Ministerpräsidentin Malu Dreyer fordert „transparente Aufklärung“ der Geheimdienstskandale

Am Mittwoch wurde in Mainz Edgar Wagner verabschiedet, der acht Jahre lang der Landesbeauftragte für den Datenschutz des Landes Rheinland-Pfalz und in den letzten drei Jahren auch für die Informationsfreiheit zuständig war. Wagners Engagement für die Informationsfreiheit half, in Rheinland-Pfalz als erstem Flächenland ein Transparenzgesetz, inklusive Partizipationsverfahren, auf dem Weg zu bringen.

Anlässlich der Verabschiedung im Landtag fand Ministerpräsidentin Malu Dreyer klare Worte zu den Geheimdienstskandalen und zur Vertrauenskrise in der IT-Sicherheit. Sie sprach explizit von „Industriespionage“ und hielt zur Serie an NSA-BND-Enthüllungen nur trocken fest:

„Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert.“

Sie betonte nochmals, man müsse jetzt für „transparente Aufklärung“ sorgen.

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Der Landtag in Mainz. Bild: Anneke_B. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0.

Nach acht Jahren im Amt nahm Edgar Wagner seine Verabschiedung zum Anlass, eine kurze, aber die Datenschutz-Gesamtsituation über das Land Rheinland-Pfalz hinaus umreißende und grundsätzliche Rede zu halten, die wir hier mit seiner Genehmigung in Teilen wiedergeben.

Ansprache von Edgar Wagner im Rahmen der Feierstunde im Landtag Rheinland-Pfalz

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren verschaffte uns Edward Snowden tiefe Einblicke in die globale Überwachung unserer Internet-Kommunikation durch diverse Geheimdienste, Einblicke, die auch auf eine Zusammenarbeit der Geheimdienste mit Google, Facebook und Co. hindeuten und Rückschlüsse auf systematisch betriebene Wirtschaftsspionage zulassen.

Es ist deshalb höchste Zeit, meine Damen und Herren, nicht nur darüber zu streiten, ob jemals ernsthaft über ein No-Spy-Abkommen verhandelt wurde, sondern alles daranzusetzen, unser digitales Selbstbestimmungsrecht besser zu schützen als dies derzeit geschieht, besser zu schützen vor dem Staat, der auch anlasslos Daten speichern lässt, und besser zu schützen vor der Wirtschaft, die – wie Martin Schulz es formulierte – einen exzessiven Datenkapitalismus betreibt und in diesen Schutz viel stärker als bisher auch die Kinder einzubeziehen, die in ihrer großen Mehrheit längst auch im Internet unterwegs sind.

Ein solcher Schutz ist auch deshalb so notwendig, weil die digitalen Mega-Trends unserer Zeit vom Internet der Dinge bis zur Industrie 4.0, von Big Data bis Smart World Fakten schaffen, die nicht mehr reversibel sind. Sie führen dazu, dass alle, wirklich alle unsere Lebensäußerungen und Verhaltensweisen lückenlos erfasst, kontrolliert und damit auch manipuliert werden können.

Genau das, meine Damen und Herren, ist die Kehrseite der digitalen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten, die unser Leben erleichtern, ist der Preis für die Fortschritte und Wachstumssprünge, die von der Digitalisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft erwartet werden.

Dieser Preis besteht, ich will es noch einmal betonen, in der Durchschaubarkeit der Bürgerinnen und Bürger, deren Vergangenheit immer präsent sein wird und deren Zukunft immer genauer vorhergesehen und vorausberechnet werden kann, mit all den fatalen Folgen, die dies für die Betroffenen haben wird.

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Hans-Jürgen Papier. Bild: Michael Panse. Lizenz: Creative Commons BY-ND 2.0.

Dies ist ein Alptraum, meine Damen und Herren, und es ist der „Super-Gau des Datenschutzes“, den der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, bereits 2008 anlässlich des 25. Jahrestages der Volkszählungsentscheidung vorhergesagt hatte.

Vorschläge, wie man diesen Daten- und Informationskapitalismus zähmen und den technologischen Totalitarismus, von dem Frank Schirrmacher sprach, beherrschen könnte, liegen auf dem Tisch. Aber man tut sich schwer, diskutiert immer noch über die Vorschläge der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die der Bundestag 2010 eingesetzt hatte, bringt Rote-Linien-Gesetze ins Gespräch, verweist auf die Notwendigkeit internationaler Regelungen, führt in Brüssel eine Schlacht mit den versammelten Lobbyisten dieser Welt, will das erhoffte digitale Wirtschaftswunder nicht gefährden, prüft die Monopolstellung von Google, ohne darüber zu entscheiden, schiebt eben immer noch vieles auf die lange Bank, hübsch verpackt in digitale Agenden, denen jede Verbindlichkeit fehlt.

Ich konnte und kann Frank Schirrmacher verstehen, der kurz vor seinem Tod über dieses kraft- und weitgehend konzeptlose Verhalten Beschwerde führte.

„Längst tobt die digitale Revolution“, schrieb er. „Doch unsere Repräsentanten kämpfen nicht für Freiheit und Autonomie, sondern feiern noch die bedenklichsten Gadgets der Datenhändler. Höchste Zeit, sich dem Versuch einer Programmierung der Gesellschaft und des Denkens zu widersetzen.“

Es ist auch deshalb höchste Zeit, meine Damen und Herren, weil mit der digitalen Revolution neue Gefahren für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung einhergehen. Die Demokratie – so tönt es aus dem Silicon Valley – ist eine veraltete Technologie. Wir werden sie durch eine neue ersetzen. Und wir werden erfolgreich sein, weil wir über alle Daten verfügen, um die Probleme der Zeit auf unsere Weise zu lösen, sagte Peter Thiel, ein digitaler Großinvestor und digitaler Vordenker aus den USA.

Was für eine Hybris, meine Damen und Herren, was für eine Provokation. Und wieder empört sich kaum jemand, weder im Staat noch in der Gesellschaft. Als gäbe es einen Grund, die digitalen Großfürsten unserer Zeit nicht ernst zu nehmen. Als ginge es bei der Digitalisierung um Gesetzmäßigkeiten, die zwangsläufig ablaufen würden und auch unsere kulturellen Errungenschaften in Frage stellen dürften.

Aber so ist es nicht. Wir müssen uns wehren und wir können uns widersetzen:

  • mit Datenschutznormen, die in erster Linie das digitale Selbstbestimmungsrecht und erst dann den freien Datenverkehr im Blick haben,
  • mit kartellrechtlichen Maßnahmen und steuerpolitischen Entscheidungen,
  • mit Programmen zur Förderung von Verschlüsselungstechnologien und europäischen Cloudlösungen,
  • mit technischen Datenschutzlösungen bereits bei der Entwicklung digitaler Produkte und Systeme, dem sog. Privacy by Design,
  • mit mehr Transparenz bei den digitalen Großunternehmen und ihren lebenssteuernden Algorithmen und
  • mit mehr, viel mehr digitaler Aufklärung und digitaler Bildung, in den Schulen, aber auch in der außerschulischen Bildung.

Am Ende muss auch nach neuen Wegen gesucht werden, wie den Menschen die dunklen Seiten der Digitalisierung begreifbar gemacht werden können. Wenn die Cyberwars in USB-Sticks stattfinden, wird sie niemand für real halten. Und wenn sich die Datenschutzerklärungen in einem Schwall unlesbarer Zumutungen erschöpfen, werden sie von niemandem zur Kenntnis genommen. Deshalb müssen auch die Gefahren der Digitalisierung visualisiert, sinnlich wahrnehmbar und im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar gemacht werden. Nur wenn uns das gelingt, werden wir auch mit unseren Bemühungen um mehr Selbstdatenschutz erfolgreicher sein als wir es bisher sind.

Denn davon, von mehr Achtsamkeit und einem wacheren, das heißt auch kritischeren Bewusstsein der Menschen wird es in erster Linie abhängen, ob auch die digitale Gesellschaft eine freiheitliche Gesellschaft bleiben wird, in der Autonomie und Selbstbestimmung einen gesicherten Platz haben.

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3 Ergänzungen

  1. Tut gut, sowas mal von offizieller Seite zu hören.

    Was mir nur immer wieder aufstößt: „Und wieder empört sich kaum jemand, weder im Staat noch in der Gesellschaft.“
    Ich denke, es empören sich eine ganze Menge Leute, aber keiner weiß, was man tun kann.

    Mich beschleicht ja langsam auch der Verdacht, daß wir nur deswegen keinen Breitbandausbau bekommen, weil dann surfen mit TOR zu schnell würde. Unabsichtlich kann man ja kaum eine so absolut zukunftswichtige Infrastruktur unseres Gemeinwesens jahrelang völlig verkommen lassen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.