Kurt Graulich im Interview über NSA-Selektoren und den „kleinsten Auslandsnachrichtendienst der deutschen Geschichte“

Der Jurist Kurt Graulich hatte im November letzten Jahres seinen Bericht über die NSA-Selektoren abgegeben, der klarstellen sollte, ob und wie die NSA mit Hilfe des BND europäische Unternehmen, Institutionen und Politiker ausgeforscht hat. Der Zeitschrift „vorgänge“ gab er nun ein Interview, in dem er über seine Arbeit, den politischen Streit darum und die Ergebnisse des Berichts spricht.

Im Rahmen der geheimdienstlichen Kooperation wurden die NSA-Selektoren in einem automatisierten Verfahren in das technische System des BND in Bad Aibling eingespeist. Der ehemalige Richter am Bundesverwaltungsgericht hatte für seine Untersuchung Excel-Listen der Selektoren einsehen dürfen. Diese Ablehnungslisten mit rund 39.000 NSA-Suchbegriffen waren im Zeitraum von 2005 bis 2015 entstanden.

Seine Berichte an das Kanzleramt, an den Bundestag und in gekürzter Version an die Öffentlichkeit führten auch dazu, dass die Bundesregierung in einer Pressemitteilung „technische und organisatorische Defizite“ beim Bundesnachrichtendienst (BND) einräumen musste, die aber inhaltlich nicht spezifiziert wurden. Technische Mängel und auch Rechtsbrüche ließen sich jedenfalls nicht mehr gänzlich vom Tisch wischen.

Graulichs Einsetzung war von politischem Streit begleitet. Er sei „von der Regierung durchgesetzt“ worden, die Große Koalition hätte seine Einsetzung mit ihrer großen Mehrheit im NSA-BND-Ausschuss einfach beschlossen. Im Interview weist er diesen Vorwurf zurück und erklärt, warum er trotz des politischen Streits den Auftrag angenommen habe:

„Die Grundannahme der Frage ist unzutreffend: ‚von der Regierung durchgesetzt‘ stimmt nicht. Ich habe erläutert, dass Verfahren und Auswahl der Sachverständigen Vertrauensperson [Graulich] dem Willen der Ausschussmehrheit folgten; ohne dieses Votum hätte die Bundesregierung anders vorgehen müssen. Im Übrigen gab es keinen von der Opposition benannten Gegenkandidaten. Streit ist im politischen Prozess normal und sollte einen Demokraten nicht irritieren. Auch Gesetze sind zu befolgen, wenn sie nicht einstimmig, sondern nur von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen werden. Fehlende Einstimmigkeit kann deshalb auch für die Übernahme einer solchen Funktion kein beachtlicher Einwand sein. Eher wäre es umgekehrt schwer zu begründen gewesen, wenn dem Beschluss der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten im Untersuchungsausschuss nicht gefolgt worden wäre.“

Im Ergebnis seines Berichts bleibt festzustellen, dass zahlreiche und systematische Verstöße gegen das Memorandum of Agreement (MoA) nun aktenkundig sind. Die NSA versuchte also entgegen dieser Vereinbarung den deutschen Geheimdienstlern Selektoren unterzuschieben. Graulich fasst sein Ergebnis nochmal zusammen, nämlich dass…

„…4.971 Internet-Selektoren deutscher Grundrechtsträger in Deutschland und 3.269 Internet-Selektoren deutscher Grundrechtsträger im außereuropäischen Ausland herausgenommen wurden. Diese durften von vornherein nicht eingesetzt werden. […] Ein wichtiger Teil der abgelehnten Selektoren war […] systematisch auf allgemeine Bereiche europäischer Politik und Verwaltung gerichtet, welche niemals die Ausnahmevoraussetzungen erfüllten. Das politische Problem dieses Vorgehens liegt darin, dass hier gleichsam aus der Deckung einer Kooperation Aufklärung in befreundetem Gebiet betrieben wird. Darin liegt ein schwerwiegender Verstoß. Aus diesem Grund sind 22.024 Internet-Selektoren herausgenommen worden, die gegen Regierungseinrichtungen und staatliche Stellen von EU-Staaten gerichtet waren.“

Aber noch andere Gründe sprechen laut Graulich für die Rechtswidrigkeit des Vorgehens bei den Selektoren:

„Der BND konnte die Begründungen für gelieferten Selektoren bei der größten Datenbank der NSA nicht lesen. Das war kein Problem der NSA, sondern der unzulänglichen deutschen Software. Unter diesen Umständen war keine Entscheidung über den rechtsförmigen Charakter dieser Selektoren möglich, ihr Einsatz hätte unterbleiben müssen.“

Befragt zum nachfolgenden politischen Streit über sein Gutachten und dessen Inhalte, verweist Graulich darauf, dass die Regierungsfraktionen seinen Bericht ja „begrüßt“ hätten. Kritik aus der Opposition und aus den Medien hätten nur „taktische Bedeutung“, sie hätten auch nur „analytisch geringe Tiefe“. Angesichts der Eikonal-Lücke sowie der Vorwürfe gegen Graulich, als Gutachter direkt vom Bundesnachrichtendienst abgeschrieben zu haben, sind Bemerkungen über analytische Tiefe wohl eher deplaziert.

Zuletzt wiederholt Graulich noch diese erstaunliche geschichtliche Anleihe, die einhergeht mit dem Kosten-Argument:

„Solche [geheimdienstlichen] Kooperationen bestehen aber auch aus finanziellen Gründen, weil sie Kosten sparen. Die Bundesrepublik hat den mit Abstand kleinsten Auslandsnachrichtendienst der deutschen Geschichte. Ohne Kooperationen müsste dafür viel mehr eigenes Geld und Personal aufgewendet werden.“

Noch billiger wäre es allerdings, wenn man auf den Ausbau technisierter Überwachung durch Geheimdienste verzichten würde.

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7 Ergänzungen

  1. Seine Darstellung des Sachverhalts ist deswegen falsch, weil die Einsetzung einer „Sachverständigen Vertrauensperson“ ausschließlich von der Bundesregierung betrieben, von der Koalition beschlossen und von der Opposition abgelehnt wurde. Bei einer Offenlegung hätte jeder der betroffenen Grundrechtsträger juristisch gegen BND und Regierung vorgehen können. Das wird dadurch verhindert, dass keiner der Betroffenen Kenntnis erlangt und damit auch nicht klagen kann. Was wohl auch Sinn der ganzen Scheinaktion war.

  2. „Die Bundesrepublik hat den mit Abstand kleinsten Auslandsnachrichtendienst der deutschen Geschichte.“

    Vergleicht hier Herr Graulich den BND in seiner „Größe“ ernsthaft mit anderen „größeren“ deutschen Nachrichtendiensten der deutschen Geschichte? Wie wäre es Herrn Graulich denn genehm? Wieder einen stattlichen Apparat à la „Fremde Heere Ost“? Nach dem Motto „Unter Hitler war nicht alles schlecht!“? „Unter Hitler gab es wenigstens einen großen Auslandsnachrichtendienst!“?

    Die deutsche Großmannssucht wird wohl nie endgültig gezähmt werden.

    1. Der Witz: „Solche Kooperationen bestehen aber auch aus finanziellen Gründen, weil sie Kosten sparen.“ darf in den Schwank und Merksatz überführt werden:

      „Spart durch Verrat man Kosten, sind im Dienst reine Vollpfosten.“

      Auf Größe kommt es dabei weniger an. Nun ist die Frage, warum Graulich diesen bösen Treppenwitz als Steilvorlage mitgebracht hat.

      Auch schön: „Hinzu kommt, dass es sich bei den NSA-Selektoren um geistiges Eigentum eines ausländischen Vertragspartners handelt.“

      was im zusammen zu fassen ist:

      „Geht der Bundestag inspizieren, könnt jemand Geistges Eigentum verlieren. Die Regierung hat keine Wahl, Einsichtnahme wäre illegal.“

  3. Ohne auf andere wichtige Punkte in diesem Gutachten einzugehen, sollte schon der Satz „Ein wichtiger Teil der abgelehnten Selektoren war […] systematisch auf allgemeine Bereiche europäischer Politik und Verwaltung gerichtet, welche niemals die Ausnahmevoraussetzungen erfüllten“ klar machen, dass systematisch(!!!!) die deutsche und europäische Staatlichkeit ausgeforscht werden sollte.

    Wenn mir ein Gutachter schreiben würde, mein Geschäftspartner würde systematisch gegen gemeinsame, schriftliche Absprachen und gegen meine Interessen handeln, was wäre dann eigentlich die logische Konsequenz? Eitel Sonnenschein und Bruderküsse?

    Es sind ja Beispiele solcher Selektoren bekannt geworden … Telefonnummern im französischen Agrarministerium bspw. …. da liegt doch der Verdacht nahe, dass die NSA herausfinden wollte, wie die Verhandlungslinien europa-intern gebildet werden (Agrarexporte, Käse, Wein sind nicht unwichtig für den französischen Außenhandel). Mit Terrorismusabwehr, Aufklärung von Waffenhandel etc hat das nichts zu tun. Pure Wirtschaftsspionage. Und unsere Regierung ist so blöd, fürs Abhören auch noch den Strom zu bezahlen.

  4. Unabhängig davon, welche weiteren Unglaublichkeiten über Wikileaks, Snowden, unsere Medien, die Selektorenliste oder wen auch immer noch an die Öffentlichkeit gelangen werden, kann man heute getrost feststellen: alles, was technisch und organisatorisch möglich ist, wird zur Überwachung von Bürgern (insbesondere der politischen und wirtschaftlichen Elite) und Organisationen (insbesondere Regierung und Unternehmen) eingesetzt – unabhängig von Gesetz und Moral. U.a. von der NSA, dem BND, … Oder kann mir jemand das Gegenteil beweisen? Auch der sogenannte „neutrale“ Sondergutachter Graulich hat durch sein gräuliches, tlw. von BND-Papieren abgeschriebenes Gutachten, o.g. Feststellung tendenziell untermauert.
    Was m.E. die Politik jetzt tun muss: setzen Sie endlich eine von allen gesellschaftlichen Kräften getragene Bewegung in Gang, die transparente gesetzliche und moralische Regeln hervorbringt, die den Menschen- und Freiheitsrechten wieder absoluten Vorrang einräumen und den sicherheitsbedingten Maßnahmen enge, richterlich und parlamentarisch überwachte Grenzen setzen. Denn schlimmer als die anhaltende Vertuschung und Unterlassung von Gegenmaßnahmen sind das Fehlen solcher Regeln. Auch ein Sachverständiger als Geheimdienst-Kontrolleur braucht anerkannte Regeln!
    Und überwinden Sie endlich Ihren vorauseilenden Gehorsam und schalten die immer noch aktiven US-Abhöreinrichtungen in Deutschland ab!
    Derartige Überlegungen scheinen zumindest unserer NSA-Versteherin Merkel aber fremd zu sein. Dazu kommt ihr unnachahmliches Talent, Dinge auszusitzen, Wein – sprich: Aufklärung – zu predigen und Wasser – sprich: Vertuschung – zu praktizieren nach dem Motto: nichts sehen, nichts hören, nichts reden. Bei dieser sogenannten Aufklärung hat sie sich mittlerweile so verheddert, dass ihr nur noch ein Befreiungsschlag (= Rücktritt?) aus dieser Misere helfen kann. Doch halt: im Sommer hat sich Ihr erstes Bauernopfer (= Range) geoutet! Jetzt, wenn auch viel zu spät, muß das zweite Bauernopfer (=Schindler) über die Kling springen. Doch wann outet sich Maaßen? Und schließlich: wie lange will sie noch ihre verantwortlichen CDU-Minister halten?
    Für den Umgang der Kanzlerin mit ihrem Smartphone empfehle ich:
    http://youtu.be/CCHQA68Eqd4
    Und für weitere Verhaltensregeln:
    „Wir werden nicht abgehört, die NSA achtet Recht und Gesetz.“
    http://youtu.be/_a_hz2Uw34Y

    Und was die SPD in dieser Angelegenheit betrifft:
    Bei dem NSA-Skandal wird immer offensichtlicher, dass die (vorherige) Regierung getrickst, verschwiegen, geltendes Recht interpretiert/gedehnt/gebeugt/im Notfall angepasst hat und die NSA-Versteher Merkel, de Maizere, Altmeier, Pofalla, … die Unwahrheit gesagt haben. Und jetzt sollen auch noch – bisher ungesetzliche Praktiken – im Nachhinein durch entsprechende Anpassungen von Gesetzen und Verordnungen legalisiert werden. Warum lasst ihr zu, dass die Union sich präsentiert als Partei des Staatswohls, während ihr eure Überzeugungen und euer Programm verratet? Und jetzt hat Merkel-Versteher Gabriel auch noch die Vorratsdatenspeicherung durchgewunken, wo derzeit doch ein Plädoyer für die Bürgerrechte angebrachter wäre!
    Und je länger die SPD dabei mitmacht, umso mehr fällt letztlich auch auf sie zurück!

  5. Und täglich lügt das Kanzleramt …
    Mehr als zwei Jahre nach den schockierenden Veröffentlichungen von Edward Snowden stellt sich der NSA-Skandal immer noch als schlechte Tragödie dar:
    Die Politik, insbesondere die Union, fälscht/lügt/trickst/verharmlost/verheimlicht/unterlässt/stellt sich unwissend auf Teufel komm raus. Neuestes Beispiel: der dem Kanzleramt unterstehende BND mißachtet die Rechte der Bundesdatenschutzbeauftragten, davor: Merkels und Altmeiers Falschinformationen über die Selektorenlisten und die Netzpolitik.Org-Affäre und …
    Die politische und wirtschaftliche Elite sorgt sich mehr um die transatlantischen Beziehungen als um Bürgerfreiheit bzw. Wirtschaftsspionage.
    Vertreter der Bürgerfreiheit (Kirchen, Kulturschaffende, Intellektuelle, Gewerkschaften …) ergreifen kaum lautstark Partei.
    Die Regierung verspricht Aufklärung, praktiziert aber Vertuschung.
    Niemand übernimmt Verantwortung, Aussitzen ist die Devise!
    Die Internet-Nutzer meinen immer noch verhamlosend und naiv, sie hätten nichts zu verbergen.
    Eine gesellschaftliche Diskussion, wie man den Menschen- und Freiheitsrechten wieder absoluten Vorrang vor sicherheitsbedingten Maßnahmen einräumen kann, findet nicht statt.
    Die Medien verlieren sich in pausenlosen Berichten über Einzelaspekte, versäumen aber, den wirklichen Grundsatzfragen auf den Grund zu gehen.
    In diesem Sinne:
    „Yes, we scan.“
    http://youtu.be/v1kEKFu6PkY
    „Stellt Euch vor, wir lauschen gerne: Goethe, Kant und auch Beethoven“!
    http://youtu.be/pcc6MbYyoM4
    „Wir werden nicht abgehört. Die NSA achtet Recht und Gesetz.“
    http://youtu.be/_a_hz2Uw34Y

    Und je länger die SPD dabei mitmacht, umso mehr fällt letztlich auch auf sie zurück!

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