Netzneutralität in Europa: Ein erster Schritt zur Klarheit – aber …

Nach der Vorstellung des Leitlinienentwurfs zur Netzneutralität haben wir uns umgehört, was Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft über die vorgeschlagenen Regeln denken. So richtig zufrieden ist niemand, auch wenn es schlimmer hätte kommen können.

Netzneutralität bewegt offensichtlich die Gemüter: Der angekündigte Live-Stream, der die Vorstellung der BEREC-Leitlinien zur Netzneutralität am Montag begleiten sollte, stieß auf so viel Interesse, dass er gar nicht erreichbar war. Ganz überraschend war der Ansturm freilich nicht, denn an den Entwurf der Leitlinien (PDF) waren viele Hoffnungen geknüpft – seien es die der Zivilgesellschaft, die mit den vielen Schlupflöchern und Unklarheiten der EU-Verordnung unzufrieden war und um das offene Internet bangt, oder die der Telekommunikationsindustrie, die ein lebhaftes Interesse daran hat, möglichst viele dieser Schlupflöcher offenzulassen.

Es war die Aufgabe von BEREC, dem Gremium der europäischen Regulierungsbehörden, die viel kritisierten Unschärfen der EU-Verordnung zu klären und den einzelnen nationalen Regulierern eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben, die bei der Umsetzung der Regeln helfen soll. Die Vorstellung des Entwurfs leitet nun eine – lediglich sechswöchige – öffentliche Konsultationsphase ein, während der sich alle Interessierten noch einmal einbringen und ihre (mögliche) Kritik bekunden können.

Strenge Bestimmungen, aber nicht ohne Ausnahmen

Vollends gelungen ist es nicht, sämtliche Schlupflöcher der EU-Verordnung zu schließen: Als prominente Baustellen bleiben Zero Rating, Spezialdienste und Verkehrsmanagement übrig, in denen jeweils mehr oder weniger große Stolpersteine schlummern. Insgesamt fielen die ersten Reaktionen der digitalen Zivilgesellschaft dennoch vorsichtig optimistisch aus, schließlich hätte es viel schlimmer kommen können. So sagte uns Estelle Massé von Access Now, dass der erste Eindruck „ziemlich positiv“ sei. „Es handelt sich um die ersten Schritte in Richtung Klarheit“, erklärte Massé, etwa bei den Regelungen zu Spezialdiensten, die viel besser als erwartet ausgefallen wären. Viel Arbeit stehe jedoch im Bereich des Verkehrsmanagements und vor allem bei Zero Rating bevor, so Massé.

Bei Spezialdiensten handelt es sich um die berüchtigten bezahlten Überholspuren, die dazu benutzt werden könnten, althergebrachte Internet-Anwendungen auf kostenpflichtige Kanäle auszulagern. Die Leitlinien stellen unmissverständlich klar, dass es sich hierbei um klar definierte Dienste handeln muss, die sich grundlegend von normalen Internetzugängen unterscheiden und nicht als Ersatz für solche angeboten werden dürfen. Regulierungsbehörden sollten auf Fall-zu-Fall-Basis überprüfen, ob ein behauptetes Qualitätsniveau „objektiv notwendig“ ist, um eine Überholspur einzurichten. Zudem dürfen Spezialdienste keinesfalls dazu führen, dass die allgemeine Qualität von Internetzugängen durch die Hintertür beeinträchtigt und folglich die Netzneutralität untergraben wird.

Ganz ohne Schlupflöcher geht es aber offenbar nicht: So können Diensteanbieter selbst darüber bestimmen, ob eine Anwendung eine Überholspur benötigt oder nicht – Regulierer „könnten“ oder „sollten“ anschließend überprüfen, ob die Behauptung tatsächlich richtig ist. Es dürfte also maßgeblich von der jeweiligen nationalen Regulierungsbehörde abhängen, wie die Leitlinien ausgelegt werden. Darüber hinaus dürfen Netzbetreiber einzelnen Kunden selbst dann Spezialdienste verkaufen, wenn dadurch deren normale Internetverbindung beeinträchtigt und etwa auf eine vertraglich festgelegte Mindestgeschwindigkeit abgesenkt wird. Grundsätzlich bleibt das zwar verboten, aber nicht dann, wenn ein Nutzer einer solchen Praxis zustimmt.

Neue Geschäftsmodelle für Netzbetreiber

Überholspuren für die Großen, Kriechspuren für die Kleinen? CC BY 2.0, via flickr/AKVorrat
Überholspuren für die Großen, Kriechspuren für die Kleinen? CC BY 2.0, via flickr/AKVorrat

Aus Sicht der Netzbetreiber geht es freilich in erster Linie darum, neue Geschäftsmodelle einzuführen und sich dadurch zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen. So teilte uns ein BREKO-Sprecher (Bundesverband Breitbandkommunikation) mit, dass die erhofften neuen Umsätze „zu einem beachtlichen Teil auch wieder dem weiteren Netzausbau zu Gute kommen“ sollen.

Solche Geschäftsmodelle wären wichtig, damit Investitionen in die Infrastruktur und Umsätze nicht auseinanderfallen. „Es wäre für den Netzausbau in Deutschland fatal, wenn die Netzbetreiber zwar die erheblichen Investitionen in den Netzausbau vornehmen müssten, die Umsätze für die über diese Netze laufenden Dienste aber fast ausschließlich von sogenannten „Over-the-top-Playern“ wie zum Beispiel Google oder Amazon generiert würden, die selbst nicht in Netzinfrastruktur investieren“, hieß es in einer ersten Kurzeinschätzung. (Andere einschlägige Interessensvertretungen wie eco, Bitkom oder VATM wollten sich vorläufig noch nicht zum Leitlinienentwurf äußern, da zuvor interne Abstimmungen notwendig seien.)

Unter den Tisch fallen dabei jedoch all die kleinen Anbieter und Start-ups, denen schlicht das Geld fehlt, um sich solche Überholspuren zu erkaufen. Am Ende könnte uns also ein Netz drohen, das von großen Anbietern dominiert wird und Innovationen gar nicht mehr aufkeimen lässt, wenn für finanzschwache Einsteiger bloß Kriechspuren übrig bleiben. Das gilt selbstverständlich auch für deutsche Klein- und Mittelbetriebe, die fürchten, unter die Räder zu kommen, sollten Überholspuren zur neuen Normalität werden. „Es darf keine Frage von Zahlungen an den Telekommunikationsanbieter sein, ob die Online-Angebote von Händlern für die Kunden nutzbar sind“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland, Stephan Tromp.

Geht es nach BREKO, soll das aber nur eine Übergangslösung darstellen, denn mit dem Aufbau von Glasfasernetzen, die ausreichende Kapazitäten aufweisen, sollten „Regelungen für eine ‚Mangelverwaltung‘ überflüssig werden“. Bleibt zu hoffen, dass es sich um mehr handelt als reines Wunschdenken, denn ein Blick auf die deutsche Breitbandpolitik zeigt, dass Netzbetreiber – wie hierzulande die Deutsche Telekom – alles daransetzen, noch das letzte Quentchen aus ihren (veralteten Kupfer-) Netzen herauszuholen. Warum sich künftig die Anreize verschieben sollten, erschließt sich jedenfalls nicht auf Anhieb.

Aber gerade große und multinationale Konzerne laufen Sturm gegen den Entwurf, der offensichtlich restriktiver ausgefallen ist als erwartet. So zitierte Euractiv einen Telekom-Lobbyisten, der gerne laxere Bestimmungen im Bereich der Spezialdienste hätte:

„Wir sind sehr enttäuscht. Wir halten den Entwurf dieser Leitlinien für weitaus restriktiver, als das, was in der Verordnung beschlossen wurde“, schimpfte ein Lobbyist des spanischen Mobilfunkgiganten Telefónica auf der gestrigen Veranstaltung.

In seinen Befürchtungen sah sich der österreichische EU-Parlamentsabgeordnete Michel Reimon bestätigt, der vor Rechtsunsicherheiten und einem Kampf à la „David gegen Goliath“ warnte, in dem Start-ups und kleine Serviceanbieter gegenüber großen Betreibern keine Chance hätten:

Ein Netzwerk-/Verkehrsmanagement, das zu einer Reihe von Diskriminierungen führen und den Wettbewerb verzerren wird; Regelungen zu Spezialdiensten, die nicht klar genug sind, um Schlupflöcher zu vermeiden; nicht präzise genug gefasste Vorschläge zum Zero Rating – von einem grundsätzlichen Verbot ist man meilenweit entfernt – bedeuten de facto die Abschaffung der Netzneutralität.

Bedingt durch die vielen Sonderregelungen sei insgesamt das Ziel verfehlt worden, eine europaweite Netzneutralität sicherzustellen. Gut ablesen lasse sich das am Beispiel Zero Rating, erklärte der grüne EU-Abgeordnete gegenüber netzpolitik.org: „Wenn jede nationale Regulierungsbehörde von Fall zu Fall entscheidet, haben wir ein nationales Regulierungsflickwerk und damit das Gegenteil eines einheitlichen digitalen Binnenmarktes.“

Der Ansatz von BEREC, viele strittige Fragen auf Fall-zu-Fall-Basis von den einzelnen Mitgliedstaaten entscheiden zu lassen, berge neben den grundsätzlichen Problemen noch einige weitere, erklärte uns Maryant Fernandez Perez von EDRi.org: „Das erzeugt rechtliche Unsicherheiten und stellt nationale Regulierungsbehörden vor praktische Probleme, denen es oft an Ressourcen mangelt, um Verletzungen der Netzneutralität zu untersuchen.“

Mehr Datenvolumen statt Zero Rating

Nach dem Verbot von Zero Rating in den Niederlanden ging es mit der Entwicklung des mobilen Datentransfers steil nach oben. Screenshot: dfmonitor.eu by Rewheel
Nach dem Verbot von Zero Rating in den Niederlanden ging es mit der Entwicklung des mobilen Datentransfers steil nach oben. Screenshot: dfmonitor.eu by Rewheel

Nicht nur deshalb hätte BEREC Zero-Rating-Angebote verbieten müssen. Die in vielen EU-Mitgliedstaaten verbreitete Praxis, bestimmte Dienste wie Spotify vom monatlich begrenzten Datentransfervolumen auszunehmen, steht bereits seit langem in der Kritik, da dadurch ein Ungleichgewicht zwischen Diensten oder ganzen Diensteklassen geschaffen wird. Erkauft sich beispielsweise ein Inhalteanbieter wie Spotify einen solchen begehrten Platz bei einem Netzbetreiber, wird dadurch der Dienst automatisch attraktiver für potenzielle Nutzer, was wiederum die Angebotsvielfalt bedroht. Zudem können sich Netzbetreiber leicht zu „Gatekeepern“ aufschwingen und darüber entscheiden, welcher ihnen genehme Dienst eine bevorzugte Behandlung erfährt und welcher nicht.

Selbst scheinbar gutartige Angebote wie das von T-Mobile USA, das Musik- und Videostreams nicht auf das Datenvolumen anrechnet, werden dieses grundsätzliche Problem nicht los: Inhalteanbieter (oder deren Nutzer) müssen den Betreiber erstmal auf den Bedarf aufmerksam machen, bestimmte technische Anforderungen erfüllen und anschließend darauf hoffen, auch tatsächlich ins Programm aufgenommen zu werden. Auf der Strecke bleiben kleine Anbieter, die nicht über die Ressourcen verfügen, sich auf dieses Prozedere einzulassen – ganz zu Schweigen vom bürokratischen Aufwand über dutzende Landesgrenzen und Betreiber hinweg, sollte sich ein solches Modell international durchsetzen.

Blaupause Niederlande

Laut Perez sollten die EU-Mitgliedstaaten dem Vorbild der Niederlande folgen, das unlängst Zero-Rating-Angebote als Reaktion auf die EU-Verordnung (erneut) gesetzlich verboten hat. Das schützt nicht nur das offene Internet, sondern hat auch weitere angenehme Nebeneffekte für Verbraucher: „Nachdem die Niederlande [im Jahr 2013] Zero Rating verboten haben, hat das bei Netzbetreibern wie KPN dazu geführt, dass deren Datentransfergrenzen nach oben hin verschoben wurden, um Nutzer zum Konsum von Videoinhalten zu ermuntern“, so Perez.

Vor diesem Hintergrund erscheint es unverständlich, wieso sich BEREC dazu entscheiden hat, Zero Rating nicht komplett zu untersagen. Augenscheinlich ist der Behörde bewusst, dass es sich um eine höchst problematische Praxis handelt. Der Entwurf der Leitlinien weist im Detail und auf mehreren Seiten wiederholt auf die damit verbunden Gefahren hin und betont, dass nationale Regulierungsbehörden bei ihren Entscheidungen stets die Nutzerrechte, die Angebotsvielfalt sowie die Marktmacht der entsprechenden Betreiber im Blick behalten müssen.

„Zwar wird die Gefährdung von Verbraucherrechten und des Wettbewerbs betont – ohne jedoch, dass hieraus die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden“, fasste der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz das Problem zusammen und forderte ein konsequentes Verbot von Zero Rating. Auch im Zusammenhang mit Spezialdiensten seien erhebliche Zweifel angebracht, ob „die vorgeschlagenen Sicherungsmechanismen tatsächlich ausreichen, um die Netzneutralität effektiv zu schützen“, mahnte von Notz. Die Regulierungsbehörden müssten im Sinne von Verbraucherschutz und Wettbewerb dringend nachbessern, damit nicht „scheunentorgroße Schlupflöcher“ offen bleiben.

Sub-Internet-Angebote vom Tisch

Als einzige klare Vorgaben blieben denn auch bloß einige wenige und offensichtliche Verbote übrig, was etwa von EDRi.org begrüßt wurde: Netzbetreiber dürfen den Zugang zu Inhalten generell nicht künstlich blockieren oder verlangsamen; sogenannte „Sub-Internet-Angebote“, die nur ausgewählte Plattformen oder Anwendungen erreichbar machen und den Zugriff auf das restliche Internet verhindern, sind untersagt; und schließlich dürfen genehmigte Zero-Rating-Angebote nicht vom Transfervolumen ausgenommen werden, sobald ein Nutzer die Kappungsgrenze für das sonstige Internet erreicht.

In weiser Voraussicht hat sich übrigens die Deutsche Telekom auf letztere Regelung vorbereitet und bereits Ende März angekündigt, ihre Spotify-Flatrate entsprechend einzuschränken. Insgesamt verstärkt das nur den Eindruck, dass die Regelungen zu Zero Rating einzig und allein der Telekommunikations-Lobby geschuldet sind, denn abgesehen von großen Unternehmen profitiert niemand von diesen zweifelhaften Angeboten: die Angebotsvielfalt nicht, die Meinungsfreiheit nicht, kleinere Anbieter und Start-ups nicht, der Ausbau der Infrastruktur nicht (siehe das niederländische Beispiel), und letztlich auch die Nutzer nicht.

Mit Qualitätsklassen in die Mangelwirtschaft

Dem raschen Aufbau leistungsfähiger Netze steht zudem das Verkehrsmanagement im Weg, das es Netzbetreibern erlaubt, verschiedene Anwendungen in verschiedene Qualitätsklassen einzuteilen – unabhängig von der Auslastung des Netzes. Zwar ist es verboten, die Einteilung auf Basis von kommerziellen Überlegungen vorzunehmen, Netzbetreibern wird es aber nicht schwerfallen zu erklären, dass etwa Telefonie über das Internet höher priorisiert werden sollte als ein bestimmtes Filesharing-Protokoll. Kurzfristig dürfte eine solche Diskriminierung gewisse handverlesene Anwendungen tatsächlich zuverlässiger machen, für die Netzbetreiber verringert sich jedoch der Druck, ihre Infrastruktur zügig auszubauen – von der alle profitieren, sowohl Nutzer als auch Dienste.

Unterm Strich berühren all die verbliebenen Schlupflöcher dieselbe Grundproblematik: Netzbetreiber wollen Investitionen in ihre Netze so lange wie möglich hinauszögern und im gleichen Atemzug neue Einnahmequellen erschließen. Dass dabei der Bestand des offenen Internets gefährdet wird, mit negativen Auswirkungen auf Innovation sowie Meinungs- und Angebotsvielfalt, scheint keine große Rolle zu spielen. Umso wichtiger, dass sich nicht nur Lobbyisten an der derzeit laufenden Konsultation beteiligen, sondern möglichst viele aus der Zivilgesellschaft.

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2 Ergänzungen

  1. Hm, wann gibt es den ersten OTTO-Normalverbaucher, der durchs Netz gejagt und verheizt wird?
    Wer soll denn die Bilderflut und Gerüchteküche stoppen?
    Macht das einer der Durchleiter, oder sind das nur Halbleiter die nicht mehr tiefgekühlt sind?
    Ich habe das Gefühl, hier sind alle medial sehr heiß und nur noch an HOTSTORIES interessiert.
    Lieben Gruß SUSI

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