„Du siehst mich“ – Der Evangelische Kirchentag und die Überwachung

Videoüberwachung und Taschenkontrollen. Das sollte das Motto – „Du siehst mich“ – des Evangelischen Kirchentags bestimmt nicht bedeuten. Dennoch war die Überwachung präsent wie nie und es stellt sich die Frage, wer hier eigentlich die Besucher sieht: Gott oder die Polizei?

Ständig unter Beobachtung: Auf dem Kirchentag waren auch die Augen der Polizei überall. CC-BY-SA 2.0 Maik Meid

In der letzten Woche fand in Berlin und Wittenberg der Evangelische Kirchentag unter dem Motto „Du siehst mich“ statt. Überall waren Menschen mit orangenen Schals und T-Shirts zu sehen, auf deren Rücken zwei große Comic-Augen alle durchdringend anschauten, die hinter ihnen gingen. In Anbetracht des Mottos wirkt es auf zynische Art und Weise passend, dass die Berliner Polizei genau dort massive Videoüberwachung mit neu angeschafften Geräten einsetzte.

Dazu gehört das Kamerasystem Panomera, dessen Hersteller damit wirbt, „von einem einzigen Standort aus ein riesiges Areal“ überblicken zu können. Mehrere Personen können bei diesem System auf die Überwachungsbilder zugreifen und weit in die Szene hineinzoomen. Doch das meinten die Kirchentagsorganisatorinnen sicher nicht, als sie das Motto aus dem 1. Buch Mose ausgewählt haben.

„Das Überwachungsauge schiebt sich vor das Gottesauge“

Die Theologin Johanna Haberer beschreibt gegenüber netzpolitik.org das Gefühl, das die Videoüberwachung bei ihr auslöste, als sie vor dem Eröffnungsgottesdienst auf dem Gendarmenmarkt stand. Nicht nur seien alle Taschen durchsucht worden, die Menschen beobachteten sich gegenseitig und wurden mit der neuesten Technologie an den öffentlichen Orten überwacht, berichtet sie.

Ein neues Kirchentagsgefühl: „Du siehst mich“ – das fromme Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags, das den liebenden Blick Gottes auf jeden Menschen ins Bewusstsein bringen will, bekommt wenige Stunden nach dem Anschlag in Manchester einen zynischen Beiklang: Das Überwachungsauge schiebt sich vor das Gottesauge, jetzt nachdem die kirchliche Lehre endlich den Überwachungs- und Kontrollgott auf den Müllhaufen der Theologie geworfen hat.

Neben Videokameras waren 6.000 Polizisten im Einsatz und erstmals fanden an einigen Veranstaltungsorten des Kirchentages Taschenkontrollen statt. Dass die Überwachung auf dem Kirchentag so präsent war, lag nicht primär an den Organisatoren selbst. Sie sagten gegenüber netzpolitik.org, der Kirchentag setze keine Videoüberwachung ein, sondern lediglich Webcams, „die zur Einschätzung der Füllstände und Lage dienen“. Einzelne Menschen seien darauf nicht zu erkennen.

Haberer kann verstehen, dass es „für die Entscheider im Kirchentag ein allzu großes Risiko gewesen wäre, diese hohe Sicherheitsstufe beim größten Christenfest Deutschlands abzulehnen“. Dennoch hätte sie sich gewünscht, das Thema der Digitalisierung und der Überwachung stärker zu diskutieren:

Das Thema der Überwachung, aber auch der Cyberkriminalität und der Kontaminierung der politischen Debatten durch Fakes und Socialbots hätte prominent in das Bewusstsein der Gläubigen Einzug halten können. Man hätte über Digitale Menschenrechte und staatliche Eingriffe aufklären müssen.

Digitalthemen nicht stark repräsentiert

Es gab einige Veranstaltungen, auf denen das geschah, Haberer nach aber nicht „prominent und flächendeckend“ genug. In den Vorträgen und Workshops ging es beispielsweise um ethische Perspektiven auf Big Data in der Medizin, um den Gegensatz von Freiheit und gesteigerter Angst im Netz sowie um Perspektiven auf Kirche und digitalen Wandel. Ebenfalls im Angebot enthalten war sogar die Mitmachaktion „Wir machen dich fit in Internetsicherheit“. Auch Angela Merkel äußerte sich auf dem Kirchentag zu einem Überwachungsthema – und kritisierte dabei die Gegner der Vorratsdatenspeicherung, die allen ihre Daten geben würden, nur dem Staat nicht.

Haberer sagt, gerade das Motto „Du siehst mich“, hätte dazu eingeladen, „Facebook und Google und andere wie die Geheimdienste ins Gebet zu nehmen. Ein Ort wie der Kirchentag sollte die Intransparenz derer, die uns Bürger und User immer transparenter werden lassen, offenlegen.“

Doch was sagten die Besucher zu den gesteigerten Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen? Mehrheitlich ließen sie sich dadurch nicht die gute Laune verderben. Eine Besucherin machte gegenüber netzpolitik.org deutlich, dass sie die Videokameras und Taschenkontrollen zwar nicht störten, besonders sinnvoll seien sie aber nicht: „Ich habe jetzt hier ein orangenes Bändchen am Rucksack, dass der Inhalt in Ordnung ist. Dann könnte ich ja jetzt eine Bombe reintun, ohne dass es jemand nochmal prüft.“

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8 Ergänzungen

  1. Auf dem gleichen Kirchentag wird Obama, der Drohnen-Massenmörder, umjubelt. Merkel überhörte einige Buh-Rufe. Letzere bekam dafür bei vormaligen Kirchentagen Standing Ovations, während sie den Überwachungsstaat propagierte. Reichsparteitagstimmung. Es wird jedes Jahr unfassbarer. Massenmord per Drohne, Überwachungsstaatlichkeit a la Orwell, Neoliberalismus und Ent-Solidarisierung… Auf den ev. Kirchentagen heuchelt es vor sich hin… Und Kritiker werden rausgetragen. Eine unfassbare Entwicklung.

    1. Eine unfassbare Entwicklung.

      Finde ich nicht. Da ist eher im Rahmen des Erwartbaren, wozu Glaubensgemeinschaften fähig sind – sozusagen im Spannungsfeld von Wohlfühlzone bis anmaßendem Herrschaftsanspruch.

      Die widerlichsten Heuchler finden sich regelmäßig an der Spitze von Glaubenspyramiden. Eine intellektuell beschnittene Glaubensmasse benötigt solche Sinnstifter.

  2. Nach meinem Dafürhalten befinden wir uns an der Schwelle einer neuen Epoche der Totalüberwachung, bei der Technologien eingesetzt werden, die öffentlich nicht bekannt sind. Das Motto des Kirchentags mag diesbezüglich zynisch, warnend oder aufklärerisch sein. Bald wird jeder merken, dass der „Staat“ jeden jederzeit überall sehen kann und mehr als das – viel mehr als das. Mehr Totalität / Totalitarismus geht dann nicht.

  3. Und als das siebte Siegel brach, Stille. Daten konnte man nicht hören. Und das Biest mit den sieben Köpfen stieg aus dem Meere …..“Ich bin der neue Gott ,`Data´“. Vier Buchstaben , einprägsam. Und aus den Gläubigen wurden Ungläubige. Die zerborstenen Reste ihrer Welt würden eine Zeit lang noch Erwähnung finden, aber vom Allgegenwärtigen verschluckt werden. Fundamentalisten würde man sie nennen. Selbst ihr nieder geschriebenes Hauptwerke war digital leicht zu überarbeiten. Im Suchfeld: „Gott“ , eingeben und mit „Data“ ersetzen. Das dauerte in der digitalen Welt nur 0,68 Sekunden. Ein paar langsame Leitungen gab es halt noch.
    Der, welcher ohne Bedauern zurück sah konnte erkennen dass sich um die vergangenen Gläubigen immer diejenigen geschart hatten, die der besonderen Absolution harrten. Schlächter , Massenmörder, Moral – und Werte freie Menschen die den Glauben immer nur zu ihrer eigenen Machterhaltung und Steigerung benutzten. Die logen , betrogen, Waffen lieferten damit sich andere töten würden. Sie stürzen Länder in Bürgerkriege und wurden dann Präsidenten.
    Noch heute bedauern die letzten Fundamentalisten, die super modernen Kameras und alle anderen Überwachungstechnik an ihrem Festtage nicht in die andere Richtung gedreht zu haben.
    (frei nach Bibbel)

  4. Ohne Sinnstiftung ist Ihre atheistische Hetze der Versuch, andere niederzumachen und JEDE Ordnung abzulehnen. An jeder Straßenkreuzung muss es Regeln geben, sonst gibt es Tote- so einfach ist das. Das gilt für Staaten ebenso wie für Kirchen und sogar für Gangster, die ohne Ordnung mit ihrem rififi-Programm von Anfang an scheitern würden.

    Diese „Denker“ wollen die Kirche sprichwörtlich im Dorfe lassen, sind aber dort niemals gesichtet worden. Dann lassen Sie doch die Maske runter und betreiben den Abriss der Dome, die der letzte Krieg übrig gelassen hat und machen Sie Kaufcenter mit Parkhäusern draus, in denen man endlich auch am Sonntag „shoppen“ kann.

    Ich bin gern bereit, ihnen ein Seinar über staatsrechtiche Grundlagen unseres Zusammenleben zu halten- auch privatissieme et gratis.

    1. > Ich bin gern bereit, ihnen ein Seinar über staatsrechtiche Grundlagen unseres Zusammenleben zu halten- auch privatissieme et gratis.

      Gerne möchte ich dieses überaus großzügige Angebot annehmen. Sie stehen doch zu Ihrem Wort oder?

      Bitte, wie kann man Sie kontaktieren für einen Termin?

    2. Unterstellungen heißen ja bei „Professoren“ Thesen. In dem Durcheinander ihrer Äusserungen kann ich einige davon entdecken.
      Ich halte es da mit Jesus (sie kennen die Bibel, setze ich voraus) und auch Mohammed (sie kennen den Koran setze ich voraus) , die Nächstenliebe für wichtiger hielten als jeden Dom und jede Moschee.
      Um jemandem Atheismus zu unterstellen ist auf jeden Fall mehr nötig als eine Ministellungnahme in diesem Forum. Schöner , breiter Holzweg. (!)
      Sinnstiftung ist so ein schönes Wort, Solidarität auch. Regeln sind in Ordnung und die Erhaltung des Lebens ebenso, doch ein Mindestmaß reicht meist aus. Wir reden aber nicht über eine Kreuzung (ist mir zu einfach) sondern über die Sinnhaftigkeit dessen was in der Realität , jenseits der Kreuzungen geschieht. Der Glaube ist es der alles aufrecht erhält. Nicht nur der Glaube an ein höheres Wesen sondern an den Staat , an das Geld, an eine prosperierende Zukunft.
      Totalüberwachung macht stumm und bewegungslos. Das ist wie früher wenn der Nikolaus alle Sünden kannte. Starre.
      Wann fangen sie an die falschen Propheten zu erkennen. Der Schritt ist bei ihnen schon überfällig.
      Sie können sich auch gerne damit brüsten statsrechtliche Grundlagen vermitteln zu können. Von Menschen und deren Raktionen auf diese überbordenden Überwachungssysteme haben sie keine Ahnung. Hochmut , kennen sie den ?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.