Tübinger Wohnprojekt wochenlang videoüberwacht (Update)

In der schwäbischen Studentenstadt hat die Polizei ohne richterliche Anordnung im Juli 2016 ein Wohnprojekt von über einhundert Menschen mit einer Kamera überwacht. Sie war bei einem Nachbarn des Hauses installiert. Der Landesdatenschutzbeauftragte kritisiert die Maßnahme.

Wohnhaus in der Schellingstraße Tübingen
Dieses Haus oberservierte die Tübinger Polizei mit einer Videokamera für fast einen Monat ohne richterliche Anordnung. – Alle Rechte vorbehalten privat

Der Fall liegt schon ein gutes Jahr zurück, doch unlängst hat ihn auch der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte bestätigt: Die Tübinger Polizei hat den Eingang eines Wohnprojektes im Juli 2016 für vier Wochen videoüberwacht. Dazu stellten die Beamten eine Kamera bei einem Nachbar auf. Die Staatsanwaltschaft hatte in einem Ermittlungsverfahren aufgrund von Indizien darauf geschlossen, dass der Täter der autonomen Szene zuzuordnen sei. Und die vermuteten die Ermittler in besagtem Wohnprojekt.

Der Fall kam heraus, weil ein anderer Nachbar, der zuvor von den Beamten gefragt wurde, diese Anfrage dem Wohnprojekt mitteilte. Bis vor Kurzem gingen die über einhundert Bewohnerinnen und Bewohner aber davon aus, dass die Videoüberwachung nicht stattgefunden habe. Sie wurden fast ein Jahr lang nicht benachrichtigt.

In einer Pressemitteilung des Wohnprojektes in der Schellingstraße 6 heißt es:

Aus der Auskunft des Landesdatenschutzbeauftragten geht hervor, dass eine Kamera installiert wurde. Diese sei vom 4. bis 29. Juli 2016 im Zeitraum von 22:00 bis 6:00 Uhr in Betrieb gewesen und habe den Haupteingang des Wohnprojektes ins Visier genommen. Laut Polizei seien die Daten nach 24 Stunden überschrieben und in Folge des „Ausbleibens von Resonanzstraftaten“ nicht ausgewertet worden. Doch auch ohne Auswertung des Materials handelt es sich um einen drastischen Eingriff in das nachbarschaftliche Zusammenleben, der bei vielen ein unbehagliches Gefühl hinterlässt. Selbst die Staatsanwaltschaft gestand gegenüber dem Landesdatenschutzbeauftragten ein, dass die Überwachung unrechtmäßig war. Aktuell prüft das Wohnprojekt rechtliche Schritte.

Richterliche Anordnung wäre nötig gewesen

Der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte geht davon aus, dass „eine derartige langfristige Videoobservation nicht auf § 100h StPO gestützt werden kann, sondern es sich um eine Maßnahme im Sinne des § 163f StPO handelt“. Für diese wäre aber eine richterliche Anordnung nötig gewesen, die aber nicht vorlag. Nur weil die Staatsanwaltschaft Vorsorge getroffen habe, dass bei vergleichbaren Konstellationen in Zukunft eine richterliche Anordnung eingeholt würde, sieht der Datenschutzbeaufragte „trotz der datenschutzwidrigen Vorgehensweise“ von einer Beanstandung ab.

Die Staatsanwaltschaft Tübingen benachrichtigte laut dem Brief des Datenschutzbeauftragten außerdem die Betroffenen nicht, „da trotz der vierwöchigen Observation nicht davon ausgegangen werden könne, dass alle Bewohner der Schellingstraße 6 von der Maßnahme betroffen waren“. Hier ist der Datenschutzbeauftragte der Ansicht, dass eine Benachrichtigung  möglich und angemessen gewesen wäre.

Grün-schwarz plant noch mehr Überwachung

Die Bewohner wollen zukünftig der Polizei mehr auf die Finger schauen, denn nur durch gute Nachbarschaft erfuhren sie überhaupt von der Überwachungsmaßnahme. Sie haben eine Meldestelle im Internet aufgemacht, auf der heimliche Überwachungsmaßnahmen und -versuche durch die Tübinger Polizei anonym gemeldet werden können.

Der Fall in Tübingen zeigt, was heute schon an Überwachungsmaßnahmen im Ländle möglich ist. In Baden-Württemberg ist die grün-schwarze Landesregierung jedoch drauf und dran, ein neues Polizeigesetz zu verabschieden. Es gilt als eines der schärfsten Polizeigesetze Deutschlands. Wegen unbestimmter Formulierungen erlaubt es die präventive Telekommunikationsüberwachung und den Einsatz von Staatstrojanern auch bei Allgemeinkriminalität.

Update 23.10.2017:

Der Tübinger Überwachungsskandal weitet sich aus. Die Tübinger Staatsanwaltschaft gab jetzt gegenüber dem Schwäbischen Tagblatt zu, dass im gleichen Zeitraum auch das Wohnprojekt „Lu15“ in der Tübinger Ludwigstraße videoüberwacht wurde.

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4 Ergänzungen

    1. So ist das mit Nadeln im Heuhaufen!
      Wenn du keine Nadel im Haufen findest, vergrößere ihn einfach und hoffe darauf, in dem Größeren Haufen doch noch eine Nadel zu finden!

      Nun, warum wurde dort nach einer Nadel gesucht?
      Irgendeiner hat gesagt, das dort eine zu finden wäre!
      Die Polizei hat sie nicht gefunden.
      Derjenige bzw. dessen Behörde wird diese Nadel selbstverständlich finden, z.B. in einem Zeitfenster, das der Polizei nicht erlaubt war.
      Dann wird die Polizei das Begehren stellen, auch in diesem Zeitfenster suchen zu dürfen und Gesetze werden geändert, damit sie dieses auch machen darf!
      Wird die Polizei nun eine weitere Nadel finden?
      Selbstverständlich nicht, da die Befugnisse immer noch nicht reichen werden, um den V-Mann (Nadel im Heuhaufen) Dingfest machen zu dürfen, da dieser durch ein Gesetz vor Strafverfolgung geschützt ist!

  1. Diese verdammten Cops.
    Eine Behörde die Straftaten verfolgen soll, aber stattdessen selbst welche begeht und dann nicht einmal die Eier in der Hose hat sich zu entschuldigen.
    Die Tübinger Polizei, speziell gibt schon sehr oft ein trauriges Bild ab. Aber was soll man schon erwarten von Palmer und seiner Sippschaft….
    Solidarische Grüße

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