Open-Access-Transition von Lingua zu Glossa: Wider „die gnadenlosen Geschäftspraktiken Elseviers“

Ein Jahr nach dem Umstieg vom Elsevier-Journal Lingua zum Open-Access-Journal Glossa darf die Entscheidung der Herausgeber zur Neugründung als Erfolg gelten. Im Interview berichtet Waltraud Paul, Interimherausgeberin von Glossa zur Gründungszeit, über Erfahrungen beim Umstieg.

Screenshot Glossa

Ende 2015 entschied sich das Herausgeberkollektiv der renommierten Linguistik-Zeitschrift Lingua geschlossen zum neugegründeten Journal Glossa zu wechseln, weil sich der Wissenschaftsverlag Elsevier geweigert hatte, die Zeitschrift auf Open Access umzustellen – nur um stattdessen nachzutreten und Unwahrheiten zu verbreiten. Mittlerweile ist Glossa ein Jahr alt und hat via Facebook Zahlen zu Einreichungen im Vergleich zu den Vorjahren veröffentlicht (meine Übersetzung):

„Nicht alles war 2016 schlecht: Glossa erhielt 319 Einreichungen, ungefähr die gleiche Zahl an Artikeln wurde 2013, 2014 und 2015 bei Lingua eingereicht. Glossa hat 120 Artikel unter Begutachtung, 51 Artikel publiziert und 54 Artikel sind in Produktion. Demnach wurden insgesamt 105 Artikel zur Veröffentlicht akzeptiert.“

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Das Beispiel Lingua/Glossa ist deshalb von so großer Bedeutung, weil es zeigt, dass die Marktmacht der Verlage durchaus angreifbar ist. In den meisten Disziplinen ist die Reputation der Verlage nebensächlich, die Reputation der Herausgeberkreise dafür umso relevanter. Letztere hätten deshalb auch am ehesten die Chance, Druck auf Wissenschaftsverlage auszuüben, auf transparent finanzierte Open-Access-Modelle umzustellen.

Interimistische Herausgeberin von Glossa während der Gründungsphase Ende 2015 war Waltraud Paul, Sprachwissenschaftlerin am Centre de recherches linguistiques sur l’Asie orientale in Paris. Ich habe sie zu den Hintergründen und Erfahrungen rund um die Open-Access-Transition von Lingua zu Glossa befragt.

In Ihrem Vortrag bei den Open-Access-Tagen in München im Oktober letzten Jahres (Slides und Videomitschnitt) haben Sie die Geschichte der Transition des Herausgeberkreises von Lingua zu Glossa damit begonnen, dass Editor-in-Chief Johann Rooryck von Elsevier die Umwandlung von Lingua in eine (leistbare) Open-Access-Zeitschrift gefordert und Elsevier das abgelehnt hatte. Wissen Sie, wieso es überhaupt zu diesem Ansinnen kam?

Waltraud Paul: Dafür gibt es zwei Gründe. Einerseits eine klare Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für den Herausgeber von Lingua, Johan Rooryck, und sein Team von 5 Mitherausgebern. Deren vertragliche Bindung an Elsevier mutierte von einer Art “gentleman’s agreement” Ende der 1990er Jahre zu einem extrem detaillierten und umfangreichen Vertrag, der dem Herausgeberteam immer zahlreichere Zwänge auferlegte. Gleichzeitig hatte das Herausgeberteam immer weniger Handlungsfreiheit und musste sich mehr und mehr gegen die Einmischung des Elsevier-Managements (zuletzt in der Person von Chris Tancock, Elseviers “Linguist-Portfolio”-Zuständigem) in die wissenschaftlichen Aspekte der Zeitschrift wehren, wie z.B. bei der Wahl neuer Mitherausgeber. Andererseits führte die extreme Profitgier Elseviers zu einem wachsenden Unbehagen sowohl beim Herausgeberteam als auch bei den Linguisten, die – umsonst! – für Lingua als Reviewer arbeiteten. Da dieselben Linguisten oft in Bibliotheksgremien sozusagen „live“ die gnadenlosen Geschäftspraktiken Elseviers miterlebten, waren sie immer weniger dazu bereit, ihre Zeit und Expertise Elsevier kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Sie haben erwähnt, dass Rooryck und fünf Mitherausgeber nach Ablehnung der Forderungen durch Elsevier per Jahresende gekündigt hatten. War es eigentlich so, dass Rooryck und seine KollegInnen bezahlt wurden? Und wie wird das bei Glossa gehandhabt?

Waltraud Paul: Direkt vorweg: bei Glossa arbeiten wir alle umsonst. Johan Rooryck und seine Kollegen wurden von Elsevier bezahlt und hatten also einen Vertrag mit Elsevier. Auf den tatsächlichen Arbeitsaufwand umgerechnet war jedoch das Jahresgehalt von ungefähr €5.000 für z.B. den Herausgeber selbst mehr als bescheiden. Mit 2 vollen Arbeitstagen pro Woche allein für Lingua reduziert sich das auf etwa 50€ für 6-8 Stunden; nicht viel mehr als in einer Fastfoodkette, wie Johan Rooryck es selbst in einem Gastbeitrag ausgeführt hat.

Wie schwer war es die übrigen 31 Mitglieder des Editorial Boards zum kollektiven Wechsel zu Glossa zu bewegen bzw. was waren die Argumente, die am besten verfangen haben?

Überhaupt nicht. In nur ein paar Stunden hatten sich alle (!) bereit erklärt, Lingua zu verlassen und bei Glossa einzusteigen. Da die Mitglieder des Editorial Boards keinerlei vertragliche Bindung an Lingua hatten (d.h. wir arbeiteten völlig umsonst), konnten wir das nach kurzer Beratung von einem Tag auf den anderen tun. (Bereits zum Reviewen akzeptierte Artikel bei Lingua haben wir natürlich danach trotzdem noch bearbeitet.) Die Argumente waren im Prinzip dieselben, die das Mitherausgeberteam zur Aufkündigen des Vertrags mit Elsevier bewegt hatten.

Glossa wird, wenn ich es richtig verstanden habe, von der Open Library of the Humanities (OLH) gehostet. Warum haben Sie nicht einen eher klassischen Open-Access-Verlag gewählt?

Das eine schliesst das andere doch nicht aus bzw. besteht hier vielleicht ein Missverständnis. Wie Sie selbst sagen, wird Glossa von OLH “gehostet”, d.h. konkret, dass OLH am Ende der 5-Jahre-Finanzierung durch die Stiftung LingOA die Finanzierung von Glossa übernehmen wird. (Siehe dazu auch einen Beitrag mit OLH-Mitgründerin Caroline Edwards bei Scilog). Herausgegeben wird Glossa bei Ubiquity Press, einem OA-Verlag.

Abgesehen von geänderten Copyright- und Zugangsregeln, hat sich sonst für HerausgeberInnen und AutorInnen etwas durch die Transition von Lingua/Elsevier zu Glossa geändert?

Akzeptierte Artikel werden viel schneller veröffentlicht, weil Glossa eine reine Online-Zeitschrift ist, und weil den Reviewern nur eine relativ kurze Frist von einem Monat zugestanden wird. Hinzu kommt, dass es einfacher ist, für Glossa Reviewer zu finden als für Lingua oder andere profitträchtige Zeitschriften. Es gibt langsam, aber sicher mehr Widerstand unter den Linguisten, kostenlos für Profiteure zu arbeiten.

Wissen Sie von „Nachahmern“, z.B. im Feld der Linguistik?

Zeitgleich mit der Neugründung von Glossa sind zwei andere sprachwissenschaftliche Zeitschriften vom Subskriptionsmodell zu Open Access übergegangen, jedoch im Einvernehmen mit den entsprechenden Verlagen: Laboratory Phonology und das Journal of Portuguese Linguistics, beide ebenfalls bei Ubiquity Press herausgegeben. Soviel ich weiss, wird die Zeitschrift für Sprachwissenschaft, das Fachorgan der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, ab 2017 Open Access veröffentlicht, und zwar weiterhin bei De Gruyter.

Zum Abschluss: Von außen betrachtet scheint die Transition von Lingua zu Glossa durchaus mit einigem Aufwand verbunden gewesen zu sein. Was würden Sie Herausgeberkollegen sagen, um Sie davon zu überzeugen, dennoch so ein Vorhaben in Angriff zu nehmen?

Was den in der Tat angefallenen Arbeitsmehraufwand angeht, so glaube ich nicht, dass Glossa hier repräsentativ ist. Erstens hat es einen richtigen “Bruch” mit Elsevier gegeben, was uns u.a. dazu gezwungen hat, einen neuen Namen zu finden etc. Zweitens sind Glossa, Laboratory Phonology und das Journal of Portuguese Linguistics die ersten linguistischen Zeitschriften für Ubiquity Press. Ein Grossteil der Mehrarbeit hing deshalb mit den spezifisch linguistischen Typesettinganforderungen zusammen. Was auch bei einem einvernehmlichen Wechsel zu Open Access Arbeit macht, ist die Sicherstellung des Archivs.

Wie man Herausgeberkollegen überzeugen kann oder soll, ist schwer zu beantworten. Es hängt einerseits davon ab, wie gut oder schlecht die Beziehung zum jeweiligen Wissenschaftsverlag ist und inwieweit der Herausgeber seine Zeit und sein Wissen (sowie das seiner Kollegen) quasi-umsonst einem Privatunternehmen zur Verfügung stellen will. Wie ich es in meinem Vortrag in München betont habe, ist das wirkliche Problem ein wissenschaftspolitisches: solange ein pur quantitatives “Ranking” aufgrund von Impactfaktoren [Qualitätsmessung auf Basis von Zitationshäufigkeiten, Anm.] für die Bewertung der öffentlichen Forschung dient, werden die profitgierigsten Zeitschriften am schwersten wiegen und deshalb auch gleichermaßen Herausgeber und Autoren anziehen.

9 Ergänzungen

  1. Es gibt langsam, aber sicher mehr Widerstand unter den Linguisten, kostenlos für Profiteure zu arbeiten.

    Das ist eine Entwicklung, die höchst erfreulich ist. Wenn es darauf ankommt, „kostenlos“ zu arbeiten, dann ist es schwer erträglich dies auch noch für „Profiteure“ zu tun. Wenn schon umsonst, dann aus freien Stücken für sich selbst oder für ein Projekt meiner Wahl. Soweit, so gut.

    Aber dennoch: Es kann doch nicht das Ziel sein, stets umsonst arbeiten müssen, wenn mir eine Sache bedeutsam ist. Sicherlich, Selbstausbeutung ist der Fremdausbeutung vorzuziehen, aber sie bleibt stets Ausbeutung. Arbeit muss gerecht entlohnt werden!

    Solange der Mensch für sein Dasein bezahlen muss, kann Arbeit für „Gotteslohn“ keine Lösung sein – außer für jene, die sich diesen Luxus leisten können.

    Ehrenamtliche, Selbstausbeuter und Ähnliche: Ihr seid nicht Teil der Lösung, wenn es darum geht, gerechte Entlohnungsformen zu finden. Es ist Zeit auch über diese Aspekte zu diskutieren.

    1. Nicht immer ist eine Vergütung von Tätigkeiten die beste Option. Im Bereich wissenschaftlicher Begutachtungsverfahren ist es so, dass diese Leistungen zum allergrößten Teil von öffentlich finanzierten WissenschaftlerInnen erbracht werden. Die Tätigkeit zählt zur Kernaufgabe wissenschaftlicher Qualitätssicherung und entspricht auch basalen Reziprozitätsnormen: wer konstruktive Gutachten für seine Forschungsarbeit erhalten möchte, von dem kann man erwarten, auch selbst derartige Gutachten zu verfassen. Hier stattdessen mit monetären Anreizen zu arbeiten, könnte hingegen zahlreiche perverse Anreize setzen und letztlich für neue Problem sorgen.
      Umso wichtiger wäre es deshalb, dass wo immer möglich wissenschaftliche Zeitschriften von Fachgesellschaften oder anderen nicht-profitorientierten Trägern wie der im Artikel erwähnten OLH gehostet werden.

  2. Schöne Entwicklung! Wissenschaft muss zu dem zurück kehren, was ihr Wesenszweck ist: Wahrheit. Das ist nach Luhmann ein anderer Kern eines sozialen Systems als die kommerzielle Verlagswelt, die zurecht Zahlungen als ihr Wesensmerkmal hat. Früher, als Drucken teuer war, waren Kompromisse berechtigt. Heute, wo die Distribution zu Grenzkosten von nahezu Null erfolgen kann, kann die Wissenschaft sich auf ihren Kern zurück ziehen.
    Davon getrennt ist die Frage, wie sich die Hersteller von Wahrheit und Druckwerken finanzieren.

    1. Ich hadere ein wenig, „Wahrheit“ als den Kern (der Aufgabe) der Wissenschaft anzusehen. Natürlich, wissenschaftliche Erkenntnisse soll(t)en „wahr“ i.S.v. reproduzierbar und nachvollziehbar usw. (z.B. durch ein Experiment, Messung usw.) sein. Aber statt der Wahrheit würde ich die Erkenntnis bzw. das Wissen (_Wissen_schaft) in den Mittelpunkt stellen. Natürlich auf wahren (oder zumindest der Wahrheit möglichst nahe kommende) Grundlagen basierend.
      Abgesehen davon stimme ich dir zu, dass dies eine sehr erfreuliche und längst überfällige Entwicklung ist.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.