Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen: Die „drohende Gefahr“ in Polizeigesetzen

Kann das umstrittene bayerische Polizeigesetz eine Vorlage für ein Musterpolizeigesetz für die Bundesländer werden? Und darf eine „drohende Gefahr“ ohne einen konkreten Verdacht einer Straftat zu polizeilichen Zwangs- oder Überwachungsmaßnahmen führen? Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags und die Neue Richtervereinigung bewerten die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse kritisch.

Gefährliche Gedanken? CC-BY-NC 2.0 larrylorca

Zwei neue juristische Stellungnahmen setzen sich mit den umstrittenen Überarbeitungen von Polizeigesetzen in Deutschland auseinander. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags gehen der Frage nach, ob das umstrittene bayerische Polizeigesetz eine Vorlage für eine bundesweite Angleichung in einem Musterpolizeigesetz sein könnte. Die Neue Richtervereinigung (NRV) untersucht am Beispiel der Polizeigesetznovelle in Brandenburg einen zentralen Aspekt der Reformen: die Einführung einer neuen Gefahrenkategorie ins Polizeirecht. Dabei geht es um die Rechtsbegriff der „drohenden Gefahr“, der nicht nur im geplanten Polizeigesetz Brandenburg Konjunktur hat.

Der Bericht der Bundestagswissenschaftler zur rechtlichen Bewertung der „Ausweitung polizeilicher Befugnisse in Deutschland und Europa“ (pdf) widmet sich drei besonders umstrittenen Bereichen, bei denen zu befürchten ist, dass sie bundesweit Eingang in die Polizeigesetzgebung nehmen: Die Frage, wie konkret oder vage eine Gefahr sein muss, damit die Polizei Menschen überwachen oder festsetzen darf. Damit verbunden wird die Präventivhaft diskutiert, die in Bayern erstmals keine feste zeitliche Obergrenze hat. Ob ein solcher potentiell unbegrenzter Freiheitsentzug bei einer polizeilichen Präventivhaft verhältnismäßig ist, bewerten die Bundestagswissenschaftler in einem zweiten Teil mit kritischem Blick. Der dritte Bereich ist dann die Gendatennutzung, die in Form der Erweiterten DNA-Analyse in das bayerische Polizeigesetz Einzug gehalten hat. In einem letzten Teil des Berichts sind vergeichend sehr kurze Zusammenfassungen der polizeilichen Befugnisse in anderen europäischen Staaten erfasst.

Menschen und ihre potentielle Gefährlichkeit

Besonders interessant ist die Bewertung der heftig umstrittenen neuen Begrifflichkeit der „drohenden Gefahr“. Die Wichtigkeit der polizeilichen Gefahrenabwehr wurde in den vergangenen Jahren immer mehr betont. Das dürfte dem allgemeinen Zeitgeist geschuldet sein, der trotz positiver Entwicklung bei der Verbrechensbekämpfung und -aufklärung Ängste und Gefahren überbetont. Von der Ermittlung bei Verdacht auf konkrete Straftaten wurden Eingriffsbefugnisse immer mehr in Richtung einer Bewertung von Menschen und ihrer potentiellen Gefährlichkeit verschoben.

Die Fachgruppe Verwaltungsrecht der NRV sieht die erheblichen Grundrechtsbeschränkungen kritisch und hält den Einbau der „drohenden Gefahr“ in das Polizeirecht für schlichtweg überflüssig, wie sie in der Pressemitteilung zur Stellungnahme (pdf) betont:

Zunächst bedarf es der Rechtsfigur der „drohenden Gefahr“ schon gar nicht. Im Vorfeld von konkreten Gefahren kann vielmehr auf die Rechtsfigur des „Gefahrenverdachts“ zurückgegriffen werden, die seit langem ihren Niederschlag in einer Vielzahl von polizeigesetzlichen Eingriffsregelungen gefunden hat.

Die „drohende Gefahr“ soll von Personen ausgehen. Allein über siebenhundert Menschen wurden beispielsweise vergangenes Jahr von den Polizeien der Länder und vom BKA als „islamistische Gefährder“ eingestuft. Um zu einer solchen Einstufung zu gelangen, werden Daten mit einem Analysesystem (Radar-ITE) aus mehr als siebzig Merkmalen über Verhalten, Einstellungen und Lebensverlauf zusammengezogen und bewertet. Das System wirft dann in drei Stufen (moderat, auffällig, hoch) eine Risikobewertung aus. Knapp die Hälfte dieser Bewertungen hielt zwar einer Überprüfung nicht stand, aber mehr als eine Einschätzung ist die Einstufung als „Gefährder“ ohnehin nicht.

Das Bundesverfassungsgericht und die „drohende Gefahr“

Doch es haftet wie ein Stigma an den betroffenen Menschen, weil einige polizeiliche Maßnahmen damit erst möglich werden. Rechtliche Gegenwehr ist nicht vorgesehen, denn niemand wirft einem „Gefährder“ eine konkrete Straftat oder die Vorbereitung einer solchen vor, sonst hätten man ja bereits polizeiliche Möglichkeiten, um aktiv bei der Verhinderung oder Ermittlung zu werden.

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Gebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Bild von hgn_rocket_science, CC BY-NC-ND 2.0.

Entsprechend handelt es sich um eine „erhebliche Vorverlagerung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse“, wenn eine „drohende Gefahr“ zu polizeilichen Zwangs- oder Überwachungsmaßnahmen führt. Ein Knackpunkt bei der Frage, wann gegen einen vermuteten „Gefährder“ polizeilich vorgegangen werden darf, ist nach der Bewertung der Bundestagswissenschaftler die Terrorgefahr.

Das liegt vor allem daran, dass im Rahmen des Urteils gegen das teilweise verfassungswidrige BKA-Gesetz neue Grenzen gesetzt wurden. Das Bundesverfassungsgericht erachte bei „drohender Gefahr“ nämlich „lediglich Überwachungsmaßnahmen für zulässig“, ob aber bereits im Vorfeld einer Gefahrenlage auch Eingriffsmaßnahmen zulässig“ sind, werde das Gericht wohl erst noch entscheiden müssen. Dies würde aber „im bisherigen polizeirechtlichen Regelungsgefüge“ einen „Paradigmenwechsel“ darstellen.

Die Ausweitung der Befugnisse des BKA bezieht sich zudem auf terroristische Gefahren und überragend wichtige Rechtsgüter, und hier ist ein entscheidender Unterschied: Denn im bayerischen Polizeigesetz werden auch weitere Rechtsfelder eröffnet, wie beispielsweise der Eigentumsschutz oder die sexuelle Selbstbestimmung und eben nicht nur die Terrorbekämpfung.

Darin sehen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags eine klare Ausweitung, die über das Urteil des höchsten Gerichts hinausgeht:

So betraf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Regelungen des BKA-Gesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Eine Aufnahme der „drohenden Gefahr“ in das allgemeine Polizeirecht schafft hingegen eine sachlich deutliche Ausweitung der polizeilichen Befugnisse, die über die Bekämpfung von Terrorismus hinausgehen.

Doch auch wenn Terrorbekämpfung als Begründung für die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse angegeben wird, wie es in Bayern, aber auch in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Brandenburg der Fall ist, so sollte dies nicht als Totschlagargument betrachtet, sondern hinterfragt werden. Die NRV findet dafür im Falle von Brandenburg deutliche Worte:

Das Gesetzesvorhaben führt insoweit an, die Bedrohung durch eine angespannte Terror- und Gefährdungslage habe mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 eine neue Stufe auch für das Land Brandenburg erreicht und könne ähnlich wie die Vorfälle in Würzburg oder Ansbach auch vergleichbare Orte im Land Brandenburg treffen. Diese Behauptungen sind jedenfalls vor dem Hintergrund der bisherigen Presseberichterstattung in der Sache Breitscheidplatz („multiples Behördenversagen“) und der gerade erst begonnenen Aufarbeitung durch einen Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus genauso wenig belegt, wie jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt angebliche Gesetzes- und damit Sicherheitslücken bestehen würden. Diese werden auch gar nicht erst genannt.

Den bloßen Verweis auf Anschläge mit teilweise terroristischem Hintergrund ohne jegliche Begründung, ob fehlende polizeiliche Befugnisse überhaupt eine Rolle dabei spielten, dass das Verbrechen nicht verhindert werden konnte, genügt der NRV nicht. Als Begründung für eine Ausweitung des Polizeirechts ist der Berliner Anschlag denkbar schlecht gewählt, zumindest nach den bisherigen Untersuchungen gibt es keine Hinweise, dass der Polizei irgendwelche Befugnisse gefehlt hätten.

„Systematische Undurchsichtigkeiten“

Aber die fragwürdigen Begründungen in den Polizeigesetzen sind nicht das einzige Problem mit der Vorverlagerung von Verdachtsmomenten. In dem Papier der Bundestagswissenschaftler wird die im Rahmen der Diskussion zu den neuen Polizeigesetzen vorgetragene Kritik angesprochen, dass man nicht ins Blaue hinein, sondern aus stichhaltigen Gründen polizeilich tätig werden müsse:

Die Regelung breche mit dem im Sicherheits- und Verfassungsrecht verwurzelten Ordnungsprinzip, wonach ein Tatverdacht oder eine konkrete Gefahr für ein polizeiliches Handeln vorliegen müsse. Ferner beinhalte die Regelung eine Vielzahl unbestimmter und neueingeführter Rechtsbegriffe sowie systematische Undurchsichtigkeiten, die zu einer Unbestimmtheit der Regelung führen würden.

Die vagen Verdachtsmomente sind also in den neuen Polizeigesetzen oder Entwürfen auch noch mit unklaren Begriffen gespickt. Das sieht auch die NRV ähnlich und spricht von „Diffusitäten und Ambivalenzen“ bei den Formulierungen für das geplante brandenburgische Polizeigesetz. Angesichts der lauter werdenden Kritik vor allem von Juristen wird am Ende wohl wieder das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen.

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10 Ergänzungen

  1. Als sich die Polizei noch rechtfertigen musste…

    Kann sich überhaupt noch jemand daran erinnern, dass sich früher – in der alten BRD – die Polizei vor den Bürger/-innen “rechtfertigen“ musste, wenn sie diese zur Identitäts-/Personalienfeststellung anhielt? In allen Polizeiaufgabengesetzen (PAG) der alten Bundesländer war die “zweischichtige Polizeigefahr“ (bzw. “dreischichtige Polizeigefahr“) verankert, welche diese polizeiliche Maßnahme nur zuließ, wenn ein Grund/Anlass (z.B. Straftat/Ordnungswidrigkeit) vorlag. Erst dann durfte die Polizei, in Verbindung mit einer sog. Befugnisnorm/Eingriffsermächtigung (nach Polizeirecht, Strafprozessordnung), eine Person “zur Identitätsfeststellung anhalten“, weil dies immer einen Eingriff in die Freiheits- (Art. 2 GG) und Persönlichkeitsrechte der Bürger/-innen darstellt.
    Seit den 1990er Jahren wurde dies, mit der sog. “anlassunabhängigen Identitäts-/Personalienfeststellung“ ins Gegenteil verkehrt. Fortan mussten sich die Bürger/-innen quasi vor der Polizei rechtfertigen, warum sie sich wann und wo aufhielten. Jeder kann seit langer Zeit, vielerorts und grundlos (“anlassunabhängig“), von der Polizei kontrolliert werden. Diese Gesetzes-/Befugnisnorm ist – seit mehr als 20 Jahren – fester Bestandteil zahlreicher PAG geworden.
    Und heute, da gilt auch keine Unschuldsvermutung mehr, können bspw. in Bayern, Personen – ohne konkreten Verdacht auf Straftaten – bis zu drei Monate in Polizeigewahrsam (zwar m. “Richtervorbehalt“ aber o. Anklage) genommen werden. Das “Trennungsgebot“ zwischen Polizei und Geheimdiensten existiert nicht mehr: In Hessen setzt die Polizei Spionage-Software, sog. Staatstrojaner (Analyse-Software “HessenDATA“ der US-Firma Palantir) gegen die Bürger/-innen ein – die Hessische Polizei spielt somit Geheimdienst! Im sächsischen Plauen (Vogtland) setzt ein privater Sicherheitsdienst (“Citystreife“) als offizieller “Polizeipartner“ und im Auftrag der Stadtverwaltung die örtliche Polizeiverordnung durch; m.E. ein Verstoß gegen das Gewaltmonopol und den Artikel 33 Abs. 4 Grundgesetz.
    Sollen die Bürger/-innen also einem Staat vertrauen, der ihnen Misstraut und das Grundgesetz “aushöhlt“?

    1. Leider alles falsch, was du geschrieben hast. 16 Bundesländer haben auch 16 verschiedene PAGs und unterschiedliche Inhalte. Angefangen von Putativgefahr bis zum finalen Rettungsschuss ist alles festgelegt und im Laufe der Jahre durch Gerichte und Parlamente/Stadtsenate erweitert worden. Auch sind die ‚Geheimdienste‘ organisatorisch und rechtlich voneinander getrennt mit eigenen Aufgaben und Befugnissen. Anfänger.

      1. Was hat denn der Begriff Putativgefahr in Deinem Argumentationsversuch und in diesem Zusammenhang verloren? Sie (die Putativgefahr) ist nicht „…im Laufe der Jahre durch Gerichte und Parlamente/Stadtsenate erweitert worden.“
        Die Putativgefahr beschreibt dabei eine subjektive Gefahrenlage, bei der eine Behörde irrig eine Gefahr annimmt, wobei diese Fehleinschätzung auf einer unvertretbaren und damit pflichtwidrigen Einschätzung der Situation beruht.

        1. @Tim. Leider auch alles falach, was du geschrieben hast. Putativgefahr und Rettungsschuss waren bis vor wenigen Jahren nicht gesetzlich verankert. Dies nur als Beispiel für die Wandelfähigkeit. Und was hier niemand versteht ist die Tatsache, dass die Gesetze sich permanent den Umständen anpassen. Ein Polizeigesetz von 1967 wird kaum in das Jahr 2018 passen.

      2. „Putativgefahr“ und „finaler Rettungsschuss“, genau darum geht es in der aktuellen Diskussion nicht. Bitte hier nicht versuchen Äpfel mit Birnen zu vergleichen.

  2. Paradigmenwechsel,weniger aber dafür gut ausgebildete Polizist/innnen/en,die nicht Autoritär mit Autorität verwechseln,wäre mal was Neues.
    Qualifikation ist ein anderes Wort dafür.

    1. (…) “Polizist/innnen/en,die nicht Autoritär mit Autorität verwechseln“ (…)

      Zur Zeit kann man wirklich den Eindruck bekommen, dass dem so ist. Zweifelhafte Hausdurchsuchungen gegen Computeraktivisten (z.B. “Zwiebelfreunde“ u. Dortmunder Wissenschaftsladen im “Langen August“), der Polizeiübergriff auf den israelischen Professor in Bonn und aktuell die Misshandlungsvorwürfe gegen Leipziger Polizeibeamte; diese sollen festgenommene Graffiti-Sprayer im Connewitzer Polizeiposten misshandelt haben. (Leipziger Volkszeitung, 11.08.18)
      Die Tagesschau und das Fernsehmagazin Report Mainz (ARD) haben sich diesem Thema kürzlich angenommen:

      “Polizeigewalt meist ohne Konsequenzen“

      http://www.tagesschau.de/inland/monitor-polizeigewalt-103.html

  3. Alleine die o.g. Fragestellung ist in unserer sog. „Demokratie“ völlig inakzeptabel. Sie impliziert wie wir uns zukünftig in einem Polizeistaat einzurichten haben. Bürgerrechte gegen eine willkürlich operierenden OrdnungsM a c h t sind nicht mehr erwünscht. Ich erinnere, daß das Trennungsgebot zwischen den 3 Gewalten erst das demokratische Prinzip in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat ausmacht + stringent einzuhalten sind. Die Gedankenspiele alleine, wie Polizisten in ihrer ideologischen Kurzsichtigkeit durch vereinfachte „Handlungsweisen“ effizienter + effektiver über uns „herfallen dürfen“ erinnert mich an das 3. Reich. Bereits jetzt gibt es für den Bürger keinen ausreichenden Schutz, da es an objektiven + neutralen Behörden (Justiz = Staatsanwaltschaften + Gerichte) erheblich mangelt.

    1. …dann sucht euch einen gerechteren Staat auf dieser Welt aus. Ihr habt immerhin die Wahl zwischen nahezu 200 Ländern. Viel Glück.

      1. @meine Kommentare werden immer gelöscht

        Wenn Sie sich immer am Schlechteren orientieren,dann plädieren Sie sicherlich auch konsequent dafür, dass Ihr Einkommen nicht erhöht wird,weil in vielen Ländern weniger verdient wird .:-)

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