Polizeigesetz: Schwere Mängel im niedersächsischen Entwurf

Das niedersächsische Polizeigesetz sollte eigentlich bald verabschiedet werden. Doch der rechtliche Beratungsdienst des Landtags könnte dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machen und listet akribisch Ungenauigkeiten und Falltüren auf. Das Lesen lohnt sich für alle, die sich derzeit mit der Zukunft der Polizei in Deutschland beschäftigen.

Schild: Polizei
Die Polizei NRW erntete Kritik für ihre Nutzung der Software von Palantir – jetzt auch von der Landesdatenschutzbeauftragten. CC-BY-NC 2.0 tramani sagrens

Aktivistinnen haben auf freiheitsfoo.de die Vorlage der niedersächsischen Landtagsjuristen zum neuen Polizeigesetz veröffentlicht. Das Dokument gibt Einblicke in den Schlagabtausch zwischen dem Innenministerium und dem hauseigenen rechtlichen Beratungsdienst des Landtags. Der liefert neue juristische Argumente gegen die Vorverlagerung des polizeilichen Eingreifens.

Bereits im August hörte der zuständige Innenausschuss in Hannover an drei Tagen externe Sachverständige an, die teils erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken und Zweifel an der praktischen und technischen Umsetzbarkeit äußerten. Auch netzpolitik.org hat schriftlich Stellung genommen. Der interne Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) des Landtags hat nun noch eins draufgesetzt und in einem 64-Seiten-Dokument detailliert die Mängel des Gesetzentwurfs dargelegt.

Dabei prüfen die Hausjuristen die Regelungen anhand von praxisnahen Szenarien auf ihre Bestimmtheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. So wird etwa die Frage aufgeworfen, ob im Zuge eines Kontaktverbots, „auch der Kontakt zu Familienmitgliedern oder Mitbewohnerinnen/Mitbewohnern in einer Wohngemeinschaft verboten werden kann, was zur Folge hätte, dass dann ggf. die Wohnung aufgegeben werden müsste“. Zudem zählt der GBD akribisch die Unterschiede zu bisherigen Regelungen auf und beruft sich konsequent auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts.

Wer entscheidet, was eine „Gefahr“ ist?

Die Befürworter des Gesetzes zeichnen ein Bild großer Bedrohung in Niedersachsen, um damit die verschärfte Überwachung zu rechtfertigen. Tatsächlich könnte das Gesetz sprachlich dazu beitragen, das allgemeine Sicherheitsgefühl zu verschlechtern, denn die Liste der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ soll ganz einfach verlängert werden. Der GBD kommentiert die gesetzgeberische Umdefinierung:

Diese neu eingefügten Straftaten können allerdings noch nicht einmal dem Bereich der mittleren Kriminalität zugerechnet werden, weil sie im Höchstmaß mit weniger als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, also das Strafmaß des einfachen Diebstahls oder Betrugs noch unterschreiten.

Auch die Liste der Straftaten, die als „terroristische Straftat“ gelten, wollen SPD und CDU ausweiten. Das lehnen die Juristen vom GBD ab. Sie schreiben:

Die Erweiterung des Begriffs der terroristischen Straftat gegenüber dem [Bundeskriminalamtgesetz] halten wir […] für verfassungswidrig und überdies in sich widersprüchlich, sodass wir die Streichung der [entsprechenden Paragrafen] aus dem Katalog empfehlen.

Wann ist eine Gefahr „dringend“?

Die Innenpolitiker von CDU und SPD wollen den Zeitpunkt, zu dem die Polizei eingreifen darf, drastisch vorverlagern. Dabei gehen sie nicht einen Schritt, sondern gleich drei Schritte zurück. Der GBD nennt das Beispiel der Terrorismusfinanzierung: In Deutschland ist die Finanzierung einer terroristischen Vereinigung strafbar. Im Vorfeld dieser Straftat (Terrorismusfinanzierung) kommt es zu Vorbereitungshandlungen, die an sich harmlos sind, aber bereits nach derzeitiger Rechtslage Anlass zur Überwachung geben können. Etwa das Sammeln von Geldern mit dem (möglichen) Ziel, diese an eine terroristische Vereinigung zu geben.

Noch davor liegt: das Vorfeld des Vorfelds. Also die Annahme, dass eine Person versuchen wird, Gelder zu sammeln, mit dem (möglichen) Ziel, diese an eine terroristische Vereinigung zu geben. Obwohl die Person noch nicht einmal begonnen hat, Gelder zu sammeln, soll die niedersächsische Polizei laut Gesetzentwurf bereits eingreifen dürfen, etwa indem sie ein Aufenthaltsverbot ausspricht.

Der GBD schreibt:

„Pointiert ausgedrückt genügt also das Vorfeld des Vorfelds der konkreten Gefahr der Begehung einer strafbaren Vorbereitung einer Vorbereitungshandlung eines terroristischen Anschlags, um daran schwere Grundrechtseingriffe wie Aufenthalts- und Kontaktverbote oder [Telekommunikationüberwachungs]-Maßnahmen zu knüpfen“.

Teil eins von vier

Die Vorlage des GBD wird am Donnerstag in einer ganztägigen Sitzung im Innenausschuss debattiert. In dem aktuellen Dokument werden lediglich die Paragrafen 1-29 behandelt, in den nächsten Wochen werden drei bis vier weitere Teilstücke folgen, dort geht es etwa um den Ausbau der Videoüberwachung und den Einsatz von Überwachungssoftware, sogenannte Staatstrojaner.

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3 Ergänzungen

  1. Früher gab es im deutschen Polizeirecht nur die “abstrakte“ und die “konkrete“ Gefahr. Ferner kennen die Polizeibehörden noch die “Gefahr im Verzuge“; diese Eingriffsbefugniss/-ermächtigung kommt auch bei der Beweismittelsicherung zur Anwendung. Unter diesen Begriffen können sich auch Laien etwas vorstellen.
    Mit Einführung des Begriffs “drohende Gefahr“ (Definition?) – in den neuen Polizeiaufgabengesetzen der Länder verankert – sieht das nun anders aus. Es ist die Vorverlagerung pol. Eingriffsbefugnisse, welche pol. Willkür Tor und Tür öffnen.
    Übrigens ist eine “konkrete Polizeigefahr“ auch immer eine “dringende Polizeigefahr“, weil sie schnellstmögliches, “gefahrenabwehrendes“ pol. Handeln/Eingreifen erfordert.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.