Dokumentation „XY Chelsea“: Die Folgen der Ungerechtigkeit

Der Dokumentarfilm „XY Chelsea“ erzählt das gegenwärtige Leben der Whistleblowerin Chelsea Manning. Der Film bezieht sich wenig auf ihre Zeit als Informatin von WikiLeaks, sondern vielmehr auf die Unklarheiten im Leben eines Menschen, der nicht in das strenge Korsett der Gesellschaft passt. Eine Rezension.

Chelsea Manning
Chelsea Manning. Dogwoof

„XY Chelsea“ ist kein Film, der die Mächtigen dieser Welt direkt angreift, so wie es Chelsea Manning vor neun Jahren tat. Vielmehr erzählt die Dokumentation die Geschichte einer Transfrau, die – von Gefängnis und Isolationshaft beeinträchtigt – den Weg zurück in die Gesellschaft sucht.

Es ist eine „Coming-of-age-Geschichte, keine Heldin-versus-Bösewicht-Geschichte“, wie Manning es in den ersten Minuten auf den Punkt bringt.

Nur knapp, stattdessen sehr grafisch, schneidet Regisseur Tim Travers Hawkins die couragierten Straftaten Mannings an, die sie für 35 Jahre hinter Gitter bringen sollten, bis Obama sie nach sieben Jahren begnadigte. Immer wieder wird ihr Verräter Adrian Lamo erwähnt, in der Form von nachgestellten Chats.

Der Fokus ist jedoch die Geschichte Mannings als Mensch der Öffentlichkeit. Es wird gezeigt, wie sie damit umgeht, beäugt, ver- und beurteilt zu werden.

„Ich werde das verdammt nochmal nicht mehr tun.“

Ab und zu werden TV- und Radio-Mitschnitte eingeblendet, die Manning aufgrund ihres Genders schmähen. Ob sie mit den Verbrechen der US-Army im Irak nur an die Öffentlichkeit gegangen sei, weil sie trans ist. Ob sie deswegen schwach und nicht für den Militärdienst geeignet sei.

Manning sagt dazu, dass sie „Druck verspüre, solche Wahrnehmung zu korrigieren“. Dass sie nicht beschämt darüber sei, eine Transfrau zu sein. Und dass sie in Freiheit gelernt habe, nicht mehr nach den Erwartungen anderen Menschen zu leben.

Der Film springt zwar auch in die Vergangenheit, als Manning Soldatin war: Wie sie sich fühlte, als „Intelligence Analyst“ bei der US-Army tagtäglich Karten für außergerichtliche Morde zusammenzustellen. Der Film bleibt aber in der Gegenwart.

Im Gespräch mit ihrer langjährigen Freundin Lisa Rein („Sie war alles, Lisa war Familie.“) reflektiert sie über ihre Arbeit, ihre nachfolgenden Taten, ihren Suizidversuch im Gefängnis und die nachfolgende Isolationshaft unter Beobachtung.

„Seitdem war ich tot.“

„XY Chelsea“ ist kein lustiger Film, eher traurig. Selbst als im letzten Drittel anhand ihrer sarkastischen Twitter-Kommentare versucht wird, Spaß am Leben auszudrücken, bleibt ein Fragezeichen über dem Menschen Manning.

In einer Szene stottert sie auf der Bühne inkohärent über ihre Leaks und kann den Fragen der Interviewerin nicht standhalten. Dort zeigt sich ihre Verzweiflung über die Ungerechtigkeiten dieser Welt, die im bisherigen Film immer wieder mitschwingt.

Im Anschluss wird ihre nachgestellte Einzelhaftzelle aus dem Jahr 2013 gezeigt, in der sie sich gerade einmal hinlegen konnte. Sie wird gefragt, wie sie in Isolationshaft überleben konnte. Sie antwortete, sie wäre tot gewesen, sie war am Leben, aber tot, und sei tot seitdem, „falls das irgendeinen Sinn ergibt“.

Sie wird nicht vergessen, dass es passierte. Und am glücklichsten war sie, als sie es für ein paar Momente vergaß. Sie würde nicht auf jemanden warten, der sie rettet, weil niemand wird sie retten.

Der Regisseur setzt Mannings außergewöhnliches Verhalten in Kontext. Mittels eines angemessen ruhigen Soundtracks und einer langsamen Erzählweise wird eine „Coming-of-Age-Geschichte“ erzählt, die genretypisch noch nicht ihr Ende fand.

Die Dokumentation ist aufgrund ihrer Ästhetik zeitgemäß, zeigt jedoch leider keinen roten Faden auf. Es springt zwischen verschiedenen Zeiten, die zwar von einander unterscheidbar sind, aber mehr Klarheit erhoffen lassen. Vielleicht, und dies lässt der Film erahnen, gibt es diese Klarheit im Leben von Chelsea Manning auch nicht.

Der Film läuft seit dem 7. Juni bei HBO Showtime und Amazon Prime.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

5 Ergänzungen

  1. Hallo zusammen,
    ich kann den Film bei Amazon Prime nicht finden. Wurde er schon wieder runtergenommen oder war er noch gar nicht online?
    Gruß
    Sven

    1. Hallo Sven. Ouh, tatsächlich wird der Film nur beim Amazon Prime aus den USA und UK gestreamed, bzw. zum „Mieten“ oder „Kaufen“ angeboten.

  2. Auf Chelseas twitter ( https://twitter.com/savemanning ) kann man die aktuelle Adresse zum ihr-Schreiben lesen:
    Chelsea Elizabeth Manning
    A0181426
    William G. Truesdale Adult Detention Center
    2001 Mill Road, Alexandria, VA 22314

    Und aus eigener Erfahrung bestätige ich:
    keine verzierten Umschläge, keine Karten, keine Bücher/Magazine senden,
    aber innen darf der Brief bunt sein !

    1. Ich hatte hier https://netzpolitik.org/2019/keine-kooperation-mit-grand-jury-chelsea-manning-in-haft-genommen/ schon mal drüber geschrieben, dass es noch weitere Bedingungen gibt, wie die Post zu sein hat. (Sonst kommt sie zurück (auch nach Europa) wie bei Dir, ist mehreren anderen auch passiert.)

      „Die Briefe müssen mit der Hand auf weißem Papier geschrieben sein. Karten oder Päckchen sind nicht erlaubt, außerdem keinerlei Bemalungen auf dem Briefumschlag.“

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.