„Wer die Infrastruktur besitzt, wird wichtig“: Digitale Zahlungen, Scoring und Blockchains im globalen Süden

Im Interview erklärt die Medienwissenschaftlerin und Politische Ökonomin Rachel O’Dwyer, wie Unternehmen versprechen, Menschen ohne Bankkonto an die globale Wirtschaft anzuschließen. Sie kritisiert Social-Media- und Bezahlplattformen, die immer mehr Datenpunkte verknüpfen und intransparent über unser Leben entscheiden. Bargeld hat noch eine Rolle zu spielen, sagt sie.

Dies ist eine von uns übersetzte Fassung des Interviews aus dem englischen Original.

Rachel O’Dwyer (@Rachelodwyer) erforscht wachsende Daten-, Mobilnetzwerk- und Zahlungsmärkte und verbindet dafür Soziologie, Anthropologie und Politische Ökonomie. Sie hat über neue Finanztechnologien und ihre soziale Nutzung geschrieben, unter anderem in Ours to Hack and to own und dem Money Lab Reader. Sie forscht am CONNECT Centre for Future Networks and Communications am Trinity College Dublin. Wir haben sie auf dem Kunst- und Technologiefestival transmediale getroffen und mit ihr über die Versprechen von finanzieller Inklusion im globalen Süden gesprochen.

Was ist finanzielle Inklusion?

netzpolitik.org: Das World Food Program der Vereinten Nationen will Blockchains als eine Waffe im Kampf gegen den Hunger nutzen. Das Pilotprojekt in einem Flüchtlingscamp in Jordanien soll dieses Jahr ausgeweitet werden. Das ist nicht das erste Mal, dass wir Behauptungen dieser Art rund um den Einsatz neuer Technologien hören. Sind Sie in ihrer Arbeit über die Entwicklung, Nutzung und sozialen Implikationen von Finanztechnologien – von denen Blockchains nur eine sind – Behauptungen wie diesen begegnet?

Rachel O’Dwyer: Ja, unbedingt. Der Anspruch, Blockchains oder andere Technologien als Mechanismus für sozialen Wandel zu nutzen, ist mit einer umfassenden Geschichte von Arbeit rund um Informations- und Kommunikationstechnologien für Entwicklung oder für den globalen Süden verbunden. Blockchains im Speziellen sind Teil eines umfassenden Projekts, das manchmal als „finanzielle Inklusion“ bezeichnet wird. Es geht darum, Gemeinschaften von Menschen, die kein Bankkonto haben und manchmal die „Unbanked“ genannt werden, zu gruppieren. Ich denke, das kommt aus einer Perspektive, in der die Mehrheit der Menschen im globalen Süden heute Zugang zu Mobilfunkkommunikation haben, aber tatsächlich keinen Zugriff auf ein Bankkonto haben. Deshalb können Sachen wie Überweisungen oder Zugang zu Krediten ziemlich schwer sein.

netzpolitik.org: Neben Kosteneinsparung lautet eines der selbsterklärten Ziele des World Food Program in Jordanien, Profile von Menschen herzustellen. Diese könnten als Bonitätsgeschichte gelten oder zu einer solchen weiterentwickelt werden und könnten dann dazu genutzt werden, Menschen zu identifizieren und ihre Vertrauenswürdigkeit zu bewerten.

Rachel O’Dwyer: Ja. Noch einmal: Wegen dem fehlenden Bankkonto gibt es vielleicht auch zu wenig Daten, die die Kreditwürdigkeit der Menschen unterstützen könnte. Generell basiert die Einstufung von Kreditwürdigkeit auf ihren Bankkonten, Darlehen, die sie in Anspruch nehmen und ob sie diese über die Zeit zurückgezahlt haben.

Was wir auch sehen, ist, dass einige der Unternehmen im Bereich von Finanztechnologien neue Arten von algorithmischem Kredit-Scoring für die „Unbanked“ entwickeln, oft basierend auf der zunehmenden Nutzung von Smartphones. Also verkuppeln sie Daten von existierenden Bezahlungssystemen.

netzpolitik.org: Können Sie das ausführen?

Rachel O’Dwyer: Während des letzten Jahrzehnts gab es einen Aufstieg von mobilen Zahlungen. Menschen, die vielleicht keinen Zugang zu einem Bankkonto oder dem Finanzwesen hatten, benutzen Handys als eine Technologie für globale oder inländische Überweisungen und als einen Zahlungsweg für Rechnungen oder für Dinge, die sie unterwegs bezahlen.

Unternehmen benutzen die Daten, die von diesen mobilen Zahlungsplattformen wie M-Pesa produziert werden. Sie verbinden sie mit dem Nutzerverhalten auf sozialen Netzwerken, um neue Arten von algorithmischem Kredit-Scoring zu erstellen. Wir sind uns nicht wirklich im Klaren, was die tatsächlichen Metriken dieser Systeme sind, welche Arten von Datenpunkten signifikant sind. Aber natürlich gehört dazu, ob Sie in M-Pesa Geld sparen oder nicht, wie Ihre Zahlungen aussehen, wem Sie Geld schicken, von wem Sie Geld empfangen – aber eben auch ihre sozialen Netze und was diese tun.

Außerdem gehören dazu Datenpunkte, die obskur erscheinen, es aber offensichtlich nicht sind. Sogar die Art und Weise, wie sie ihr Handy aufladen kann einen Einfluss auf die Bewertung der Kreditwürdigkeit haben. Es gibt wenig Transparenz rund um die Fragen, welche Arten von Handlungen oder welche Arten von Daten für die Erstellung dieser Scores signifikant sind.

Ich denke, meine Perspektive auf vieles davon ist ziemlich zynisch, weil ich das Gefühl habe, dass Unternehmen, die verschiedene Arten von Innovationen für die „Unbanked“ und den globalen Süden entwickeln wollen, in vielen Fällen nicht so sehr vom wirklichen sozialen Nutzen motiviert sind, sondern davon, im Prinzip neue Arten von Finanzmärkten zu schaffen.

netzpolitik.org: Die Argumentation, dass finanzielle Inklusion Ermächtigung bedeutet, bezieht sich oft auf individuelle Zahlungen und Kredite, die das individuelle Leben besser machen. Sie haben ein umfassenderes Argument gemacht und in etwa gesagt, dass es, wenn wir über Geld sprechen, eine Dimension gibt, die über diese individuellen Zahlungen hinaus geht.

Rachel O’Dwyer: Bill Maurer, ein Anthropologe, der Geld erforscht, hat eine prägnante Art, über Geld als Technologie zu sprechen. Er sagt, dass Geld sowohl eine Wertmarke (Token) als auch eine Schiene ist. Es ist also ein Trägerinstrument oder etwas, das zirkuliert, das etwas über den Preis aussagt und von Hand zu Hand weitergegeben werden kann. Aber es ist auch eine Infrastruktur, auf der diese Wertmarken zirkulieren. In einem öffentlich vorgegebenen Geld wie Dollar, Euro, oder britisches Pfund, ist dieses System Ihre Zentralbank. Mit der zunehmenden Verbreitung neuer Arten von digitalen Zahlungen werden zunehmend private Plattformen zu dieser Schieneninfrastruktur. Es können Social-Media-Plattformen oder Telekommunikationsdienstanbieter sein. Safaricom, ein Mobilfunknetzbetreiber, ist für M-Pesa sehr bedeutend. Also: Wer diese Schienen besitzt, wird sehr wichtig.

Der soziale Nutzen von Blockchains

netzpolitik.org: Einer der Initiatoren des Blockchain-Projekts des World Food Program fantasierte öffentlich über das Potential von Smart Contracts in der humanitären Hilfe. Er sagte, dass die Bewilligung von Nahrungsmitteln automatisiert mit Bedingungen verknüpft werden könnte – beispielsweise die, dass Ihr Kind regelmäßig zur Schule geht. Was für eine Art von Autorität ist das?

Rachel O’Dwyer: Orwellisch? Ich weiß es nicht, aber es ist erschreckend, oder nicht? Es ist nicht so, dass sie diese Daten nur sammeln. Die Daten werden in einer bestimmten Art und Weise ausführbar. Wie Sie sagen, der Zugang zu einem grundlegenden Menschenrecht wie Nahrung oder Obdach könnte an all diese Bedingungen geknüpft werden, was sehr beunruhigend ist.

netzpolitik.org: Viele sprechen über Blockchains als Instrument für die Dezentralisierung von Macht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen: Waren diese Hoffnungen unangebracht?

Rachel O’Dwyer: Ich denke, das ist der springende Punkt. Denn historisch gesehen (lacht) – wir reden über vier oder fünf Jahre – sprachen wir im Fall der frühen Iterationen der Blockchain, wie der von Bitcoin, über ein dezentralisiertes und öffentliches Register (Ledger). Was wir zunehmend sehen, ist ein Schub in Richtung permissioned Ledgers“, also private Register. Dort erscheinen wieder private Akteure, die sie kontrollieren. Ich nehme an, dass viele der Artikulationen von Blockchains, die wir jetzt sehen, permissioned sind. Das heißt, dass nicht jeder Zugriff auf die Daten oder Kontrolle darüber hat. Also wird Blockchain im Prinzip zu einem Buzzword für eine jegliche Art einer privaten Datenbank.

netzpolitik.org: Start-ups, Unternehmen, humanitäre Akteure, aber auch die Weltbank oder die Europäische Kommission sagen in Bezug auf Blockchains manchmal: „Wir müssen schnell sein und einfach experimentieren“. Aber wir sprechen, wie Sie sagen, über komplizierte, teils intransparente Systeme, deren Probleme mit Sicherheit, Datenschutz und nicht zuletzt ihrem Potential für Überwachung nicht mal eben aus der Welt geschafft werden können. Wie können wir damit umgehen?

Rachel O’Dwyer: Es ist interessant. In gewisser Hinsicht ist die Geschwindigkeit, mit der Dinge wirklich aufgestellt und in Betrieb genommen werden, ziemlich langsam. Dieses Jahr ist der zehnte Jahrestag von Satoshi Nakamotos White Paper, das eine Blockchain beschreibt und doch haben wir nicht sehr viele Systeme gesehen, die tatsächlich Blockchains benutzen. Wir haben immer wieder Proof-of-Concept-Ideen darüber gesehen, wie sie möglicherweise genutzt werden könnten. Vielleicht ist die Geschwindigkeit, auch wenn sie schnell erscheint, in Wirklichkeit ziemlich langsam.

In Bezug auf Ihre andere Frage danach, wie Menschen mit diesen Systemen kritisch umgehen können: Ich bin mir nicht sicher, was die Antwort darauf ist. Ich denke, eine Frage ist, Unterhaltungen darüber anzustoßen. In mancher Hinsicht ist es ein kompliziertes System, aber andererseits können wir es als eine verteilte Datenbank verstehen, die bestimmte Merkmale wie ein gewisses Maß an Überprüfbarkeit, Transparenz und Unveränderbarkeit hat; davon könnten wir erst einmal ausgehen. Vielleicht ist ein Teil der öffentlichen Auseinandersetzung, sie zu demystifizieren und mehr Debatten auszutragen, bevor die Dinge jenseits eines Proof of Concept gebracht werden. Natürlich haben wir diese Debatten auf der transmediale mit vielen Künstlern und Designern. Vielleicht können kreative Innovation und das Geschichtenerzählen ein Weg für Menschen sein, sich damit auseinanderzusetzen. Aber die Antwort ist, dass ich es nicht wirklich weiß.

Die Rolle von Bargeld

netzpolitik.org:Finanztechnologien sind manchmal mit der Vision einer bargeldlosen Gesellschaft verbunden, in der Zahlungen und Transaktionen reibungslos verlaufen und Individuen ermächtigen. Vor dem Hintergrund dessen, was wir bisher diskutiert haben, ist dieses Versprechen nicht etwas zu vereinfacht?

Rachel O’Dwyer: Ich denke, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn es darum geht, was hier problematisch ist. Wir beobachten die Anstrengung von Regierungen hin zu bargeldlosen Gesellschaften. Ich nehme an, sie argumentieren, dass das sehr viel effizienter sein wird. Innerhalb des letzten oder der letzten zwei Jahre haben wir einen massiven Vorstoß der Demonetarisierung in Indien, wo der 500-Rupee-Schein im Prinzip über Nacht überflüssig gemacht wurde. China spricht sich mit der Einführung von Union Pay auch für bargeldlose Gesellschaften aus. In Europa liegen Schweden und, ich nehme an, das Vereinigte Königreich an der Spitze. Aber Bargeld hat mehrere nützliche Eigenschaften, etwa dass es weitgehend anonym ist. Es ermöglicht all diese Transaktionen, die bis zu einem bestimmten Punkt anonym sind.

Es gibt verschiedene Initiativen, die Menschen vom Bargeld weg drängen sollen und sie vielleicht auch dazu bringen sollen, sich für die Nutzung von Bargeld zu schämen. Und das wird in gewisser Weise von verschiedenen Finanztechnologieunternehmen im Investment- und Zahlungsbereich verstärkt. Aber ich nehme an, dass das Problem mit digitalen Zahlungen ist, dass all Ihre Transaktionsdaten dann auch gespeichert werden. Diese können mit den anderen Arten von Daten verbunden werden – Ihre Personendaten, Ihre Biometrie, Ihre demografischen Daten oder Ihre Daten aus sozialen Netzwerken. Das ist es, was wir an einigen dieser neuen algorithmischen Kredit-Scoring-Systeme, über die wir schon gesprochen haben, beobachten. Sie nutzen dann all diese Daten, um Entscheidungen über uns zu treffen. Und diese Entscheidungen können sein: Sind sie ein Terrorist? Sind sie kreditwürdig? Was wir sehen ist, dass diese Systeme nicht unbedingt in irgendeinem Sinne neutral sind. Sondern, dass sie tatsächlich oft bestehende Kreditkasten und Ungleichheiten reproduzieren.

netzpolitik.org: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Eine Ergänzung

  1. ich brauch keinen der mir immer wieder das gleiche vorjammert ich weis die probleme selbst. man sollte endlich mal Lösungsansätze bieten und diskutieren.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.