstanden. Am selben Tag trat Angela Merkel vor die Presse und erklärte: „Wir reduzieren weiter konsequent das öffentliche Leben und soziale Kontakte.“

Man muss davon ausgehen, dass die Bundeskanzlerin dabei schon keine validen bundesweiten Angaben zur Verbreitung des Coronavirus mehr hatte. Denn offenbar gab es die zu jenem Zeitpunkt nicht. Das Robert Koch-Institut (RKI) teilte mit, nicht alle Gesundheitsämter hätten am Wochenende Daten übermittelt, weshalb die Zahl der neu gemeldeten Fälle nicht dem tatsächlichen Anstieg entsprochen habe. Erst zu Beginn der Woche sollten die übrigen bekannten Infektionen nachgetragen werden.

Die Menge der Meldungen sind ein wesentliches Problem

Diese Verzögerungen sind kein Zufall, im Gegenteil: Mancherorts entsprechen sie augenscheinlich einem System. Deutlich machen das Stichproben. Eine Sprecherin der Stadt Magdeburg beispielsweise führt auf Anfrage eine Regelung an, die für Sachsen-Anhalt gelte. In dem Bundesland werden übers Wochenende bekanntgewordene Neuinfektionen grundsätzlich erst am Montag übermittelt. Für Schwerin galt das bislang ebenso, immerhin kündigt die Stadt ein Umdenken an. Von nun an sollen dort neue Fälle auch an den Wochenenden weitergeleitet werden.

Andernorts geschieht das bereits. In Gesundheitsämtern in Hannover oder Saarbrücken herrscht Schichtbetrieb, die Mitarbeiter:innen sind ständig im Einsatz. Personal aus anderen Abteilungen wurde abgezogen, um die Meldungsflut bewältigen zu können. In München, wo mehr als 1500 Infektionen bekannt sind, bearbeiten nach Angaben des zuständigen Referats rund 200 Personen eingehende Fälle. Deutlich wird, dass die zuverlässige Übermittlung aktueller Zahlen bald auf der Kippe stehen könnte.

Bremen hat mit der Erfassung und Recherche neuer COVID-19-Fälle derzeit acht Mitarbeiter:innen betraut. Ein Sprecher der Senatorin für Gesundheit äußert gegenüber netzpolitik.org Befürchtungen. Mit etwa 200 Infektionen wurden dort so wenige festgestellt wie in keinem anderen Bundesland. „Bei höheren Fallzahlen würde es vermutlich zu Zeitverzögerungen kommen und eine taggleiche Meldung an das RKI könnte nicht mehr gewährleistet werden.“

Die Hamburger Gesundheitsbehörde hält die Menge der eingehenden Meldungen schon heute für ein wesentliches Problem. Auch die Funktionsweise der Meldekette spielt dabei offenbar eine Rolle.

Gesundheitsämter werten von Hand Tausende Faxe aus – jeden Tag

Das Infektionsschutzgesetz schreibt vor, wie Meldungen abzulaufen haben. Stellt ein Labor anhand einer Probe fest, dass sich ein Patient mit dem Coronavirus infiziert hat, teilt es das Ergebnis dem örtlichen Gesundheitsamt mit. Dazu nutzt es ein vorgefertigtes Meldeformular, das es üblicherweise per Fax verschickt. Zudem informiert das Labor die für den Patienten zuständige Ärztin. Sie soll die Meldung etwa durch Kontaktdaten des Betroffenen ergänzen und sie ebenfalls an das Gesundheitsamt übermitteln. Recherchen zeigen, dass auch dies meist per Fax passiert.

Das Gesundheitsamt wiederum pseudonymisiert die Daten und meldet die Fälle schließlich gesammelt weiter – zum einen an die obere Gesundheitsbehörde auf Landesebene, zum anderen direkt an das Robert Koch-Institut. Letzteres geschieht einheitlich über eine technische Schnittstelle, wodurch das RKI die Daten maschinell weiterverarbeiten kann. Doch möglich ist das nur, weil Gesundheitsämter zuvor täglich Tausende neue Meldungen aufbereiten – von Hand.

Lediglich München teilt mit, IT-Optimierungen immerhin zu prüfen. In ganz Deutschland sitzen dieser Tage Menschen vor Computern und werten Faxe aus, mitunter auch E-Mails oder Telefongespräche. Ein gigantischer Aufwand, der noch durch zusätzliche Faktoren erschwert wird.

Warum sind die Meldungen der Ärzt:innen häufig unvollständig?

In Bremen rufe die Behörde selbst alle COVID-19-Erkrankten an und befrage sie, so der Sprecher der Senatorin für Gesundheit. Wer nicht abnehme, werde angeschrieben und um Rückmeldung gebeten. Häufig seien die von den Hausärzt:innen übermittelten Angaben jedoch unvollständig. Ein Hindernis, das auch Gesundheitsämter in München, Hamburg oder Saarbrücken beklagen. Eigene Mitarbeiter:innen müssen dann recherchieren, was zusätzlich Zeit kostet.

Eigentlich gibt es auch für Ärzt:innen ein vorgefertigtes Formular. Es ist dasselbe Dokument, das auch für alle anderen meldepflichtigen Krankheiten ausgefüllt werden soll. Das RKI bietet es auf seiner Website als Mustervorschlag zum Download an. Darauf finden sich Ankreuzfelder für Cholera, Tuberkulose, die Pest. COVID-19 steht nicht dabei, der Meldebogen ist fast vier Jahre alt.

Sibylle Katzenstein nutzt ihn nicht – um Zeit zu sparen, wie die Berliner Hausärztin sagt. Er sei zu kompliziert. Rund 40 Coronavirus-Verdachten ist sie nach eigenen Angaben bis zu diesem Montag nachgegangen, in vier Fällen waren ihre Patient:innen infiziert. Nur wenige Hausärzt:innen nehmen Abstriche selbst, aber Katzenstein hat Vorkehrungen getroffen und dafür ihre Praxis umgebaut.

Trotz Pandemie gibt es kein spezielles Meldeformular für COVID-19

Wenn sie einen neuen Positivbefund erhält, schreibt sie die Kontaktdaten des Patienten sowie die Symptome und deren Beginn gleich auf den Laborbogen. Dann faxt sie ihn ans Gesundheitsamt. „Ich wünsche mir ein einfacheres Formular, auf das Coronavirus bezogen, mit allen wichtigen Angaben“, sagt sie. Zu jenen gehört ihrer Ansicht nach auch, mit wem der Patient Kontakt hatte.

Katzenstein hätte auch „nichts dagegen“, Negativbefunde weiterzuleiten, falls diese epidemiologisch wichtig sind. Begrüßen würde dies wohl auch manches Gesundheitsamt. Die fehlenden Informationen über Negativbefunde erschwerten die Übersichtlichkeit, heißt es etwa aus Schwerin. Die Fallzahlen haben noch eine weitere Lücke, die womöglich noch größer werden wird.

Sie hängt mit den Kriterien zusammen, die erfüllt werden müssen, damit ein Patient überhaupt auf das Coronavirus getestet wird. Festgehalten sind sie in einem Flussdiagramm des RKI, das Ärzt:innen zur Verfügung gestellt wird – als „Orientierungshilfe“. Katzenstein sagt am Montag, man könne es in dieser Form nicht befolgen.

Nur wer hohe Anforderungen erfüllt, soll überhaupt noch getestet werden

Getestet werden demnach nur Patient:innen, die Kontakt hatten mit einer infizierten Person oder hohes Fieber beziehungsweise massive Atemnot haben, wie der Münchner Hausarzt Basil Bustami erklärt. Seit dem Ausbruch des Coronavirus in Bayern fährt er zu Patient:innen und nimmt Abstriche, damit Infizierte nicht selbst die Arztpraxen betreten.

Zunächst gab es noch ein weiteres Kriterium: Auch diejenigen, die aus einem sogenannten Risikogebiet zurückkehrten, sollten getestet werden. Am Mittwoch hat das RKI diese Vorgabe gestrichen, auch aus dem Flussdiagramm. Sie sei immer schwammiger geworden, sagt Bustami. „Gerade junge Leute kommen aus dem Urlaub und wollen getestet werden. Es sind aber die Älteren, die gefährdet sind.“

Bei der Auswertung der Tests kommt es zu teils deutlichen Verzögerungen. Sibylle Katzenstein berichtet am Montag von 800 Proben, die sich im Labor angestaut hätten. Die Kapazitäten scheinen ausgeschöpft. Basil Bustami sagt, er warte ein bis zwei Wochen, bevor Laborergebnisse bei ihm eintreffen. „Wir können nicht die ganze Bevölkerung testen“, sagt der Arzt.

Die Dunkelziffer dürfte riesig sein

Mit dem Coronavirus infizierte Menschen, bei denen die Krankheit mild verläuft, werden so nie identifiziert. Die Gesundheitsämter erfassen sie nicht als neue Fälle und niemand verfolgt nach, mit wem sie Kontakt hatten.

Derzeit wächst in Deutschland der Zeitraum, in dem sich die Zahl der Infektionen verdoppelt. Nach Ermittlungen der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität sowie der Süddeutschen Zeitung liegt die Verdopplungszeit derzeit bei 5,5 Tagen – eine Woche zuvor waren es noch 2,9 Tage. Eigentlich ist das eine gute Nachricht. Wenn sie denn stimmt. Bei laut RKI rund 36.000 bekanntgewordenen COVID-19-Fällen dürfte die Dunkelziffer jedoch riesig sein.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schickt als Reaktion auf eine Anfrage von netzpolitik.org einen Link zur Website des Robert Koch-Instituts, dieses verweist „kapazitätsbedingt“ ebenfalls nur auf sein Internetangebot. Detailfragen bleiben in beiden Fällen unbeantwortet.

Am Mittwoch sprach das BMG von einer leichten Abflachung der Infektionskurve, wohl auf Basis der veröffentlichten Fallzahlen. RKI-Chef Lothar Wieler warnte in seinem Situationsbericht zugleich: „Wir stehen am Anfang dieser Epidemie.“ Dies gilt offenbar auch im Hinblick auf die Technologie, wie sie bei der Meldung neuer Infektionen zum Einsatz kommt.

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7 Ergänzungen

    1. Wahrscheinlich landen die zusammen mit HIV-Patienten in den jeweils landeseigenen ANST-Datenbanken. *grusel*

    2. Ja, damit ist mal wieder eine Grenze gefallen. Da wird niemand fuer bestraft werden, also wird’s ab jetzt so gemacht.

      Die Eltern des Grundgesetzes wussten sehr genau, warum sie es so geschrieben haben. Jetzt ist es an den Buergern, das auf rechtsstaatlichem Wege zu verteidigen, denn das geht (noch).

  1. Die Problematik aus den gemeldeten Zahlen eine Trenbeurteilung ableiten zu können, liegt ja nicht nur daran, dass Gesundheitsämter am Wochenande keine Zahlen melden, sondern auch daran, dass an Wochenenden nicht getestet wird. Ich bin gerade am Coronatestzentrum der Universitätsklinik Frankfurt vorbeigegangen: „Geöffnet Montag bis Freitag von 9 bis 13 Uhr“. Es können damit logischerweise am Wochenende keine Test gemacht werden. Ich frage mich, ob dies der Situation angemessen ist?

    1. Die reinen Fallzahlen spiegeln, auf lange Sicht, auch ein falsches Bild. Bei Verdoppelung der Testkapazität, kann man die Fallzahlen nur prozentual (zu der Testanzahl) vergleichen. In den Medien wird aber nur die tatsächliche Personenzahl der Infizierten dargestellt.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.