Berlin12 Funkzellenabfragen pro Woche

Zum zweiten Mal in Folge ist die Zahl der Funkzellenabfragen in Berlin höher als vor dem Antritt der rot-rot-grünen Landesregierung. Dabei hatten sich an der Koalition beteiligte Parteien in ihren Wahlprogrammen äußerst kritisch zu den Grundrechtseingriffen positioniert. Die Polizei hat im vergangenen Jahr zudem deutlich häufiger auch Namen und Adressen hinter den Telefonnummern abgefragt.

Umgerechnet auf die Einwohnerzahl Berlins sind pro Kopf 21 Datensätze zusammengekommen.
Umgerechnet auf die Einwohnerzahl Berlins sind pro Kopf 21 Datensätze zusammengekommen. (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Mimipic Photography | Bearbeitung: netzpolitik.org

Mindestens 612 Funkzellenabfragen wurden in Berlin laut dem Jahresbericht 2019 angeordnet. Die Zahl ist damit schon zum zweiten Mal in Folge deutlich höher als vor dem Antritt der rot-rot-grünen Landesregierung. Im Wahlkampf hatten sich an der Koalition beteiligte Parteien kritisch gegenüber dieser Form der Überwachung positioniert. Vor allem ein einzelnes Ermittlungsverfahren trieb die immense Anzahl betroffener Mobilfunkanschlüsse in die Höhe.

netzpolitik.org veröffentlicht die Funkzellenmatrix 2019 [CSV], die im Abgeordnetenhaus bereits Anfang Mai vorgestellt wurde. Unsere Auswertung zeigt, dass Ermittler:innen weiterhin im großen Stil Daten sammeln, wer mit seinem Mobiltelefon wann und wo in welcher Funkzelle eingeloggt war.

Bei der Funkzellenabfrage handelt es sich um eine Art Rasterfahndung, die vor allem Menschen betrifft, die sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Mehr als 79 Millionen sogenannte Verkehrsdatensätze sind bei der Berliner Polizei gelandet. In diese Kategorie fallen Telefonnummern genauso wie Angaben zum Standort.

Umgerechnet auf die Einwohnerzahl der Hauptstadt entspräche dies 21 Datensätzen pro Kopf. Berliner:innen, die wissen wollen, ob sie von der Maßnahme erfasst wurden, können sich im Transparenzsystem der Senatsverwaltung für Justiz mit ihrer Handynummer anmelden.

Fast ein Drittel aus demselben Verfahren

In der Summe waren laut dem Jahresbericht 13,7 Millionen Mobilfunkanschlüsse von Maßnahmen betroffen. Einzelne Anschlüsse können dabei mehrfach erfasst worden sein, in unterschiedlichen Abfragen. Aus den 569 Ermittlungsverfahren sticht jedoch deutlich ein Fall aus dem vergangenen Juni heraus. Kaum etwas ist über ihn bekannt.

Wie aus der Statistik hervorgeht, wurde damals eine Funkzellenabfrage aufgrund des Straftatbestands Totschlag angeordnet. Zehn Tage dauerte sie an, in mindestens sechs Postleitzahlbereichen erhob die Polizei Verkehrsdaten. Die überwiegende Mehrheit der in der Funkzellenmatrix 2019 gelisteten Abfragen dauerte höchstens einen Tag, kein weiteres Verfahren war so umfangreich.

Insgesamt entstammt fast ein Drittel aller betroffenen Mobilfunkanschlüsse dieser einzelnen Funkzellenabfrage. Die Generalstaatsanwaltschaft will sich nicht näher äußern. Es handele sich dabei um ein laufendes Verfahren, teilt ein Sprecher mit.

Die Funkzellenabfrage als Standardinstrument

„Dass die Einsatzzahlen so hoch sind, betrachten wir mit Sorge “, so Thomas Barthel, Pressesprecher der Linken-Fraktion im Abgeordnetenhaus. „Offenbar hat sich die Funkzellenabfrage von einem Ausnahme- zu einem Standardinstrument entwickelt.“

Die Maßnahme erfolgt in der Regel auf Initiative der Polizei, die sie der Staatsanwaltschaft bei Ermittlungen vorschlägt. Die Staatsanwaltschaft stellt dann den Antrag beim Amtsgericht. Ihre Durchführung ordnet üblicherweise eine Richterin oder ein Richter an.

„Seien Sie so gut und beschützen Sie alle Berlinerinnen und Berliner vor dieser willkürlichen Massenüberwachung durch die Berliner Staatsanwaltschaft“, hatte der Grünen-Politiker Dirk Behrendt 2015 im Berliner Abgeordnetenhaus an den damaligen CDU-Justizsenator appelliert. Heute bekleidet Behrendt selbst dieses Amt. Über seinen Sprecher Sebastian Brux lässt er auf Anfrage ausrichten: „Es ist nicht in der Entscheidungsgewalt des Justizsenators, Bundesgesetze zu ändern und grundsätzlich kommentiert der Justizsenator keine Entscheidungen, die in richterlicher Unabhängigkeit gefällt wurden.“

Funkzellenabfrage wegen Sachbeschädigung

Tatsächlich legt die Strafprozessordnung fest, wann die Polizei Funkzellen abfragen darf. Möglich sein soll dies nur, wenn alle anderen Ermittlungsansätze wenig erfolgversprechend sind. Im Gesetzestext heißt es auch, die womöglich begangene Straftat müsse von „erheblicher Bedeutung“ sein. Wann dies der Fall ist, ist indes nicht näher festgelegt. Eine Entscheidung hierüber liegt im Ermessensspielraum der Richter:innen.

Die Funkzellenabfrage soll vor allem dazu dienen, sogenannte schwere Straftaten aufzuklären, etwa Tötungsdelikte oder Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs. Laut dem Jahresbericht 2019 ordneten Berliner Richter:innen Abfragen aber auch für Tatverdachte an, die nicht in diese Kategorie fallen, wie zum Beispiel Sachbeschädigung.

netzpolitik.org hat den Justizsenator gefragt, ob er der Meinung sei, die „im Einzelfall erhebliche Bedeutung“ sollte gesetzlich genauer geregelt werden – etwa durch das zu erwartende Strafmaß. Behrendt wollte sich über seinen Sprecher hierzu nicht äußern.

Keine Einigung in der Koalition

Die Berliner Landesregierung kann selbstverständlich keine Bundesgesetze ändern. Aber zugleich könnte sie über den Bundesrat unter Umständen auf solche einwirken – wenn sie denn wollte.

Entsprechend deutlich hatte sich 2016 die Berliner Linke positioniert. „Wir wollen staatliche Überwachungsgewalt einschränken, da wir es fahrlässig finden, Freiheit und Privatsphäre der Mehrheit im Kampf gegen die Kriminalität Einzelner aufs Spiel zu setzen“, stand damals in ihrem Wahlprogramm. „Die Funkzellenabfrage lehnen wir als Instrument ab.“

Auch heute halte man die Forderung nach der Abschaffung einer nicht-individualisierten Funkzellenabfrage in der Fraktion noch für richtig, teilt Pressesprecher Thomas Barthel mit. Mit den Koalitionspartnern – also der SPD und den Grünen – habe sich die Linke hierauf jedoch nicht einigen können.

Polizeigesetz ohne Funkzellenabfrage zur Gefahrenabwehr

Auch die Berliner Grünen hatten die Funkzellenabfrage 2016 zum Wahlkampfthema gemacht. „Gerade für die Sicherheitsbehörden muss gelten: Nicht alles, was technisch möglich ist, darf auch umgesetzt werden. Wir lehnen anlasslose Speicherorgien wie bei der Vorratsdatenspeicherung und der Funkzellenabfrage ab“, schrieb sie ins Wahlprogramm. Damals versprach die Partei: „Mit uns bleibt Berlin die Stadt der Freiheit.“

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion Benedikt Lux sagt dieser Redaktion, das Wahlprogramm habe sich nicht auf die Funkzellenabfrage zur Strafverfolgung bezogen, sondern auf die Abfrage zur Gefahrenabwehr. Also auf Fälle, bei denen etwa islamistische Gefährder, die noch keine Straftat begangen haben, mithilfe der Rasterfahndung vorsorglich überwacht würden.

„Wir werden demnächst ein neues Polizeigesetz vorstellen, in dem es im Vergleich zu Polizeigesetzen in anderen Bundesländern keine allgemeine Funkzellenabfrage zur Gefahrenabwehr geben wird“, sagt Lux.

Er nennt die Funkzellenabfrage einen „heftigen Eingriff in die Grundrechte unbeteiligter Dritter“. Wer die jüngsten Zahlen auswertet, gewinnt unweigerlich den Eindruck, dass sich dieser Eingriff für die Berliner Polizei zu einem probaten Ermittlungsansatz entwickelt hat.

Deutlich mehr Anschlussermittlungen

Denn wie aus dem Jahresbericht 2019 hervorgeht, fragt die Polizei immer häufiger auch Namen und Adressen der Inhaber:innen von Telefonnummern ab. 7376 Mal war dies der Fall, im Jahr zuvor waren es noch 4295. Eine Steigerung also um rund 72 Prozent.

Im Vergleich zum Jahresbericht 2017, in dem 2222 Anschlussermittlungen verzeichnet wurden, ist sogar ein Anstieg um 232 Prozent zu erkennen.

Doch was bedeuten diese Zahlen wirklich? Der Berliner Generalstaatsanwaltschaft zufolge wenig. Ihr Sprecher Martin Steltner sagt: „Das hängt von Zufälligkeiten ab und von konkreten Ermittlungsverfahren, die ganz unterschiedlich sind.“

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5 Ergänzungen

  1. Wie viele Benachrichtigungen des Berliner Funkzellenabfragen-Transparents-Systems sind denn bisher verschickt worden?

    1. Hier ist eine Entsprechende Informationsfreiheitsanfrage über Frag den Staat: https://fragdenstaat.de/anfrage/funkzellenabfragen-transparenz-system-des-landes-berlin/

      Diese wurde am 12.2.20 abgeschickt und am 19.3.20 beantworter.
      Darin steht, dass an die 14.600 registrierten Nummern noch keine einzige SMS zur Information über Funkzellenabfragen verschickt wurde.

      Diese werden allerdings erst verschickt, sobald das Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist.

  2. Nur eine kleine Anmerkung zum statistischen Sprachgebrauch. Der Anstieg im letzten Abschnitt ist um 72 bzw. 232 Prozent. Prozentpunkte werden nur verwendet, wenn man einen relativen Wert hat, und man dessen absolute Änderung als Prozentzahl angeben will.

  3. Hey,
    wisst ihr warum die Daten in der Statistik des BfJ zu Funkzellenabfragen (100g Abs. 3 StPO) im Land Berlin von diesen Daten hier abweichen? Habe gerade mal für dei Jahre 2018 und 2019 geschaut und sowohl Anzahl der Verfahren als auch Anzahl der Funkzellenabfragen stimmen nicht überein.

    Und wenn ich gerade dabei bin: Könnt ihr mich auch aufklären welche Maßnahmen genau mit Absatz 1 und 2 100g StPO gemeint sind?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.