Michel Reimon: EU-Verhandlungen zur Netzneutralität verlaufen „katastrophal“

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Save the Internet - Kontaktiere jetzt Deinen Abgeordneten! 2015-05-27 16-24-30In der EU sind die Trilog-Verhandlungen zur Netzneutralität und generell dem Telecom-Single-Market gestartet. Dabei geht es nicht nur um Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament rund um die Frage, ob wir Regeln zum Schutz der Netzneutralität brauchen, sondern auch um die Frequenzen und Roaming. Wir haben Michel Reimon, österreichischer EU-Abgeordneter und zuständiger Berichterstatter der Greens/EFA-Fraktion zum aktuellen Stand der Verhandlungen interviewt.

netzpolitik.org: Vor einem Jahr hat das EU-Parlament mit großer Mehrheit für klare Regeln zum Schutz der Netzneutralität gestimmt. Vor wenigen Monaten hat der EU-Rat fast das Gegenteil beschlossen. Das bedeutet, ein Trilog soll einen Kompromiss finden. Wie läuft der Trilog?

Michel Reimon: Katastrophal. Das Parlament hat eine sehr gute Position für abgesicherte Netzneutralität und das Ende der Roaming-Zuschläge in Europa beschlossen. Eine Allianz aus Konservativen und Telekom-Lobbys versucht, das zu verhindern.

In einem Trilog soll die Kommission zwischen dem Parlament und den 28 Regierungen vermitteln. Vom zuständigen Kommissar Günter Oettinger bzw. seinen Beamten kommt nichts. Ein paar inoffizielle Vorschläge, oft erst Minuten vor einer oder sogar nach einer Sitzung, das war es. Am Dienstag soll die letzte Verhandlungsrunde stattfinden und Oettinger ist weiter auf Tauchstation.
Für das Parlament verhandelt eine Berichterstatterin, die spanische Konservative Abgeordnete Pilar del Castillo. Die sollte die beschlossene Parlamentsposition vertreten und Kompromisse suchen. Dazu sollte sie sich mit den Zuständigen aus jeder Partei koordinieren. Stattdessen wirft sie alle Positionen über Bord und verhält sich, als ob sie die Deutsche Telekom oder die spanische Telefónica zu vertreten hätte. Einwände aus anderen Fraktionen, dass sie nicht mehr den Parlamentsbeschluss vertritt, lächelt sie höflich weg.

netzpolitik.org: Umstritten sind im Rahmen des Digitalen Binnenmarktes Frequenzen, Roaming und Netzneutralität. In welcher der drei Debatten hat sich denn bisher in den Trilog-Verhandlungen das EU-Parlament durchgesetzt?

Michel Reimon: In keinem einzigen. Es begann damit, dass die Regierungen die Verwaltung der Frequenzen auf EU-Ebene nicht mal diskutieren wollten. Dafür wollten die meisten Fraktionen einen Preis verlangen, nämlich die Garantie der Netzneutralität. Del Castillo hat das einfach so akzeptiert. Dann wollten die Regierungen die Abschaffung von Roaming verzögern. Alle waren gesprächsbereit beim exakten Datum, wenn wir dafür die Absicherung der Netzneutralität bekommen. Del Castillo ist auf Ratslinie eingeschwenkt, ohne irgendeinen Preis zu verlangen.

Und jetzt verlangt die lettische Ratspräsidentschaft: Das Wort „Netzneutralität“ darf nicht vorkommen, Spezialdienste und Zero Rating sollen erlaubt sein, Parental Control und ähnliche Content-Filter sollen installiert werden (…) und die Konservativen und Rechtskonservativen wollen zustimmen. Unterm Strich ist das in allen drei Punkten das Gegenteil des Parlamentsbeschlusses.

netzpolitik.org: Wenn die Berichterstatterin des Parlaments dessen Positionen nicht ausreichend in den Kompromissverhandlungen vertritt, kann sie denn abgelöst werden – oder was ist das genaue Verfahren?

Michel Reimon: Der Bericht wurde an die Konservativen vergeben, zuerst müssten die das diskutieren. Da ist del Castillos Verhalten ja auch nicht unumstritten. Formal lässt sie sich aber nichts zuschulden kommen. Wir müssen also eher sicherstellen, dass sie keine Mehrheit in Ausschuss und Plenum findet.

netzpolitik.org: Zu einem Trilog gehört ja auch die EU-Kommission. Wie ist denn deren Position bei Netzneutralität?

Michel Reimon: Wie gesagt, offiziell legt die Kommission nichts vor. Dass Oettinger für Spezialdienste ist und digitale Bürgerrechtler für Taliban hält, ist ja bekannt, aber er lässt die Regierungen, vor allem die lettische Ratspräsidentschaft, die Drecksarbeit erledigen.

netzpolitik.org: Günther Oettinger fordert immer, dass es Ausnahmen bei Special Services für Dienste mit öffentlichem Interesse geben solle. Wir haben bisher dazu keinerlei Definition von Seiten der EU-Kommission gesehen. Habt Ihr mal was konkretes gesehen?

Michel Reimon: Nein, nichts. Ich weiß nicht, was Günther Oettinger seit zehn Monaten arbeitet. Das ist inhaltlich ein großes schwarzes Loch.

netzpolitik.org: Wo stehen denn die Fraktionen aus Ihrer Sicht im Moment?

Michel Reimon: Die Konservativen stehen mehrheitlich auf Seiten der großen Telekom-Konzerne und wollen das Roaming beibehalten und Netzneutralität abschaffen. Die Rechtskonservativen von der European Conservatives and Reformists Group stimmen dem zu, wenn sie dafür Zensurmaßnahmen bekommen, denen geht es vor allem um den Kampf gegen Pornographie. Alle anderen Fraktionen stehen zur beschlossenen Position des Parlaments, sind nur unterschiedlich konstruktiv und kompromissbereit. Für die Grünen verhandle ich – und ich sehe keine Kompromiss-Möglichkeit mehr. Die Frequenzen halte ich für zweitrangig und beim Termin für das Roaming-Ende würde ich beide Augen zudrücken – wenn ich dafür eine gesetzlich garantierte Netzneutralität bekomme. Das ist unverhandelbar. Wenn die Berichterstatterin hier nachgibt, werde ich das Ergebnis auf allen Ebenen bis zur Abstimmung im Plenum bekämpfen.

netzpolitik.org: Wie ist denn der derzeitige Fahrplan, um die Trilog-Verhandlungen zu einem Ende zu bringen?

Michel Reimon: Am Montag gibt es nochmal eine Gesprächsrunde der Fraktionen, am Dienstag ist die letzte Trilog-Runde. Geplant ist, dass sich die Berichterstatterin und der Rat da einigen, dann muss dieses Ergebnis in den Ausschuss und dann ins Plenum. Das könnte noch vor dem Sommer, eher aber bis September klappen. Das ist ihr Plan. Meiner ist, das zu verhindern und die Verhandlungen im Herbst neu zu starten.

netzpolitik.org: Werden wir in der EU am Ende klare Regeln zum Schutz der Netzneutralität haben, so wie die Federal Communications Commission sie vor kurzem beschlossen hat und einzelne EU-Staaten wie die Niederlande oder Slowenien sie bereits eingeführt haben?

Michel Reimon: Solange wir die nicht haben, ist es nicht das Ende :-)

netzpolitik.org: Aus Sicht eines EU-Abgeordneten: Was kann man konkret als Bürger/in machen, um sich für klare Regeln einzusetzen?

Michel Reimon: Machen Sie direkt Druck auf die Abgeordneten des EU-Parlaments, vor allem auf SozialdemokratInnen und Liberale. Die werden den Konservativen die Mehrheit beschaffen müssen. Schreiben Sie ihnen, am Besten persönlich.

netzpolitik.org: Vielen Dank für das Interview. Mehr zum Thema findet sich bei savetheinternet.eu.

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3 Ergänzungen

  1. Danke für das Interview und die Berichterstattung.

    Wenn man das nur irgendwie hin bekäme, dass sich alles in große, laute, schlechte PR für die Telcos und die Bundesregierung/Spanische Regierung kondensiert…

    Aber das ist wohl zu viel gehofft.

    Man darf ja inzwischen froh sein, wenn das nicht alles heimlich im Schatten der aktuellen FIFA-Kernschmelze durchgewunken wird.

  2. Gibt es eine Klagemöglichkeit gegen Pilar del Castillo bzw. gegen das Gesetzesverfahren?

    Formal lässt sie sich aber nichts zuschulden kommen.

    Oder heißt das schon nein?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.