Kriminologe: „Sichtbarkeit der Polizei in sozialen Medien bedeutet, dass das Gewaltmonopol greift“

Thomas-Gabriel Rüdiger von der Polizeifachhochschule in Brandenburg beschäftigt sich seit Längerem mit der Polizeiarbeit im Netz. Er warnt vor mangelnder Präsenz der Sicherheitsbehörden im Netz und wünscht sich digitale Streifenfahrten. Ein Gespräch über pöbelnde Nutzer und twitternde Beamte.

Der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger wünscht sich mehr Polizeipräsenz im Netz

In den vergangenen Jahren hat die Polizei ihre Präsenz in den sozialen Medien immer weiter ausgebaut. Dabei treten die Beamten mitunter frecher und lustiger auf, als man es bisher von der Polizei gewohnt war. Der Behördenstaat erprobt auf Facebook und Twitter aber nicht nur neue Methoden der Öffentlichkeitsarbeit. Der digitale Raum macht auch neue Formen der Polizeiarbeit möglich, wie der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger von der Polizeifachhochschule Brandenburg im Gespräch mit Netzpolitik.org erklärt.

Netzpolitik.org: Regelmäßigen Twitternutzern fällt auf, dass die Polizei immer stärker auf der Plattform aktiv ist. Sie beschäftigen sich seit Jahren wissenschaftlich mit dem Thema. Was sind aus Ihrer Sicht die Herausforderungen, denen die Polizei im Internet gegenübersteht?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Für mich gleicht der digitale Raum gegenwärtig einem anomischen Raum. Dabei handelt es sich um ein Konzept des Soziologen Emile Durkheim. Der beschrieb einen Bereich, in dem es normal ist, dass man Normenüberschreitungen begeht und es keine oder kaum Regulierung gibt. Das kann dazu führen, dass Menschen glauben, es gelten keine Normen mehr.

Wenn Sie an die Hate-Speech-Debatte denken, was da in vielen Foren los ist, dann sind das für mich Anzeichen für diesen anomischen Raum. Die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit und die Sichtbarkeit des Gewaltmonopols im Netz ist so gering, dass das zu einem Gefühl führen kann, der Rechtsstaat ist gar nicht aktiv. Das führt dazu, dass die Hemmschwelle sinkt, weil die Leute sehen, dass die Schutzmechanismen nicht funktionieren.
Ich habe noch nie verstanden, warum am Spielplatz jeder einen Aufschrei macht, wenn ein Erwachsener an eine 9-jährige herantritt, aber im Netz ist das jeden Tag der Fall. Das gilt nicht nur bei Facebook & Co, sondern auch in Online-Spielen. Und da machen wir uns gar keinen Kopf!

Stellen Sie sich mal den physischen Straßenverkehr vor, ohne dass Sie jemals zufällig die Polizei sehen würden. Diese Sichtbarkeit der Polizei bedeutet, dass das Gewaltmonopol greift. Da kann man auch sagen, man lässt sich damit überwachen. Aber es geht nicht um eine Dauerüberwachung, sondern um eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein Normenbruch auch geahndet wird, und zwar sichtbar geahndet wird.

Netzpolitik.org: Bisher ist die Reaktion auf Rechtsverletzungen im Internet eher indirekt, etwa wenn Hasskommentare einfach gelöscht werden. Oder es gibt Abmahnbriefe vom Anwalt, wenn man etwas Illegales heruntergeladen hat. Welche anderen Möglichkeiten schweben ihnen da vor?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Ich glaube, dass die Gesellschaft und auch die Sicherheitsbehörden sich Gedanken machen müssen, wie eine digitale Polizeiarbeit und Sicherheitsarbeit im Netz aussehen müssen. Gegenwärtig heißt es, wir bekämpfen Cybercrime und Hacking im engeren Sinne, und es gibt dafür Kompetenzzentren und Social Media Accounts. Ich glaube nicht, dass das ausreicht. Denn die Masse an Delikten – die sich nach allen Dunkelfeldstudien in den Millionen bewegen – kann keiner bewerkstelligen.

Da fehlt die Grundsatzdiskussion darüber, auch in der Politik, was für eine Funktion der Rechtsstaat im Internet übernehmen soll. Und wie muss er dafür ausgestattet werden? Was es braucht, ist ein angepasster Rechtsrahmen. Als Kriminologen wissen wir, die Verhütung ist viel relevanter als die Aufklärung eines einzelnen Deliktes, denn wenn man eine Tat verhindert, ist es bei schweren Delikten für alle das Beste. Der gegenwärtige Rechtsrahmen stellt das aber auf den Kopf. Wenn wir im Netz Gefahren abwehren, fällt es etwa oft schwer, örtlichen Zuständigkeiten der Polizeien festzumachen, weil wir keine physische Grenze bestimmen können.

Netzpolitik.org: In wissenschaftlichen Beiträgen sprechen Sie sich etwa für virtuelle Wachen und virtuelle Streifenfahrten der Polizei aus.

Thomas-Gabriel Rüdiger: Bei digitalen Streifenfahrten meine ich sichtbares Handeln, und nicht etwa verdeckte Ermittlungen im Internet, die es ja schon gibt. Ein paar Beispiele, was ich mir darunter vorstellen könnte: Etwa, als die illegale Streaming-Plattform Kino.to abgeschaltet wurde, da gab es eine beschlagnahmte Version der Seite durch die sächsische Polizei. Menschen, die die Seite besuchten, sahen auf einmal eine Warnung der Polizei. Oder ein anderes Beispiel: Bei Facebook wurde 2015 öffentlich zum „Sturm auf den Reichstag“ aufgerufen. Die Berliner Polizei antwortete öffentlich darauf in den Kommentaren und zeigte damit, dass sie darauf vorbereitet ist.

Netzpolitik.org: Das ist gegenwärtig noch Zukunftsmusik. Was machen die Behörden eigentlich bisher so in den sozialen Medien, und wie präsent ist derzeit die Polizei überhaupt?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Konten in sozialen Medien helfen der Polizei in Krisensituationen dabei, mit den Bürgern in Kontakt zu treten und Warnhinweise zu geben. Sie helfen auch bei der Öffentlichkeitsarbeit. Das letzte Mal, wo wir vor über einem Jahr offiziell gezählt haben, sind wir auf 216 dienstliche Social-Media-Accounts von Institutionen der Polizei gekommen. Ich gehe mittlerweile von 300 Accounts aus, 95 Prozent davon auf Twitter und Facebook.

Twitter und Facebook ist die Pflicht, das muss man bedienen. Die Kür wäre, wenn wir versuchen würden, mit jüngeren Generationen in Kontakt zu kommen. Die sind halt bei Instagram, bei Snapchat, oder sonst wo. In der Schweiz gibt es die Option, einen örtlichen Polizisten über WhatsApp zu erreichen. Das halte ich für einen interessanten Gedankengang.

Netzpolitik.org: Die Polizei betreibt auffällig viele Twitter-Konten, obwohl nach Schätzungen nicht mehr als 3 Prozent der deutschen Bevölkerung häufig Twitter nutzen. Warum macht die Polizei das?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Ich glaube, dass man über Twitter sehr viel schneller und kürzer kommunizieren kann. Bei Facebook kannst du dafür längere Stellungnahmen schreiben. Ich denke, dass man beides braucht, schon weil man bei Facebook mehr Leute erreicht als über Twitter, aber ich glaube auch, dass man über Twitter eher mit den Journalisten und mit den Medien den Kontakt hält.

Netzpolitik.org: Die Polizei nützt die sozialen Medien also, um mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten und zu informieren. Wie hilfreich ist es dann, wenn Polizeikonten einzelne, ihnen lästig erscheinende Nutzer einfach blocken, wie das zuletzt in Bezug auf die Frankfurter Polizei zu lesen war.

Thomas-Gabriel Rüdiger: Stellen Sie sich mal vor, jemand steht vor der Polizei und fängt an, sie zu beleidigen. Die würde ihn anzeigen und dann sagen, wenn er weiterpöbelt, dann kommt er in Gewahrsam oder muss den Platz verlassen. Auf das Netz bezogen könnte das heißen, dass wir über ein virtuelles Hausrecht diskutieren müssen. Wenn es wirklich so ist, dass jemand eine Straftat begeht, dann könnte ich mir vorstellen, dass Blockieren eine Art virtuellen Platzverweis darstellen könnte. So etwas kann aber nur Ultima Ratio bei strafbaren Inhalten oder Ähnlichem sein. Ich finde jedenfalls die Diskussion, die darüber ausgelöst wird, richtig.

Netzpolitik.org: Was würden Sie auf Kritik erwidern, dass das Blocken von Leuten und eine viel stärkere Polizeipräsenz in den sozialen Medien eine Form der Überwachung darstellt, die sicher von vielen Leuten als unangenehm empfunden wird?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Häufig kommt das Argument, wir wollen gar keine Überwachung. Aber eine Überwachung würde bedeuten, dass es schon ein gewisses Level an Kontrolle gibt, und das wird überschritten. Dieses Level sehe ich aber noch gar nicht gegeben. Ich sehe eher, dass wir eine Unterwachung und Unterpräsenz haben, und dass man erst auf ein normales Level kommen muss. Es gibt ja vermutlich Milliarden von deutschsprachigen Foren, Unterforen, Accounts, Blogs, Programmen. Da kann niemals überall die Polizei sichtbar ist.

Netzpolitik.org: Kritik an den Social-Media-Kanälen der Polizei gibt es immer wieder auch wegen Vorwürfen der Desinformation, etwa bei Demos. Vor den G7-Protesten in Bayern im Jahr 2015 versah die bayrische Polizei die Meldung über einen illegalen Waffenfund an der Grenze mit dem Hashtag G7, obwohl der Fund nichts mit den Protesten zu tun hatte. Auch wenn es nicht immer um falsche, sondern lediglich irreführende Information geht, wer kontrolliert dabei die Polizei?

Thomas-Gabriel Rüdiger: Das ist für die Sicherheitsbehörden ein neues Feld. Man kann sicher noch ein paar andere Beispiele bringen, wo es nicht okay war oder rechtlich zumindest diskutierbar ist. Da muss ein Prozess stattfinden, das gesellschaftlich abzuwägen. Es sollten sich aus allen Bereichen Menschen zusammensetzen und darüber debattieren, wie kann man einen grundsätzlichen Schutz beispielhaft auch von Kindern im Netz umsetzen, was bräuchte man für Rechtsgrundlagen, was sollten die Sicherheitsbehörden nicht machen dürfen, und so weiter. Solche Themen sollten breit debattiert werden, aber das sehe ich bisher nicht.

 

Update vom 9. März: Die Proteste in Bayern 2015 richteten sich gegen den G7-Gipfel, nicht wie ursprünglich behauptet den G20-Gipfel.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

5 Ergänzungen

  1. Wann spricht man von einem Polizeistaat? Genau: Wenn nun auch noch die Polizei „pro-aktiv“ auf digitale Streife geht, um Blockwart zu spielen und direkt auf die „geistige Entwicklung“ der Untertanen einzuwirken ^^

  2. „Die Polizei nützt die sozialen Medien also, um mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten und zu informieren.“

    MUSS ich als Bürger, der von der Polizei informiert werden, denn dann einen Twitter- oder Facebook-Account anlegen, obwohl ich das eigentlich nicht will (aus guten Gründen).

    Mir fällt dazu echt nichts mehr ein.

  3. Leider hab ich inzwischen in dem Staat genausowenig Vertrauen zu Polizei , Justiz, Politik wie vorher in der DDR.

    Ich hatte mir soviel vom Rechtsstaat versprochen, aber man kann ganz schnell in der Psycihiatrie landen wie Mollath oder gefesselt in einerr Polizei Gefängniszelle verbrennen………………..

    Und der Scheiß ist, die vielen die das ausnützen und z. Bp. nach der AFD schrein und der Staat schaut hilflos und gelangweilt zu.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.