Interview mit Corona-LeugnerDer Hessische Rundfunk handelt fahrlässig [Update]

Der öffentlich-rechtliche Sender lässt falsche Behauptungen zur Verbreitung des Coronavirus unwidersprochen stehen. Damit geht die Redaktion denen auf den Leim, die gelernt haben, wie man den öffentlichen Diskurs hackt. Ein nachträglicher Faktencheck kann den Schaden nicht wieder gut machen. Ein Kommentar.

Frau mit Megafon
Gegenüber Falschaussagen, und erschallen sie noch so laut, dürften Medien gerne mal die Ohren verschließen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Juliana Romão

Der Hessische Rundfunk nimmt die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zum Anlass, den Corona-Leugner Sucharit Bhakdi zu interviewen. So wichtig kritische Berichterstattung über die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von Ausgehbeschränkungen ist, mit Bhakdi als Gast ist der Sender einen Schritt zu weit gegangen.

Bhakdi war bis 2012 Professor für Epidemiologie an der Universität Mainz. Seit Beginn der Corona-Pandemie fällt er durch Falschaussagen auf, die er öffentlichkeitswirksam transportiert und die bei Corona-Leugner:innen auf große Resonanz stoßen.

Wiederholt haben Journalist:innen seine Aussagen zum Corona-Virus widerlegt (ZDF, correctiv.org, Süddeutsche Zeitung, maiLab). Auch sein ehemaliger Arbeitgeber, die Universität Mainz, distanzierte sich mittlerweile von Bhakdis Aussagen. Dennoch hat hr-info Bhakdi als Gesprächspartner eingeladen.

Die gehackte Öffentlichkeit

Ausgewogenheit ist eines der wichtigsten Prinzipien eines fairen Journalismus – und essentiell für Vertrauen in die Medien. Immer auch die Gegenseite hören, darauf sollten Journalist:innen nie verzichten.

Doch dieses lobenswerte Konzept kann leider gehackt werden. Auf der verzweifelten Suche nach der Mitte, dem neutralen Punkt zwischen den Positionen, gehen Journalist:innen viel zu häufig denen auf den Leim, die den Diskurs mit Tabubrüchen und Falschbehauptungen auf ihre Seite verschieben wollen.

Wer Nachrichtenjournalismus macht und sich selbst als objektiv begreift, ist in den heutigen Zeiten dazu aufgerufen, die Grenzen, innerhalb derer er die Mitte sucht, klar zu ziehen. Dann ist es egal, was außerhalb an Extremismus oder Falschinformationen geschieht, wie weit sich Akteure von diesen Grenzen wegbewegen. Belohnt werden sollte nicht, was laut ist und Tabus bricht oder was die Algorithmen in sozialen Netzwerken besonders gerne auswählen.

Geringere Reichweite von Faktenchecks

Einerseits sind diese Grenzen die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Journalist:innen haben sich kritisch mit allen zu beschäftigen, die sich außerhalb dieser Grenzen bewegt, seien es Aktivist:innen oder der Staat selbst. Egal ob sie die Demokratie aus ideologischen Gründen ablehnen oder sie mit verfassungswidrigen Überwachungsgesetzen unterhöhlen. Die Sache, mit der Journalist:innen sich gemein machen sollten, ist die Demokratie.

Andererseits markieren diese Grenzen aber auch den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. Und den haben Journalist:innen ebenso klar zu benennen und sich von Falschinformationen zu distanzieren. Genau das hat hr-info im Interview mit Sucharit Bhakdi versäumt. Es wurde weder eingeordnet, dass sich Bhakdi seit Beginn der Pandemie meilenweit von jeglicher Evidenz entfernt hat, noch wurden die Thesen, die er im Interview selbst verbreitet, kritisch beleuchtet.

Halbherzige Nachfragen der Moderatorin sind kein Widerspruch und ein nachträglicher Faktencheck, den hr-info mittlerweile angekündigt hat, erreicht immer weniger Menschen als das Produkt selbst. In Zeiten von Netzkommunikation versanden Faktenchecks oft im Nirgendwo.

Viele Menschen lesen nur Überschriften, wenn sie durch ihren Newsfeed scrollen. Im Falle von hr-info stolperten sie dann über die Falschinformation „Es gibt keine erhöhte Zahl von Erkrankungen“, die Sucharit Bhakdi im Interview aufstellt.

Screenshot der ursprünglichen Überschrift auf der Website des HR
Ursprünglich überschrieb die Redaktion den Beitrag online mit einem Zitat des Interviewpartners, das eindeutig nicht zutrifft. - Alle Rechte vorbehalten Screenshot

Mittlerweile hat der Hessische Rundfunk die Überschrift ausgetauscht und dem Beitrag auf der Website einen redaktionellen Hinweis beigefügt, in dem ebenfalls der Faktencheck angekündigt wird:

Einige Aussagen von Herrn Bhakdi sind kritisch zu hinterfragen und entsprechen nicht dem, was in der Wissenschaft weitgehend Konsens ist. Wir werden diese Aussagen zeitnah einem Faktencheck unterziehen und diesen hier veröffentlichen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, haben wir das bei der Erstveröffentlichung des Podcasts im Titel verwendete Zitat ersetzt.

Auf Twitter schreibt die Redaktion von hr-info, dass sie die Kritik nachvollziehen könne:

https://twitter.com/hrinfo/status/1316332384707653634

Verantwortung für wissenschaftliche Laien

Doch das reicht nicht aus. Corona-Leugner:innen können das Interview weiterhin problemlos online verbreiten und gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit, die offizielle Informationen nicht leugnet, durch die Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sogar noch Boden gut machen. Den nachträglichen Faktencheck werden sie großzügig ignorieren.

Und hier sind wir beim Kern des Problems: Nicht alle Menschen, die Bhakdi Glauben schenken, haben ideologische Gründe oder führen Böses im Schilde. Sie tun eigentlich alles, was ihnen beim Bewerten von Fakten immer empfohlen wurde. Sie berufen sich auf einen Mann, der Professor an einer anerkannten Uni war. Diesen ersten Reputationscheck nehmen viele der Menschen vor, die sich auf Bhakdis Thesen beziehen.

Viel mehr kann man von wissenschaftlichen Laien auch nicht erwarten. Wer sich nicht akademisch oder zumindest regelmäßig journalistisch mit Virologie und Epidemiologie auseinandersetzt, kann die Evidenz von Bhakdis Behauptungen nicht prüfen, weiß nicht, welches Ansehen Bhakdi in Fachkreisen (nicht) genießt. Man kann nicht erwarten, dass Laien zwischen der Glaubwürdigkeit von Virologe Christian Drosten und Epidemiologe Sucharit Bhakdi unterscheiden können.

Tragische Fahrlässigkeit

Und genau das ist die entscheidende Aufgabe der Medien in derartigen Krisensituationen. Einschätzen, einordnen, informieren. Ich muss mich als Laie darauf verlassen können, dass ein Wissenschaftler, der von seriösen Journalist:innen interviewt wird und dessen Thesen in diesem Interview unwidersprochen und unwiderlegt bleiben, keinen Mist verzapft. Es ist der Job der Redaktion, so etwas vorher zu prüfen.

Ich will hr-info gar nicht unterstellen, diese Prüfung nicht vorgenommen zu haben. Bhakdi trotzdem diese Bühne zu geben, zeugt aber von einer mindestens genauso tragischen Fahrlässigkeit. Denn genau das ist das Ziel derer, die Verschwörungsmythen und Falschinformationen über Corona verbreiten.

Das ist auch das Ziel von Impfgegner:innen und Klimawandelleugner:innen. Sie wollen Unsicherheiten schaffen, wem oder was man noch vertrauen kann, wer oder was noch glaubwürdig ist. Damit untergraben sie das Vertrauen in die Wissenschaft und letztendlich auch wieder das Vertrauen in die Medien. Der Hessische Rundfunk sägt auch am eigenen Ast, denn auch dort findet guter (Wissenschafts-)Journalismus während der Corona-Pandemie statt.

Update 15.10.2020:

Mittlerweile hat der HR den angekündigten Faktencheck veröffentlicht.

Aus einem weiteren Statement des Hessischen Rundfunks geht hervor, dass der HR die Sendung gar nicht selbst produziert hat. Das Interview mit Sucharit Bhakdi lief ursprünglich in der ARD Infonacht, die der Mitteldeutsche Rundfunk produziert und die bundesweit ausgestrahlt wird. Die Interviewfragen nahm die HR-Moderatorin nachträglich auf. Die ursprünglichen Fragen des MDR-Moderators zeigten die fehlende Evidenz deutlicher auf als die nachgesprochenen Fragen des Hessischen Rundfunks. Der HR bedauert in seinem Statement nicht die Ausstrahlung des Interviews selbst, sondern nur die Übernahme der Sendung ohne Quellenangabe.

Dieses Statement irritiert massiv. Nachdem die Tweets der hr-info-Redaktion gestern den Eindruck erweckten, dass die Verantwortlichen den Auftritt Bhakdis an sich als Fehler sehen, stiehlt sich der Hessische Rundfunk mit seinem Statement aus der Verantwortung und schiebt sie dem Mitteldeutschen Rundfunk zu. Für diese Anstalt gilt natürlich ebenfalls, dass es problematisch ist, Falschaussagen überhaupt eine Plattform zu geben.

Zum Problem der Plattform für Falschaussagen kommen nun also noch ein Transparenzproblem und ein Glaubwürdigkeitsproblem hinzu. Der Fall wird von Gegner:innen und Kritiker:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer wieder hervorgekramt werden. Der HR erweist seinen eigenen seriös, transparent und fundiert arbeitenden Mitarbeiter:innen mit diesen Praktiken und dem nicht besonders souveränen Umgang einen Bärendienst.

Am Lerneffekt der Rundfunkanstalt darf gezweifelt werden, da die hessenschau in einem Artikel, der erst nach den zerknirschten Tweets von hr-info online erschien, Bhakdi weiterhin ohne Einordnung zitiert.

Screenshot eines Artikels der Hessenschau
Die Hessenschau zitiert Bhakdi weiterhin in einem Artikel. - Alle Rechte vorbehalten Screenshot

Der Mitteldeutsche Rundfunk hat mittlerweile auch einen Faktencheck veröffentlicht. Erfreulicherweise nicht wortgleich mit dem des Hessischen Rundfunks, obwohl sich beide Anstalten den Experten, Gert Uwe Liebert von der Uniklinik Leipzig, teilen.

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21 Ergänzungen

  1. „Es wurde weder eingeordnet, dass sich Bhakdi seit Beginn der Pandemie meilenweit von jeglicher Evidenz entfernt hat“

    Das Dt. Netzwerk Evidenzbasierte Medizin sagt, dass keine besonderen Maßnahmen erforderlich sind. Das sagt auch Herr Bhakdi.

      1. Ja das nennt man die wissenschaftliche Diskussion soll gefördert werden und durch Journalisten begleitet. Und wenn man sich den Beitrag beim ZDF anschauen stellt man auch wieder fest, dass er letztlich Fehler enthält. Nur ein Beispiel um es zu verdeutlichen. Im Journalismus spricht man von, dass der Virus Spätfolgen verursacht. Die Wissenschaft spricht davon ist es viel zu früh und Spätfolgen zu sprechen, da es gar keine Datenlage gibt. Evidenz basiert heißt nun mal mit Daten begründet darzulegen dass es Spätfolgen gibt. Nicht die Spekulation ist der Maßstab sondern der Nachweis. Keine Daten keine Spätfolgen alles andere ist es nicht wissenschaftlich sondern Spekulation/Vermutung/am Annahme/Fragestellung der Wissenschaft die noch unbeantwortet ist.

        Davon gibt es so 2- 3 Beispiele in dem Text, den ihr verlinkt hat. Wissenschaft ist die Beantwortung einer Frage, die wiederum viele Fragen aufwirft. Wenn Wissenschaft als die Wahrheit betrachtet wird, fängt das Übel an. Die These erzeugt Antithese. Wer das infrage stellt sollte aufhören Wissenschaft zu betreiben.

        1. – Gab es bei SARS Spätfolgen?
          – Gibt es Anzeichen für Spätfolgen bei dieser Pandemie?
          – Ist es „wissenschaftliches“ Vorgehen, die Möglichkeit von Spätfolgen bei der derzeitigen Datenlage auszuschließen?
          – Komplett konträr möglich oder fahrlässig (je nach getragener Verantwortung)?

  2. Wie bei vielen Themen, trifft hier ein(e) leider fachlich überforderte(r) Journalist(in) auf einen „Experten“ und kann gar nichts anderes tun, als die vorher aufgeschriebenen Fragen abzuspulen. Für inhaltlichen Widerspruch oder kritische Nachfragen während eines Interviews fehlt der/m Journalisti/en in aller Regel das Wissen, die Qualifikation und viel zu oft auch die Zeit.

    Die Lösung für das Dilemma ist aber NICHT, andere Meinungen (so falsch sie auch sein mögen) zu verschweigen, zu boykottieren oder auszusortieren. Die Lösung lautet: Lasst die Interviews von einem anderen Experten auf Augenhöhe führen! Im Falle von Herrn Bhakdi kann das ein Hr. Drosten, Hr. Wieler, Hr. Streek sein, die ja ohnehin täglich auf Sendung sind. Dann kann sich jeder Zuschauer oder Zuhörer eine fundierte Meinung bilden – ein Hr. Bhakdi kann nicht mit Falschaussagen davon kommen und auch ein Hr. Drosten nicht mit allzu simplen Erklärungen. Win-win für alle!

    Und genau da liegt das Missverständnis, der in diesem netzpolitik Artikel deutlich zu Tage tritt: Es darf nicht die Aufgabe von Journalismus sein, für den Leser vorab zu entscheiden, was Wahrheit und was Lüge ist. Ein Journalist hat nicht die Kompetenz, dies zu beurteilen, denn ein Journalist ist (so leid es mir tut) nicht gebildeter oder intelligenter als seine Leser. Wieso sollte ein Journalist dem Leser das Denken abnehmen?

    Der Journalist hat einen entscheidenden Vorteil: Den Informationvorsprung. Und diesen weiterzugeben, das ist die Aufgabe des Journalismus! Das bedeutet, alle Informationen (auch die, die einem nicht gefallen) zusammen zu tragen und zu veröffentlichen. Und erst danach darf er sie auch kommentieren. Das ist übrigens auch das Grundprinzip der Demokratie: Jeder hat eine Stimme! Wer anderen diese Stimme wegenehmen will, der sägt am Grundpfeiler unserer Gesellschaft.

  3. Das ist auch ein Problem, welches ich öfter habe.
    Ich kenne auch nicht alle Schritte für wissenschaftliche Veröffentlichungen, noch weiß ich an welchen Unis diese Forscher gearbeitet haben.
    Meistens nehme ich mir auch nicht die Zeit alle Quellen zu jedem Thema zu prüfen.

    Wenn dann über Studien gesprochen wird, die noch im Review stecken, und diese dann als vollkommende Veröffenlichung dargestellt werden, ist für mich und wahrscheinlich für andere Laien schwierig, diesen Sachverhalt zu evaluieren.

    Jetzt weiß ich, dass es solche Reviews gibt. Es fehlt mir trotzdem die Zeit, jede Studie zu überprüfen, daher bin ich dankbar für jeden Faktencheck.
    Theoretisch müsste man ja auch jeden Faktencheck noch einmal gegenchecken, ob da alles korrekt ablief, aber wie gesagt, zeitlich ist das für mich und für viele andere wohl nicht machbar.

    1. Solche Prinzipien in ÖR/XY umzusetzen, wäre mal eine Richtung für Erneuerung.

      Richtung ist so wichtig…

  4. Der bekannte Journalist und Dokumentarfilmer Dirk Steffens sagt dazu in einem übrigens sehr lesenswerten Interview mit Spektrum: „Die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit. Es kommt nur Unsinn dabei heraus, wenn man die Mitte sucht zwischen einer kugelförmigen und einer scheibenförmigen Erde. Zu glauben, man müsse auch abseitigen Ansichten eine Plattform bieten, ist ein journalistischer Kernfehler. Das schafft den Eindruck, dass der Unsinn eine Berechtigung hat.“
    https://www.spektrum.de/news/wie-sollten-medien-mit-verschwoerungstheorien-umgehen/1768929
    Christoph

    1. Ich schätze Dirk Steffens sehr, aber dieses Statement würde ich s nicht stehen lassen. Denn auch hier geht man davon aus, selbst im Besitz der Wahrheit zu sein. Der eigentliche Kernfehler ist also eher die Annahme selber die Wahrheit zu kennen. Die kennt aber keiner. Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, die sich durch Erziehung, Ausbildung und eigene Erfahrungen manifestiert. Die Wahrheit aber kennt keiner. Daher kann man sich auch nicht auf diese berufen. Und es wird immer möglich sein komplett konträre Ansichten zu haben. Es werden noch viele Sachverhalte widerlegt werden, die sich zur Zeit als Stand der Wissenschaft darstellen und daher als „Wahrheit“ gelten. Wissenschaft ist immer Diskurs und sicher gibt es Erkenntnisse, die sich als endgültig gesichert darstellen lassen , wie die Erdgestalt oder die Schwerkraft. Aber wer weiß was noch kommt …!?
      Was machst Du, wenn Du morgen einen Apfel beobachtest, der nach oben fällt? Wer wird dir diese Beobachtung glauben …!? Bist Du dann ein Schwerkraft-Leugner obwohl du es mit eigen Augen gesehen hast !? Siehe auch Höhlengleichnis von Platon.

      1. wir müssen unterscheiden zwischen Fakten und begründeten Annahmen. Als Physiker kann ich dir verraten: In diesem unserem Universum gibt es ein paar grundsätzliche Naturgesetze, die überall und immer gelten. Zu denen gehört die Gravitation. Also wird der Apfel niemals nach oben fallen. Das ist Fakt. Ebenso ist Fakt, dass unsere Erde (angenähert) Kugelform hat. Du kannst gerne darüber philosophieren, ob es andere Universen mit anderen physikalischen Gesetzen geben könne. In unserem Universum gelten diese Gesetze, und die stehen nicht zur Disposition. Insofern, ja, gibt es eine universelle Wahrheit – naturwissenschaftlich betrachtet (zur psychologischen Seite später). Daneben gibt es Graubereiche, in denen wir auf der Basis der Naturgesetze und unserer Messungen und Erfahrungen bestimmte Annahmen treffen. Hier dürfen wir, da stimme ich zu, nicht vor einer wie auch immer gearteten Wahrheit sprechen, sondern nur von unserem gegenwärtigen Wissensstand. Aber den gibt es. Wie belastbar unsere Annahmen sind, ergibt sich aus Plausibilitätsüberprüfung und aus dem Abgleich mit Beobachtungen. Das Problem: „Die Wirklichkeit“ als Ganzes ist viel zu komplex, als dass wir sie je verstehen oder beschreiben könnten. Die Physiker sprechen von Modellen, mit denen sie „die Wirklichkeit“ beschreiben wollen. Die Tauglichkeit eines Modells wird an zwei Kriterien bestimmt: 1. Beschreibt das Modell unsere Beobachtungen widerspruchsfrei? 2. Kann man aus dem Modell eine Prognose erstellen und die durch entsprechende Messungen (Experimente) bestätigen? Alle Modelle haben Grenzen und Gültigkeitsbereiche (siehe z.B. Welle/Teilchen). Aber innerhalb ihrer Gültigkeitsbereiche sind Modelle sinnvoll und nützlich. Jegliche „alternativen Fakten“ (normale Menschen sagen Fake-News oder Verschwörungsmythen) müssen sich an den beiden Kriterien messen lassen. Mit einem Kreationisten oder einem Flat-Earther diskutiere ich erst gar nicht, weil diese Mythen sofort an der Realitätskontrolle scheitern. Gleiches gilt für die Corona-Leugner. Es liegen so viele anders lautende belastbare Fakten vor, dass es müßig ist, sich mit so abwegigen Ideen zu beschäftigen.
        Jetzt kommen wir zu einer anderen Bedeutung des Begriffs „Wirklichkeit“: Die individuelle psychische oder seelische Wirklichkeit. Die ist bei den Corona-Leugnern und anderen Aluhut-Trägern tatsächlich krankhaft verzerrt. Die betroffenen Personen zeigen sämtliche Symptome eines Krankheitsbildes, das in der Psychopathologie als Wahn oder wahnhafte Störung (ICD-10 F22) bezeichnet wird. Ein weiterer wichtiger Grund, nicht mit ihnen auf der Sachebene zu diskutieren (das wäre völlig fruchtlos) und ihren Wahnideen keinen öffentlichen Raum zu geben.

  5. Immer auch die Gegenseite hören, darauf sollten Journalist:innen nie verzichten.

    Und genau das tun sie aber sehr oft. Bei wie vielen Aufregerthemen mit Potenzial für öffentliche Empörung wird die Gegenseite denn wirklich angehört? Im Umweltbereich und bei Konzernberichterstattung haben wir das sehr oft. Ein Schuldiger ist schnell gefunden, für eine differenzierte Berichterstattung bleibt meist keine Zeit – wie auch? Nach 1-2 Wochen hat man ja ohnehin eine neue Sau, die durchs Dorf getrieben wird.

    Auf der Sachebene finde ich diese Corona-Relativierer albern, aber aus der Perspektive der Medienkritik kann ich hier keinen überdurchschnittlichen Sündenfall erkennen.

    Nach allem, was wir über Medienwirkungen wissen, können Medien in der Regel eben nicht die Wirkung erzielen, die so viele ihnen unterstellen: uns zu sagen, was wir denken sollen. Was Medien allerdings durchaus schaffen, ist Agenda-Setting: uns zu sagen, worüber wir nachdenken. Darum wird man einen harten Corona-Leugner auch mit der ausgewogensten Berichterstattung nur in den seltensten Fällen überzeugen können.

  6. In dem neuerlichen Artikel des hr wird Hr. Bhakdi ja nicht nur weiterhin ohne Einordnung der Aussage zitiert, dort wird auch (bis jetzt) behauptet, er habe direkt mit hr-info gesprochen, was laut Statement nicht der Fall war.
    Der hr hat also möglicherweise, was die Darstellung von Quellen angeht, nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit ein Transparenzproblem, sondern auch gegenüber den eigenen Redakteuren…

  7. Ich bin bisher immer eine begeisterter Leser von Netzpolitk.Org gewesen, aber dieser Artikel hat mich sehr verärgert. Es wird behauptet, dass Herr Bhakdi ein „Corona-Leugner“ sei. Das stimmt natürlich nicht. Er sagt lediglich, dass man die Infektionszahlen gegen die Zahl der Erkrankungen stellen muss. Und er sagt an anderer Stelle, dass wir im Zusammenhang mit Corona eine deutliche Untersterblichkeit haben. Es sterben an Corona deutlich weniger Menschen als an anderen Krankheiten. Und selbst bei den Toten wird viel zu wenig untersucht, ob sie wirklich an Corona oder an anderen Krankheiten gestorben sind. Wenn der Tote das Virus in sich trug, ist er ein Coronatoter.
    Ich finde, dass man als ein so gutes Magazin, wie es m.E. Netzpolitk.org ist, durchaus auch konträre Meinungen darstellen und gelten lassen sollte. Dass hier in Schwarz-Weiss-Manier berichtet wird, finde ich vollkommen unangemessen.

    1. Konträre Meinungen sind immer willkommen. Jede:r hat das Recht, seine eigene Meinung zu haben und zu äußern. Ich übrigens genauso, als Autorin dieses Meinungsbeitrags.
      Was es aber meiner Einschätzung nach nicht gibt, ist das Recht auf eigene Fakten. Insofern ist es natürlich wichtig, auch verschiedene Einschätzungen aus der Wissenschaft zu hören und abzubilden. Medial immer wieder inszeniert wird beispielsweise die Diskrepanz zwischen den Einschätzungen von Christian Drosten und Hendrik Streeck. Die beiden Virologen sind sich nicht immer einig in der Bewertung der Lage und der Interpretation der Zahlen. Doch beide leugnen nicht die Zahlen selbst.
      Streeck und Drosten (und viele andere Virolog:innen) haben mit ihren Empfehlungen unterschiedliche Einflüsse auf die Politik. Das schafft Ausgleich. Mal wird etwas zu schnell gelockert, was dann korrigiert wird, wenn die Infektionszahlen wieder steigen. Mal wird etwas zu vorsichtig gelockert, dann kann ein demokratischer Diskurs auch hier dafür sorgen, dass das korrigiert wird und die Grundrechte nicht länger als nötig eingeschränkt bleiben. Es steht allen zu, die Corona-Maßnahmen zu kritisieren, solange man sich auf dem Boden der Tatsachen befindet.
      Doch einen (ehemaligen) Wissenschaftler, der in der Vergangenheit wiederholt durch eindeutig falsche Aussagen auffiel, als Experten in eine Sendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzuladen, ist damit nicht vergleichbar. Bhakdi bewegt sich außerhalb der wissenschaftlichen Community. Er leugnet nicht die Existenz des Virus selbst, aber er leugnet die Existenz einer Pandemie. Die Aussagen, die er im HR-Interview beispielsweise zu PCR-Tests trifft, werden von Fachkolleg:innen als eindeutig falsch bezeichnet, übrigens auch im Faktencheck des Hessischen Rundfunks in Folge des Interviews (https://www.hr-inforadio.de/podcast/aktuell/faktencheck-zu-den-aussagen-von-sucharit-bhakdi,podcast-episode-77018.html).
      Ein Argument, das auf der Falschbehauptung basiert, dass die Tests unzuverlässig sind, darf nicht gleichberechtigt neben einem Argument stehen gelassen werden, das die Zuverlässigkeit der Tests berücksichtigt. Auf Basis der Zuverlässigkeit der Tests darf man zu unterschiedlichen Bewertungen kommen, die dann als Argumente oder Meinungen im öffentlichen Diskurs wirken können. Wer aber die Falschbehauptung der unzuverlässigen Tests heranzieht, um seine Argumente oder politischen Forderungen zu stützen, kann nicht gleichberechtigt als Experte in der Öffentlichkeit gehört werden, da man von Zuhörer:innen oder Leser:innen nicht erwarten kann, diese Unterscheidung selbst zu treffen. Das ist die Aufgabe der Redaktionen, selbst zu prüfen, wer auf dem Boden der Tatsachen argumentiert und wer nicht. Abzubilden haben Journalist:innen dann die Bandbreite der Bewertungen derer, die die Tatsachen nicht leugnen. Denn das ist dann die von Ihnen angesprochene Meinungsvielfalt, die wir uns alle von den Medien wünschen.

    2. Ich habe das Buch von Prof. Dr. Sucharit Bhakdi gelesen, da ich mir selbst eine Meinung bilden wollte. Dieses Buch weist aber zu viele Fehler auf, die man in wenigen Mausklicks selber nachforschen kann. Hier mal ein Beispiel : Er behauptet das für den Test von Hr Drosten im Zusammenhang auf Spezifität und Sensivität keine Labordaten vorliegen. Dies stimmt nicht,man kann es auf der Seite des RKI und selbst auf Wikipedia selber nachlesen das Labordaten vorliegen. Auch das Maskenthema wird von Ihm völlig falsch eingeschäzt. Es gibt zahreiche Studien die Belegen das wenn z.B 2 Menschen einen Abstand von mindestens 1 m einhalten und beide eine Maske tragen, die Ansteckungsgefahr um über 80% sinkt. Auch hier kann man in wenigen Mausklicks herausfinden das seine Behauptung so nicht stimmt. Ich weis nicht ob er das wirklich glaubt was er da schreibt, oder ob er nicht einfach nur Chance genutzt hat um schnell Geld zu verdienen. Immerhin ist er selbst Virologe gewesen von da her kann man das zumindestens vermuten, da ich niemanden was unterstellen möchte, was ich nicht belegen kann (auch wenn er das selber macht). Von daher finde ich auch das es OK ist wenn man Corona-Leugner schreibt, auch wenn er es an sich nicht leugnet das es Corona gibt,dafür leugnet er aber die Corona Maßnahmen die wissenschaftlich bewiesen sind. Und jetzt mal ehrlich, wenn man jedes mal eine Freundschaft kündigen würde nur weil jemand das falsche Wort benutz, dann hätte ich keine Freunde mehr. In Brasilen hat der President das Virus auch völlig falsch eingeschätzt und mit über 150000 Toten (aktuell) liegt das deutlich über der Toteszahl vom Grippe-Virus. Ein Virus kann irgend wann nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden und genau das würde passieren wenn man nicht rechtzeitig handelt.

  8. „Die sich abzeichnende Panikreaktion der führenden Industrienationen verglich er mit einem Elefanten, der beim Versuch, einer Hauskatze auszuweichen, versehentlich von einer Klippe springt und stirbt.“ (nach John Ioannidis, Epidemologe und aktuell einer der zehn meistzitierten Wissenschaftler der Welt)

  9. Wenn, wie in diesem Beispiel, Wissenschaftler oder Menschen die mit einem akademischen Titel eine Aussage in den Raum stellen, erwarte ich von einem Journalisten die Frage nach der Evidenz! Ein Wissenschaftler, auch ein erimitierte Professor für Epidemiologie, muss seine Aussagen mit wissenschaftlichen Quellen belegen können. Ich erwarte das ein Journalist sich auf eine Interview mit einem „Experten“ vorbereitet, die Frage der Evidenz stellt und nicht locker läßt bis er die Quellenangabe bekommt. Das erfordert kein Expertenwissen sondern nur ein wenig Verständnis wie naturwissenschaftliche Erkenntnis entsteht und den Mut zu der einfachen Frage „Hr. Professor, auf welche wissenschaftliche Publikation(en) beziehen Sie sich mit Ihrer Aussage“. Btw. die Frage erwarte ich unabhängig davon ob Hr. Bhakdi oder Hr. Drosten interviewt werden. Ich sehe aber leider nicht das es viele Journalisten gibt die meiner Erwartung gerecht werden…..

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.