Rigaer Straße: Gefahrengebiete sind Überwachungsgebiete – fast 2.400 Identitätskontrollen seit Mitte Januar

Im Gefahrengebiet rund um die Rigaer Straße wurden seit Mitte Januar rund 2.400 Identitätsfeststellungen durchgeführt. Die verdachtsunabhängigen Kontrollen können jeden treffen, der sich an diesem Ort aufhält. Die Daten landen anschließend für ein Jahr in einer Datenbank der Polizei Berlin, auch wenn nichts gegen die kontrollierte Person vorliegt.

Belagerungszustand in der Rigaer Straße. Bild via wetterfrosch

Eine Mitführungspflicht für Identitätsdokumente besteht in Deutschland nicht. Doch wer im Gebiet der Rigaer Straße in Berlin mal kurz ohne Personalausweis zum Bäcker geht, muss damit rechnen, von der Polizei kontrolliert und durchsucht zu werden. Hat man dann keinen Ausweis dabei, kann sich das Brötchenholen durch einen Umweg über die Polizeiwache verzögern.

Identitätsfeststellung im Gefahrengebiet

Warum das Ganze? Weil die Polizei die Rigaer Straße und umliegende Bereiche als kriminalitätsbelasteten Ort deklariert hat, an dem sie verdachtsunabhängige Personenkontrollen durchführen darf. Solche kriminalitätsbelasteten Orte, die auch Gefahrengebiete genannt werden, gibt es viele in Berlin. Doch sie werden geheim gehalten, von ihrer Existenz erfährt man lediglich, wenn sie zu Journalisten durchgestochen werden oder die Kontrollen so massiv werden, dass sich der Zusammenhang nicht mehr leugnen lässt.

Vom 1. März bis 30. Juni 2016 fanden unter diesem Vorzeichen 500 Identitätsfeststellungen im Bereich der Rigaer Straße statt, die zur Speicherung von 469 gespeicherten Datensätzen im Berliner Polizeilichen Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung (POLIKS) landeten. Das ergab die Antwort des Berliner Innensenats auf eine Schriftliche Anfrage des Piraten-Abgeordneten Christopher Lauer. Aufgenommen wurden Name, Geburtsdatum und Wohnanschrift. Vom 13. Januar bis zum 29. Februar 2016 waren es noch 1.883 Identitätsfeststellungen. Doch der Eindruck, dass die Kontrollintensität rapide abgenommen habe, trügt. Die Kontrollhäufigkeit verläuft in Wellen. Genau nachvollzogen werden kann das nicht. Der Senat gibt an, keine genauere Aufschlüsselung geben zu können, da personenbezogene Daten in POLIKS „nur nach den Vorgangsnummern automatisiert recherchierbar“ seien.

Speicherung für ein Jahr ohne Anlass

Während und nach einer umstrittenen „Begehung“ und einer Durchsuchung in dem Hausprojekt Rigaer94 und den darauffolgenden Wochen im Januar herrschte massive Polizeipräsenz und ein hohes Kontrollaufkommen. Danach wurde es ruhiger in der Straße, die Polizeipräsenz sank, Personenkontrollen gab es nur noch sporadisch. Das änderte sich schlagartig am 22. Juni, als Polizei und Securities eine Teilräumung in der Rigaer Straße 94 durchführten, die sich im Nachhinein vor dem Landgericht Berlin als rechtswidrig herausstellte. Es gab keinen Räumungstitel für die Räume, die von einem Verein seit mehreren Jahren genutzt wurden. Das hielt die Polizei nicht davon ab, mit Rückendeckung des Innensenators Frank Henkel drei Wochen lang vor Ort die Umbauarbeiten zu „beschützen“ und dabei praktisch jede Person zu kontrollieren und zu durchsuchen, die das Haus betreten wollte, darunter auch Kinder.

Das Problem der Verletzung der informationellen Selbstbestimmung liegt hier nicht nur in der Identitätsfeststellung an sich. Einher geht oft auch eine Durchsuchung der mitgeführten Gegenstände. Die erhobenen Daten werden darüberhinaus ein Jahr lang im Informationssystem POLIKS gespeichert. Dadurch erfolgt eine Vorverurteilung der kontrollierten Personen, obwohl sie nichts anderes taten als an einem als Gefahrengebiet deklarierten Ort angetroffen zu werden. Das kritisiert auch Fragesteller Lauer:

Wenn man nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist, ohne dass man irgendetwas gemacht hat, wird man sofort in einer Polizeidatenbank gespeichert.

Es ergibt sich für die Polizei außerdem die Möglichkeit, festzustellen, wer mit wem in Verbindung steht oder wen wann besucht und so Beziehungsnetzwerke zu analysieren.

Daten gelangten in die Hände von Rechtsradikalen

Wie problematisch die Datensammelei der Berliner Polizei ist, zeigt ein Vorfall von Ende Juni. Auf einer rechtsradikalen Website wurden Daten von in der Rigaer Straße angetroffenen Personen veröffentlicht, die laut Polizei aus echten Ermittlungsakten stammten. Gehackt worden sei POLIKS nicht, daher muss davon ausgegangen werden, dass die Daten unrechtmäßig weitergegeben wurden.

Noch mehr Eingriffe in die Privatsphäre in den sogenannten Gefahrengebieten wollte der Senat mit der Ermächtigung der Polizei zur Videoüberwachung des öffentlich zugänglichen Raumes durchsetzen. Dieser Vorschlag ist aber gescheitert, sowohl an dem Eiltempo mit dem das Gesetz durchs Berliner Abgeordnetenhaus gepeitscht werden sollte als auch an der zahlreichen Kritik von Datenschützern, Juristen und Uneinigkeit mit dem Koalitionspartner SPD.

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16 Ergänzungen

  1. Aber aber, meine sehr verehrten Damen und Herren.
    Wir haben doch viel zu wenig Polizei in Deutschland!
    Klar, wenn die durch solchen Quark massenhaft gebunden sind (und in solchen Fällen treten die nur in großen Rudeln auf), dann bleibt natürlich keine Zeit mehr für die Aufklärung von Straftaten.
    Wer zahlts? Der Steuerzahler. Und warum? Weil er sich nicht wehrt.
    Wir haben zugelassen, dass die Polizei machen kann, was sie will… und wundern uns jetzt, dass sie tut, was sie will. Und jammert dabei wegen chronischer Überlastung, Überstunden und mangelnde Personaldichte.
    Warum werden eigentlich nach Personenkontrollen die Daten überhaupt gespeichert? Kann mir das mal jemand verraten? Wenn ich als Passant dort vorbei gehe und beim Bäcker ein paar Brötchen kaufe, was habe ich dann mit dem „Gefahrenbereich Rigaer Straße“ zu tun?
    Der dann meiner Meinung nach gar kein Gefahrenbereich ist, denn was die Polizei dort bisher abgezogen hat, ist medial und auch videotechnisch sehr gut dokumentiert worden. Und die Polizei wundert sich noch, dass sie nicht respektvoll und freundlich empfangen wird? Also bei aller Liebe: Das kann ja wirklich niemand nachvollziehen…
    Und der Henkel macht munter weiter. Den hätte man schon längst in Rente schicken müssen, oder irgendwo auf ein Pöstchen setzen, wo er nicht noch mehr Schaden anrichten kann.
    Berliner Polizei? Dann wechselst Du besser die Straßenseite.
    (ich hoffe, die teilweise eingebrachte Ironie und der Sarkasmus wird nicht übersehen)

  2. Ach ja, Gefahrengebiete sind schon so eine Sache… Im Januar 2014 sind die Hamburger Stadtteile St. Pauli, Sternschanze, Altona-Altstadt zu solchen erklärt worden (eine Maßnahme der Polizei, die im Folgejahr vom Hamburger Oberverwaltungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde). In den knapp zwei Wochen, in denen sich die Polizei in besagten Gefahrengebieten allerhand herausnahm, wurde ein Schulfreund meines Sohns zwölfmal anlasslos kontrolliert. Und übrigens: Besagter Schulfreund ist schwarz. So viel zum Thema racial profiling…

    1. Ganz klar: Das ist bestimmt nur Zufall gewesen!
      Anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.
      Verfassungswidrig. Genau das ist der Stichpunkt. Und wer haftet dafür? Keiner. Also egal. Deswegen machen sie es immer und immer wieder, es hat einfach keinerlei negative Auswirkungen.
      Und der Bürger? Der hat Bratwurst und Fußball-EM. Solange das Bier fließt, regt sich da nichts. Und die breiten Medien sorgen schon dafür, dass nahezu alle Polizeiaktionen wohlwollend dargestellt werden.

      1. @Rowenta
        Vor kurzem habe ich ein Interview mit einem Polizisten gelesen,der Name war verändert,weil er Angst um seine Familie hatte.
        Er war der Meinung ,dass man in Berlin bei Rechten hart duchgreift und die linken Anarchos gewähren lässt und er fand das nicht gut…….
        Polizeiakten bei einer rechtsradikalen Website, unter Amtshilfe habe ich eigentlich etwas anderes verstanden,aber man lernt ja nie aus.
        Übrigens wird die Rigaer Str.94 als „Henkels Truppenübungsplatz“ bezeichnet,Henkel ist der Berliner Innensenator mit dem festgefügten (linken) Feindbild und Hang zur Eskalation.
        Das Hauptproblem bei dieser Eskalation in der Rigaer Strasse sind die Oberbürgermeister ,der EX Oberbürgermeister Wowereit und der aktuelle Bürgermeister Müller.
        Wer solche Hau Ruck Typen wie Henkel in den Senat aufnimmt ,ihm beim Frei drehen tatenlos zusieht und nicht an die Kandarre nimmt ,ist mindestens zu
        50 % an den Flurschäden beteiligt,zumindestens verfährt er grob fahrlässig.

  3. Tut mir ja echt leid, dass ihr Linken euch in eurer Wohnraumenteignung , flammenden Fahrzeugentsorgung und Steinwurfübungen auf Beamte gestört fühlt. Verstörend ist eigentlich nur, dass die Politik in Berlin (aber nicht nur in Berlin) solange auf dem linken Auge blind war, dass jetzt viele von der Antifa glauben aus Gewohnheit ein Recht auf dieses asoziale Verhalten zu haben. Hätte man früher eingegriffen wäre jetzt so ein massiver Polizeieinsatz nicht mehr vonnöten.
    Wehret den Anfängen!

  4. Ich stimme dem zu, das hier einiges falsch läuft, aber ich vermisse ein bischen ein Fazit, wie’s nun weitergehen soll.

    Identitätsfeststellung in Gebieten mit Deliktdichte, Grenzgebieten oder gefährdeten Bereichen ist ja klassische Polizeiarbeit und wird jetzt nicht in Berlin auf Zuruf eingestellt werden.

    1. Hmm, also auf jeden Fall würde ich als Münchner mein Auto nicht mehr in Kreuzberg parken… Da hat es wohl gerade erst gebrannt. Auf soviel Mithilfe seitens der Bevölkerung sollte die Polizei schon hoffen dürfen.

      1. Hm. Wenn man in München ist und das Auto in Kreuzberg parkt, ist das nicht unpraktisch? Noch dazu, weil man von Berlin nicht zurückfliegen kann und in München das Auto braucht um vom Flughafen wieder in die Stadt zu kommen.

        1. Da hat die Erschaffung von Feindbildern des Herrn Henkel ja schon Früchte getragen,wenn der erste verängstigte Kleinbürger sein Auto nicht mehr in Kreuzberg abstellt.
          Übrigens ist die Rigaer Strasse in Berlin Friedrichshain,nicht das der irritierte Kleinbürger ins Rotieren kommt und sein Auto in Friedrichshain als sicher glaubt.

          1. Gefahrengebiete sind GefahrengebietE. Und wir reden nicht über Kleinbürger. Die können sich das Leben in der Großstadt eh (fast) nicht (mehr) leisten. Leider muss man aber feststellen, daß die Autos in Berlin insgesamt mehr als sicher sind, egal wo sie gerade so stehen (Parkverbot? Halteverbot?? Fußgängerzone???) und das für lau.

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