Euro-Treck nach Straßburg: Über Digitalisierung und graue Boxen

Die erste Reise unseres EU-Korrespondenten führt an den Zweitwohnsitz des EU-Parlaments im schönen Städtchen Straßburg. Der Wanderzirkus der 751 Abgeordneten und ihrer Bürounterlagen jeden Monat zwischen Belgien und Frankreich macht deutlich, dass der Weg zur Digitalisierung in der Europäischen Union lang ist.

Straßburg Boxen EU-Parlament
Das EU-Parlament schickt jeden Monat hunderte graue Boxen wie diese per LKW nach Straßburg. Inhalt der Box: Dokumente auf Totholz – CC0 Alexander Fanta

Zwölf Mal im Jahr übersiedelt das komplette EU-Parlament mitsamt der meisten seiner Abgeordneten, deren Assistenten, Fraktionsmitarbeiter und weiterem Personal für vier Tage nach Straßburg, um dort in einem zweiten, eigens gebauten Parlamentsgebäude zu tagen. Das ist ein bisschen verrückt, aber die EU-Verträge schreiben das so fest. Diese Woche reise ich das erste Mal als Korrespondent für netzpolitik.org an den französisch-deutschen Grenzort, um über eine wichtige Abstimmung über die Urheberrechtsreform zu berichten.

Die meisten EU-Abgeordneten hassen die regelmäßigen Reisen nach Straßburg und würden die Ochsentour am liebsten abschaffen. Immerhin kostet der Wanderzirkus 180 Millionen Euro im Jahr und bis zu 19.000 Tonnen CO2-Emissionen. Doch gegen die Einführung eines einzigen Sitzes für das Parlament legt das EU-Gründungsmitglied Frankreich sein Veto ein. Über die Sinnhaftigkeit und Symbolik eines Parlaments mit zwei Sitzen mag man geteilter Meinung sein. Doch der Euro-Treck nach Straßburg liefert auch ein schönes Beispiel dafür, wie lange es braucht, Prozesse in bürokratischen Institutionen zu digitalisieren.

751 Abgeordnete schicken je eine graue Box nach Straßburg. Damit erhalten die Politiker und ihre Büros die Möglichkeit, kiloweise Dokumente auf Papier hin- und her zu senden. Die Boxen werden am Freitag vor den Büros abgestellt, befüllt und mit acht LKWs die rund 440 Kilometer von Brüssel nach Straßburg geschickt. Manche Abgeordnete, die keine Emails mehr ausdrucken, packen Extra-Pullover und Snacks in die Boxen. Der Boxen-Transport allein kostet 200.000 Euro im Jahr.

Digitalisierung nicht geplant

Das Parlament bittet die Abgeordneten inzwischen, freiwillig weitgehend auf die Nutzung der Boxen zu verzichten. Die Single-Seat-Kampagne, die seit Jahren für die Abschaffung des zweiten Amtssitzes kämpft, spricht sich für den Umstieg auf digitale Dokumente aus. Doch bisher mit wenig Wirkung: Die Boxen kommen weiter mit. Das Sekretariat des Parlaments, das für die Organisation der Reisen verantwortlich ist, ließ auf meine Anfrage hin wissen, dass es „das Potential für einen strukturelleren Zugang zu dem Thema untersucht“, was auch immer das heißen mag.

Damit wird das Paradox eines Parlaments deutlich, dass gerade über die Zukunft des Urheberrechts im Internet entscheidet und Themen wie Cloud Computing und eGovernment diskutiert, aber selbst in seiner Arbeitsweise wenig ändern will. Umso wichtiger ist es in Brüssel und Straßburg, digitale Themen auf die Agenda zu setzen.

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4 Ergänzungen

  1. Also dieser Zweitsitz in Straßburg ist natürlich völliger Schwachsinn und sollte abgeschafft werden.
    Das aber Dokumente auf Papier wesentlich sicherer vor Fremdzugriffen und Löschung durch Technikversagen sind als solche in digitaler Form, eben als Datei, spricht meiner Meinung nach für das EU-Parlament!
    Ich habe ALLE meine Daten auch in Papierform, drucke regelmäßig aus (Texte, Photos) und brenne auch noch CDs und DVDs mit Musik und Videos.
    Wenn ein (scheinbar) ultrasensibler USB-Stick aus 30 cm „Höhe“ herunterfällt und meine 16GB an Videos löscht, dann bin ich froh wenn ich noch DVDs von den Videos habe, mit denen das ganz sicher nicht passiert!
    =P

  2. Ich finde auch, dass der eigentlich Sitz, laut der EU-Verträge nämlich Strasbourg, der einzige Sitz sein sollte. Die drei wichtigsten Institutionen sollten in der EU verteilt sein, und nicht alle in Brüssel.

    1. Die Single-Seat-Kampagne sagt charmanterweise auch nur, dass es nur einen Sitz geben soll, aber nicht wo der sich befinden sollte. Straßburg hätte Vor- und Nachteile, ich denke aber, für mich als Journalisten in Brüssel würde ein permanenter Umzug nach Straßburg bedeuten, dass ich wesentlich weniger aus dem Parlament berichten würde (oder umgekehrt in Straßburg wohnen und wesentlich weniger von Kommission und Rat berichten würde).

      Wir sind im Übrigen als spendenfinanziertes Medium auf Unterstützung angewiesen. Selbst eine kleine Spende hilft uns, längerfristige Berichterstattung aus der EU zu finanzieren.

  3. Neue Standardantwort:
    „Warum haben Sie die Rechnung nicht bezahlt?“
    „Ich untersuche grade das Potential für einen strukturellen Zugang zu dem Thema.“

    „Warum kotzen Sie in meinen Briefkasten?“
    „Ich untersuche grade das Potential für einen strukturellen Zugang zu dem Thema.“

    „Warum liegt denn da Stroh rum?“
    „Ich untersuche grade das Potential für einen strukturellen Zugang zu dem Thema.“

    Alles klar!

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