EU-Parlament: Mit dem Verbraucherschutz kommen Netzsperren

Um europäische Verbraucher besser grenzüberschreitend zu schützen, hat die EU gestern ein umfangreiches Maßnahmenpaket verabschiedet. Doch auf den letzten Metern wurden in die EU-Verordnung Netzsperren hineinverhandelt, die weder effektiv noch verhältnismäßig sind.

Illegale Inhalte im Netz: Lieber löschen als ineffektiv sperren. CC-BY-NC-ND 2.0 Tom Hickmore

Europäische Verbraucherschützer erhalten künftig das Recht, Netzsperren zu verhängen. Sie können damit unliebsame Inhalte aus dem Internet verbannen, ohne eine richterliche Genehmigung einholen zu müssen. Die Regelung ist Teil einer EU-Verordnung, welche die Zusammenarbeit zwischen nationalen Verbraucherschutzorganisationen verbessern soll und die gestern mit breiter Mehrheit im EU-Parlament abgesegnet wurde.

Bislang fiel es mitunter schwer, innerhalb Europas Verletzungen von Verbraucherrechten zu verfolgen, da die einzelnen Mitgliedstaaten teils unterschiedliche gesetzliche Regelungen haben. Das kann unter anderem dann zum Problem werden, wenn etwa Händler eine europaweite Marketingstrategie fahren, sich aber am niedrigsten Verbraucherschutzniveau orientieren. Zudem widerspricht es dem Ziel der EU-Kommission, einen einheitlichen digitalen Binnermarkt zu schaffen, wenn Konsumenten in bestimmten Ländern anders behandelt werden als in anderen – beziehungsweise es ihnen in der Praxis kaum möglich ist, ihre Rechte grenzüberschreitend durchzusetzen.

Effektive Mechanismen entwickeln

„Die neuen Regeln werden die Zusammenarbeit zwischen allen Verbraucherschutzorganisationen verstärken und verbessern, sodass sie einfacher die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen und grenzüberschreitenden Verstöße überprüfen können“, sagte die zuständige Berichterstatterin des EU-Parlaments, Olga Sehnalová von den Sozialdemokraten. „Nationale Behörden, die EU-Kommission und Verbraucherschützer werden nun gemeinsam effektive Mechanismen entwickeln, um betrügerische Händler zu bekämpfen, sowohl online als auch offline, und um Verbraucherrechte im digitalen Binnenmarkt durchzusetzen.“

So können zuständige Behörden künftig von Domain-Registraren oder Banken mehr Informationen über Händler anfordern, wenn sie betrügerische Praktiken vermuten. Die verbesserte Zusammenarbeit zeigt sich beispielsweise daran, dass Verbraucherschützer nun formal ihre europäischen Kollegen benachrichtigen können – etwa das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz, das bereits 2005 eigens für solche Fälle eingerichtet wurde und deshalb einschlägige Erfahrungen bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten gesammelt hat.

Doch in den abschließenden Trilog-Verhandlungen zwischen dem Parlament, den Mitgliedstaaten und der Kommission, deren Ergebnis die Abgeordneten gestern mit einer Mehrheit von 591 Stimmen bei 80 Gegenstimmen und 15 Enthaltungen bestätigt haben, ist die relativ starke Position des Parlaments und selbst der Kommission abgeschwächt worden. „Die Schwäche der Verordnung, insbesondere verglichen mit dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission, liegt darin, dass Behörden keine neuen Kompetenzen erhalten haben, Händler zu Wiedergutmachungszahlungen zu verpflichten, wenn sie Verbraucher geschädigt haben“, beklagte ein Sprecher des Europäischen Verbraucherverbandes BEUC gegenüber netzpolitik.org.

Einrichtung einer Zensurinfrastruktur

Aus netzpolitischer Sicht hochproblematisch ist die neu geschaffene Möglichkeit, Netzsperren durchzusetzen. Darauf hatten in den Verhandlungen insbesondere die Mitgliedstaaten gedrängt, die sich gegen die parlamentarische Verhandlungsführerin Sehnalová durchsetzen konnten. Wenn es nicht gelingt, beanstandete Inhalte zu löschen oder Domänennamen in Beschlag zu nehmen, dann lässt sich künftig das umstrittene Instrument der Netzsperren heranziehen.

Damit werde aber eine Zensurinfrastruktur errichtet, die sich leicht für andere Zwecke missbrauchen ließe, warnte die Piratin Julia Reda, die der grünen Fraktion im EU-Parlament angehört. Zuletzt habe sich das bei den Auseinandersetzungen zwischen Spanien und katalanischen Separatisten gezeigt. Dort wurde die ursprünglich für Urheberrechtsverstöße eingerichtete Infrastruktur flugs umfunktioniert, um Webseiten zu blockieren, die sich für die Unabhängigkeit der Region eingesetzt hatten.

Auch Freifunk betroffen

„Es muss klar sein, dass wir nicht nur von Netzsperren bei vier bis fünf großen Providern wie der Telekom, O2 oder Orange sprechen“, sagte Reda gegenüber netzpolitik.org. „In Deutschland haben sich auch Freifunk-Gruppen zu Providern zusammengeschlossen, um der unsäglichen Störerhaftung zu entkommen. Somit sind jetzt auch tausende Einzelpersonen von solchen Sperrverfügungen betroffen“, sagte Reda. „Für das freie Internet ist die Verordnung eine Katastrophe.“

Ähnlich kritisch sieht das auch der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), der „bei Netzsperren grundsätzlich sehr zurückhaltend“ ist, wie Roland Stuhr aus dem Team „Recht und Handel“ gegenüber netzpolitik.org betonte. Hierbei bestehe die Gefahr des Overblockings, wenn also im Zweifel zu viel gesperrt wird, die Frage der technischen Durchführung, die Frage, ab wann eine Seite sperrwürdig ist – und die Missbrauchsgefahr.

So ist es beispielsweise denkbar, dass eine Behörde aus dem EU-Ausland deutsche Anbieter dazu verpflichtet, den Zugriff auf bestimmte Inhalte zu blockieren. Allerdings lässt sich eine DNS-Sperre spielend leicht umgehen, und die Sperre einer bestimmten Unterseite beziehungsweise URL kann nur der Betreiber der Plattform selbst umsetzen. Letzteres käme dann in Frage, wenn etwa ein bestimmtes Glückspielangebot in einem EU-Land verboten ist, in einem anderen aber nicht und eine Löschung deshalb nicht in Frage kommt. Auch diese Maßnahme dürfte für einen halbwegs geübten Nutzer eine nicht allzu große Hürde darstellen. Verhältnismäßigkeit sieht anders aus.

Doch nicht alle Verbraucherschützer stehen diesem Ansatz ablehnend gegenüber. So erklärte uns eine Sprecherin des Europäischen Verbraucherzentrums Deutschland (EVZ), dass solche Maßnahmen „absolut“ sinnvoll und gerechtfertigt seien. Derweil bleibt aber noch unklar, wer als „zuständige Behörde“ gilt, um solche Sperren zu beantragen: der vzbv, die Verbraucherschutzbehörden der Länder, das EVZ, das übergeordnete Bundesjustizministerium (BMJV) – oder möglicherweise alle genannten Stellen. Auf Anfrage wollte uns eine BMJV-Sprecherin dieses entscheidende Detail nicht beantworten, sondern erst die offizielle und abschließende Absegnung durch die EU abwarten. Wie, von wem, wie oft und gegen welche Inhalte künftig Netzsperren eingesetzt werden, wird sich also noch zeigen.

Update, 16. November: Eine Broschüre des vzbv bringt ein wenig Licht ins Zuständigkeitsdickicht: Wenn etwa deutsche Firmen Verbraucher im EU-Ausland umwerben und dabei schädigen, dann kann der vzbv (im Auftrag des BMJV) tätig werden. In anderen Fällen wiederum kommt die Wettbewerbszentrale zum Zug. Es kommt also immer drauf an™.

6 Ergänzungen

  1. Trump baut Mauern physoch nach Mexiko. DIe EU baut virtuelle Mauern überall hin, um die EU von der Welt zu trennen. Verbraucher sollen in VPNs den Weg in die Freiheit suchen so wie bei uns Syrer unseren NATO-Bomben zu Fuß über die Balkanroute entkommen.
    Mauer haben weder bei den Chinesen noch bei den Römern mit dem Hadrians Wall funktioniert. Dass ausgerechnet die EU sich virtuell einmauern will ist absurd. Das noch zynisch in Neusprech noch als Verbraucherschutz zu verpacken, hätte sich nicht mal Orwell getraut.

  2. Das ist der neue Weg um Zensur und Überwachung durchzusetzen.
    Das grundthema muss eher Langweilig sein und schon bekommt Keiner mehr mit was da eingeführt wird.
    Erschrekender Vergleich: Kommentare im c’t Ticker 15 Stück während in annähernd gleicher Zeit zum Thema Firefox Update ca. 1200 aufgehäuft werden.

  3. Wenn man Zensur schon nicht mit Terrorangst einführen kann, dann nimmt man halt Verbfraucherschutz. Wie praktisch.

  4. So, den Mitgliedern des Parlaments habe ich mal eine sarkastische Mail geschrieben. Das Zusammenstellen der Adressliste hat aber *viel zu lange* gedauert. Auf http://www.europarl.europa.eu/meps/de/search.html?country=DE gibts zwar einen XML-Download, der enthält aber keine Adressen. Von daher habe ich Adresse für Adresse von der Website kopiert. Um skalierbar zu bleiben, sollte ich mal einen Crawler schreiben (oder sonstwer), aber nachdem ich schon 20 Adressen hatte, wollte ich auch mal fertig werden.

    Für das Senden der Massenmails empfehle ich Mail Merge für Thunderbird.

    1. Du bist sicher ein Terrorist, weil „Al“ (Al Bundy, Al Kaida, Al’s Diner, Al Quaeda, Al Tetraeder) und so!
      Aber vor allem, weil du die (Geistig, nicht Monetär) armen Politiker mit Dingen terrorisierst, die sie nicht verstehen können, da sie keinerlei Ahnung von diesen Dingen haben bzw. haben wollen, da letzteres durchaus zu rudimentären Denkprozessen und zu einer Reduzierung der Monetären Einkommen führen können, da diese Denkprozesse selten in Einklang mit den Zielen der politischen Interessengemeinschaften (früher auch „Seilschaften“ genannt) zu bringen sind!

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