Kurz vor entscheidender Datenschutzabstimmung: Konservative brechen Kompromissverhandlungen ab

Vor der morgigen ePrivacy-Abstimmung des Innenausschusses haben die christdemokratischen Vertreter im Europaparlament dem Druck der Datenlobby nachgegeben. Sie brachen die Verhandlungen mit den datenschutzfreundlichen Parteien ab. Ob eine Mehrheit für besseren Schutz vor kommerzieller Überwachung zustande kommt, ist damit fraglich.

Talk to the hand: Die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei haben die Verhandlungen im EU-Parlament über Datenschutzkompromisse abgebrochen CC-BY 2.0 David Goehring

Der Innenausschuss des EU-Parlaments stimmt Morgen über seine Position zur geplanten ePrivacy-Verordnung ab. Es geht dabei unter anderen um die Möglichkeit eines besseren Schutzes vor Online- sowie Offline-Tracking und Regeln für die kommerzielle Verwertung von Kommunikationsdaten [Hintergrund].

Die Reform ist hart umkämpft: Digital-Rights-Organisationen hoffen auf mehr informationelle Selbstbestimmung und einen besseren Schutz der Privatsphäre, die Daten- und Werbeindustrie sieht ihr Geschäftsmodell der kommerziellen Überwachung bedroht. Seit Monaten ringen die Verhandlungsführer der Fraktionen in dem federführenden Ausschuss um Kompromisse. Gestern haben nun die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) die Verhandlungen offenbar einseitig abgebrochen.

„Bis vor zwei Tagen dachten wir, wir hätten einen Kompromiss gefunden, bei dem beide Seiten ausreichende Zugeständnisse machen“, erklärt Birgit Sippel gegenüber netzpolitik.org. Die sozialdemokratische EU-Abgeordnete wird in Kürze das Amt der federführenden Berichterstatterin für die ePrivacy-Regulierung von ihrer estnischen Kollegin Marju Lauristin übernehmen. Diese war vergangene Woche in den Rat der zweitgrößten estnischen Stadt Tartu gewählt worden und wird das Parlament verlassen.

Zentraler Streitpunkt ist offenbar die Frage der Weiterverarbeitung („further Processing“) bereits erhobener persönlicher Daten. Die EVP, zu der die deutschen Unionsparteien gehören, wolle, dass Firmen bereits erhobene Daten ohne weitere Erlaubnis der Betroffenen nutzen dürfen, so Sippel. Für das datenschutzfreundliche Lager aus Sozialdemokratin, Grünen, Liberalen und Linken ist das ein No-Go. Die datenschutzfreundlichen Kräfte seien jedoch bereit gewesen, im Gegenzug eine Regelung zu opfern, nach der Technik von vorneherein so datenschutzfreundlich eingestellt sein muss, dass sie Tracking automatisch unterbindet.

Albrecht: „Unseriöse Verweigerungshaltung“

Der Abbruch der Gespräche nach monatelangen Verhandlungen kommt so kurz vor der entscheidenden Abstimmung überraschend. Jan Philipp Albrecht, Verhandlungsführer der Grünen, wirft den EVP-Abgeordneten in seinem Blog eine unseriöse Verweigerungshaltung vor:

Die Fraktionen der Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken haben den Konservativen weitgehende Kompromisse angeboten. Die EVP-Europafraktion von CDU/CSU folgt jedoch den radikalen Ansichten einiger weniger Abgeordneter, die sich als direkte Industrielobby gegen den Schutz von Kommunikations-Daten und damit für einen massiven Datenschutz-Abbau starkmachen.

Tatsächlich ging die Kompromissbereitschaft der datenschutzfreundlichen Kräfte so weit, dass die französische Digital-Rights-Organisation La Quadrature du Net Albrecht und Co. vorwarf, in den Verhandlungen „unsere Freiheiten Stück für Stück“ aufzugeben. Der Europäischen Volkspartei geht das aber nicht weit genug.

Auf Linie mit der Datenindustrie

Wie Sozialdemokratin Sippel gegenüber netzpolitik.org erklärt, habe man sich eigentlich auf den oben beschriebenen Kompromiss geeinigt. Von seiner Faktion habe der christdemokratische Verhandlungsführer Michal Boni dafür jedoch keine Rückendeckung bekommen. Stattdessen habe er die Verhandlungen nun komplett abgebrochen. Auf unsere Anfragen reagiert Boni heute nicht.

Erst am Montag hatte der CDU-Abgeordnete Axel Voss in der FAZ die Provokation wiederholt, dass seine datenschutzfreundlichen Parlamentskollegen dem iranischen Rat der Religionswächter gleichen würden. Das zeige, dass es der EVP nicht mehr um sachliche Argumente gehe, so Sippel. Voss, der zu einer Stellungnahme gegenüber netzpolitik.org ebenfalls nicht bereit war, sei ohne Wenn und Aber auf der Linie der Daten- und Werbeindustrie, die seit mehr als einem Jahr mit allen Mittel gegen die Verordnung kämpft.

Auch Albrecht bemängelt in seinem Blogbeitrag das Einknicken der Europäischen Volkspartei vor der Industrie:

Diese Verweigerungshaltung ist vollkommen unseriös und die Führung der EVP-Fraktion sollte zügig den eigenen Laden aus den Klauen einiger weniger Radikaler befreien, die schon bei der Datenschutz-Grundverordnung gezeigt haben, dass sie an keinem vernünftigen Kompromiss für eine einheitliche europäische Rechtslage interessiert sind. […] Ich lade die vernünftigen konservativen Abgeordneten ein, sich in den anstehenden Abstimmungen trotz der Haltung ihrer Fraktion für die ausgewogenen Kompromisse bei der ePrivacy-Verordnung auszusprechen.

Womöglich keine datenschutzfreundliche Mehrheit im Ausschuss

Was der Gesprächsabbruch für den weiteren Prozess bedeutet, ist derzeit noch unklar. Ob die EVP beispielsweise alle bislang gefundenen Kompromisse blockieren will oder lediglich den oben beschriebenen, weiß auch Sippel nicht. Da das Datenschutzbündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Linken und Grünen über keine eigene Ausschussmehrheit verfügt, bräuchten sie zwei bis drei Stimmen aus dem Lager der Christdemokraten – oder aber von Vertretern EU-skeptischer, rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Bislang haben sich Udo Voigt von der NPD und Beatrix von der Storch von der AfD jedoch nicht gerade durch datenschutzfreundliches Abstimmungsverhalten hervorgetan.

Neben der Blockade einzelner Kompromisse steht dabei noch mehr auf dem Spiel: Wie Sippel im Gespräch mit netzpolitik.org erklärte, sieht es derzeit so aus, als würde die EVP planen, der Berichterstatterin das Mandat des Ausschusses zu verweigern, überhaupt in den Trilog-Prozess mit dem Rat und der EU-Kommission zu gehen. Das würde bedeuten, dass das gesamte ePrivacy-Paket im Plenum des Parlaments erneut verhandelt werden muss.

Dahinter dürfte taktisches Kalkül stehen, denn hier ständen die Chancen für eine datenschutzfreundliche Verordnung deutlich schlechter. Einerseits bliebe der Daten- und Werbeindustrie dann mehr Zeit, mit ihrer intensiven Lobbykampagne Abgeordnete zu überzeugen, die weniger vertraut mit dem Thema sind. Andererseits sind in der Liberalen-Fraktion nicht alle Abgeordneten so datenschutzfreundlich wie ihre Verhandlungsführerin im Innenausschuss, Sophie in’t Veld.

Der Tagesordnungspunkt wird im Innenausschuss Morgen gegen 10:15 Uhr [Tagesordnung, PDF] verhandelt. Einen Livestream gibt es hier. Wer jetzt noch aktiv werden will, sollte EU-Abgeordnete per Mail oder Twitter (#ePrivacy) kontaktieren.

Update, 19.10.2017: Trotz der Blockade durch die EVP konnte die datenschutzfreundliche Koalition bei der heutigen Abstimmung eine hauchdünne Mehrheit für ihren Kurs erreichen. Nach der Abstimmung ergriff EVP-Verhandlungsführer Michal Boni das Wort, um Berichterstatterin Marju Larusitin für ihre Arbeit zu danken und ihr alles Gute für die neue Aufgabe in Estland zu wünschen.

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5 Ergänzungen

  1. Danke für den Artikel. Wenn wir schon mit dieser Form der vermeintlich repräsentativen Demokratiesimulation leben müssen, was fällt diesem Parlamentariern ein, elementare Rechte, die für die demokratische Ausformung und Entwicklung der Sozialgesellschaften unabdingbar sind, zu bestreiten?
    Das oberste Primat des Handelns kann nicht die Bekämpfung relevanter demokratischer Standards, oder die Verhinderung deren Einführung sein. Setzt man auch nur im geringsten voraus, dass diese Leute langfristig nicht nur die Verhinderung einer Entwicklung hin zu einer gleichberechtigten, individuell selbstbestimmten, offenen, sich positiv und konstruktiv entwickelnden Gesellschaft anstreben. Wäre das der Fall, sie hätten damit nichts an Stellen verloren, die die Entwicklung unserer Gemeinschaften maßgeblich beeinflussen können.
    Mir ist sicher bewusst, dass es hier große Interessengruppen gibt. Doch ich denke wir müssen endlich dazu kommen, sie als das zu benennen was sie sind, ein Angriff auf die Demokratie.

  2. Stell dir vor, es gäbe keine Daten-Kraken mehr im Internet und die Plagegeister mit ihrer Werbung wäre für immer aus dem Netz verschwunden.

    Wir brauchen mehr Namen von jenen die in Brüssel gegen uns lobbyieren. Wer bezahlt diese Schweinereien? Welche Abgeordneten sind umgefallen?

    Gegenwind!

  3. Danke für’s stetige Berichten, Ingo. Mir ist schleierhaft, warum so eine wichtige und extrem enge Abstimmung nicht in den Mainstream-Medien läuft, aber das ist eine andere Debatte.

    Die Abstimmung beginnt jedenfalls nach letzter (nicht veröffentlichter) Tagesordnung erst um 10:45. Erst kommt eine kurze Abstimmung zur Stellungnahme zur Digital Trade Strategy, dann ePrivacy. Es wird sau-spannend…

  4. Die Verschmelzung von Politik und Wirtschaft

    Helft mir weiter, was bitte war noch mal genau die Definition von Faschismus?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.