§ 219a: Expert*innen halten Informationsverbot für verfassungswidrig

Selten war das Urteil der Sachverständigen in einem Bundestagsausschuss so eindeutig: Bei der gestrigen Anhörung zum Paragraphen 219a zerlegten sie den Gesetzentwurf der Koalition als widersprüchlich, unpraktisch – und womöglich verfassungswidrig.

Frauen vor dem Bundestag mit Schildern zu 219a
Frauen bei der Übergabe einer Petition gegen Paragraphen 219a vor dem Bundestag – das war vor mehr als zwei Jahren, aber der Konflikt hält an. CC-BY 2.0 Grüne Bundestagsfraktion

Es kommt nicht oft vor, dass die Aufmerksamkeit für ein Gesetz so groß ist, dass es auf seinem staubigen Weg durchs Parlament Schritt für Schritt begleitet wird. Die geplante Neufassung des Paragraphen 219, der das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche regelt, ist so ein Fall. Von Politikverdrossenheit hier keine Spur. Als gestern im Rechtsausschuss Expert*innen ihre Meinung zur geplanten Änderungen vortrugen, war es so voll, dass einige nicht mehr in den Saal passten.

Dabei ist die Sache im Grunde schon gelaufen. Den Entwurf hat die Koalition aus CDU und SPD vorgelegt, gemeinsam hat sie eine Mehrheit im Parlament. Passiert nicht ein Wunder, werden die Abgeordneten das Gesetz in den nächsten Wochen verabschieden. Die Anhörung jetzt: reine Formalität. Diese allerdings hatte es in sich. Denn selten war die Kritik an einem Gesetzentwurf so eindeutig wie an diesem Montagnachmittag zum Kompromiss 219a.

Acht Fachleute: Fast einstimmige Kritik

Eingeladen waren acht Expertinnen und Experten, darunter Strafrechtler wie Ärztinnen und Ärzte, die im Alltag mit den Auswirkungen des Paragraphen zu tun haben. Der Paragraph 219a im Strafgesetzbuch regelt nicht Schwangerschaftsabbrüche an sich, die in Deutschland illegal, aber unter bestimmten Umständen straffrei sind, sondern die Informationen darüber. Ärzt*innen und Ärzte, die etwa auf ihren Webseiten darüber informieren, dass sie Abbrüche durchführen, begehen demnach eine Straftat, die „Werbung für den Abbruch einer Schwangerschaft.“ Diese Regelung hatten Abtreibungsgegner*innen in der Vergangenheit genutzt, um Ärzt*innen anzuzeigen. Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wurde etwa zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf ihre Webseite auf diese Leistung hinweist und Frauen anbietet, weitere Informationen per E-Mail zu schicken.

Der Paragraph sollte gestrichen werden, das forderten nicht nur die Linke, die Grünen und die FDP in seltener Einhelligkeit, sondern bis vor einiger Zeit auch die SPD. Diese knickte allerdings ein und einigte sich mit der CDU um des Koalitionsfriedens willen auf den nun vorliegenden Kompromiss. Demnach soll das Informationsverbot bestehen bleiben, allerdings wird ein „Ausnahmetatbestand“ geschaffen, der es Ärzt*innen erlaubt, auf die Tatsache hinzuweisen, dass sie Abbrüche vornehmen. Für alle weiteren Informationen, etwa was Vor- und Nachteile bestimmter Methoden angeht, müssen sie allerdings auf die Webseiten bestimmter staatlich benannter Stellen verweisen.

„Verfassungsgemäß? Die Antwort lautet: nein“

Ulrike Lembke, die als Vertreterin des Juristinnenbundes sprach, hält diesen Spagat für widersprüchlich. Das Problem, dass Ärzt*innen selbst keine sachlichen Informationen zu ihren Leistungen bieten dürften, sei damit nicht behoben. Auch blieben die Ärztinnen und Ärzte durch die Regelung weiterhin angreifbar, wenn sie ihrer Pflicht zur Information nachkommen. Die „reproduktive Selbstbestimmung der Patientinnen, die Informationsfreiheit und das Recht auf freie Arztwahl“ bleibe damit „weiterhin unzumutbar eingeschränkt“.

Der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel geht noch weiter. Er sieht das Gesetz, wenn der Entwurf passieren sollte, schon als Fall für das Verfassungsgericht. Die Frage sei nicht, ob Schwangere durch die neuen Regelung Zugang zu Informationen erhielten. Es gehe vielmehr darum, dass Ärzt*innen für etwas mit Strafe bedroht werden, das laut Gesetz gewährt werden muss: die sachliche Information zu einem Abbruch. „Es geht … darum, ob eine Strafdrohung zur Verhinderung korrekter Hinweise auf rechtmäßige Hilfe in einer unzumutbaren Notstandslage verfassungsgemäß sein kann“, sagte Merkel. „Die Antwort lautet: nein.“

Verteidigt haben den Entwurf nur die beiden von der CDU geladenen Fachleute: Nadine Mersch als Vertreterin des Sozialdienst katholischer Frauen und der Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel von der Universität Augsburg.

Ärzte-Liste: Viele wollen sich nicht öffentlich nennen lassen

Immer wieder wurde deutlich: Was CDU und SPD dort mühevoll unter der Beteiligung von fünf Minister*innen ausgehandelt haben, mag ein Problem der Koalition lösen. Den Frauen und den Ärzt*innen, die derzeit vom Paragraphen 219a betroffen sind, bringt es wenig. So kritisierten gleich mehrere Expert*innen die Listen, die Justizministerin Katarina Barley und Familienministerin Franziska Giffey, beide SPD, als so große Errungenschaft gepriesen hatten. Die Bundesärztekammer soll in Zukunft alle Krankenhäuser und Praxen aufführen, in denen Abbrüche durchgeführt werden, monatsaktuell – und so für einen Überblick sorgen. Bislang waren solche Listen im Netz fast ausschließlich auf der Seite von radikalen Abtreibungsgegner*innen zu finden, flankiert von Bildern und Texten, die schockieren und abschrecken sollten. Eine Ausnahme ist diese Liste einer Wiener Klinik, die neutrale Informationen bietet und Adressen aus ganz Europa listet – weil sie rechtlich nicht dem §219a unterliegt.

Die Frauenärztin Nora Szász, die wie Kristina Hänel nach Paragraph 219a angezeigt wurde, weist darauf hin, dass diese Idee in der Praxis ungewollte Konsequenzen hat. Denn eine solche Liste bietet eben nicht nur betroffenen Frauen in einer Notlage einen Überblick über Ärzt*innen in ihrer Umgebung. Es wäre auch ein Service für die Gegner*innen der Selbstbestimmung. Sie suchen im Netz gezielt nach Praxen, um Anzeige zu erstatten und organisieren „Mahnwachen“ und „Gebete“ auf den Gehsteigen davor – Maßnahmen, die Ärzt*innen einschüchtern, stigmatisieren und, auch das betonen mehrere Expertinnen, bereits jetzt dazu führen, dass viele keine Abbrüche mehr vornehmen wollen.

Szász fordert, Ärztinnen und Ärzte müssten deshalb selbst entscheiden dürfen, „ob sie auf diesem Weg öffentlich in Erscheinung treten möchten oder nicht.“ In der derzeitigen Stimmung, sagt Szász, werde es viele geben, die nicht in eine Liste auftauchen wollten. Das bedeute aber auch, dass die Informationen, anders als Barley und Giffey betonen, nicht vollständig sein werden. Sie vermisst im Entwurf Maßnahmen, um Schwangere und Ärzt*innen vor solcher Schikane zu schützen, etwa Schutzmeilen rund um die gelisteten Praxen oder Ordnungsstrafen gegen die so genannten Mahnwachen.

Kritische Stimmen, geladen von der SPD

Dass sowohl Ulrike Lembke als auch Nora Szász den Entwurf so deutlich kritisieren, ist bemerkenswert, denn beide sind von der SPD in den Ausschuss eingeladen worden, die den Entwurf mit vorlegt. Das machte die Grünen-Abgeordnete Ulle Schauws öffentlich, als sie die Liste der Sachverständigen twitterte, inklusive Hinweis, wer wen geladen hatte. Es ist kein Geheimnis, dass es vor allem unter Frauen in der SPD mächtig knirscht. Auch der FDP-Abgeordnete Stefan Thomae hat angekündigt, eine Normenkontrollklage beim Verfassungsgericht anzuregen. Dazu müsste ein Viertel der Bundestagsabgeordneten eine entsprechende Antrag stellen. Selbst wenn der Entwurf bald verabschiedet wird, es sieht nicht so aus als würden sich die Debatten um den Paragrafen 219a bald beruhigen.

Update: Die Abstimmung findet bereits am Donnerstag, dem 21.2. statt. Welche Abgeordneten wie gestimmt haben, kann man anschließend hier auf der Seite des Bundestages einsehen.

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2 Ergänzungen

  1. Keine Ergänzung, aber eine Frage:

    So wichtig das Anliegen möglicherweise ist, wieso ist das ein Thema von netzpolitik?

    1. Es geht um das gesetzliche Verbot von Informationen auf der Webseite von Ärzt*innen. Wie sollte das nicht Anliegen von netzpolitik.org sein? Auch wenn die Frage womöglich nicht böse gemeint ist, uns fällt auf, dass sie im Grunde nur in zwei Situationen gestellt wird: Wenn es um die Rechte von Queers/Frauen geht oder die Rechte von Nicht-Weißen/Nicht-Deutschen. Berichten wir dagegen über Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz oder das Framing-Gutachten der ARD, fragt sich offenbar niemand, was das mit Netzpolitik zu tun hat. Um es einmal deutlich zu sagen: Gerade auf die Rechte derjenigen zu schauen, die qua Struktur ohnehin schon unterprivilegiert sind, ist zentrales Anliegen von netzpolitik.org und wird es auch bleiben.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.