Stell Dir vor es kommt schlimmer als ACTA und Zensursula…

…und keiner sieht hin, denn es passiert weit weit weg in der „Brüsseler Bubble“. Im Moment wird dort an der Verordnung zum “Telecom Single Market” gearbeitet, welche eigentlich Netzneutralität EU-weit sichern soll.

So wie es derzeit aussieht, geschieht aber das genaue Gegenteil. Wenn es also die NSA nicht schafft, das Internet kaputt zu machen, dann könnte es spätestens nach dieser Verordnung soweit sein.

Denn leider verlassen uns jetzt auch alte Verbündete. In uns vorliegenden Vorschlägen des EU-Parlamentsausschusses IMCO möchte der konservative Berichterstatter Harbour nun eine Eingigung zwischen Sozialdemokraten und Konservativen für den folgenden Text herbeiführen:

(…) In accordance with Directive 2011/93/EC it may also include voluntary actions of providers to prevent access to and distribution of child pornography. (Kompromiss-Änderungsantrag 22, Erwägungsgrund 47)

Dieser Kompromissantrag bedeutet also, dass Internetprovider nach Belieben in den Datenverkehr eingreifen sollen, um die Verbreitung von kinderpornographischen Inhalten oder anderen, nicht näher definierten „schweren Verbrechen“ zu verhindern.

Während der ACTA-Debatte hatten wir ausgiebig erklärt, warum es katastrophal ist, wenn private Unternehmen zur Rechtsdurchsetzung ermuntert werden. Dies führte bereits in etlichen Fällen zur Einschränkung von Grundrechten außhalb des rechtlichen oder gerichtlichen Rahmens.

Zudem wäre dieser Text eine Verletzung von Artikel 52 der EU-Grundrechtecharta, denn jegliche Einschränkung von Rechten und Freiheiten „muss gesetzlich vorgesehen sein“. Maßnahmen zur Erreichung von politischen Zielen haben eigentlich nichts in einer Netzneutralitätsverordnung zu suchen – denn an das Gesetz müssen sich die Provider sowieso halten.

Weiterhin sollte seit der Zensursula-Debatte eigentlich allgemein bekannt sein, dass Sperren sinnlos sind und nicht zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch beitragen. Nun aber wird diese Idee von einigen deutschen Europaabgeordneten des Ausschusses mitgetragen. Unterstützt wird der Text derzeit von den EU-Abgeordneten Stihler, Vergnaud (S&D), Collin-Langen, Schwab (EVP).

Diese Abgeordneten könnt ihr noch heute kontaktieren und sie bitten, diesen Text sofort zu streichen. Anrufen könnt ihr sie in dieser Woche in Straßburg oder schreibt ihnen einfach eine Email.

Ursprünglich standen auch die Abgeordneten Weidenholzer (S&D), Engström (Grüne) und Verheyen (EVP) in der Liste der Mitzeichner, sie haben sich aber heute morgen von diesem Kompromiss-Änderungsantrag distanziert.

Leider ist dies ist nicht das einzige Problem der Verordnung: auch an vielen anderen Stellen soll Kommunikationsfreiheit beschnitten und das offene Internet abgeschafft werden – daher brauchen wir eure Hilfe. Über die Kampagnenplattform Savetheinternet.eu könnt ihr euch weiter informieren und ab sofort alle wichtigen Abgeordneten kontaktieren.

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20 Ergänzungen

  1. Die EU ist nicht nur eine Gefahr für das Internet, sondern allgemein eine Gefahr für die Freiheitlich demokratische Grundordnung !

  2. Bei den Links zu Stihler, Schwab, Engström und Verheyen hat sich ein kleiner Fehler eingeschlichen ^^

  3. macht euch keine sorgen. irgendwie kriegen sie das internet schon kaputt. was will man von den vollpfosten auch anders erwarten.

  4. Ich bin kein Jurist, von daher seh‘ ich das vielleicht einfach nicht.. aber wo steht in der zitierten Textstelle etwas von „anderen, nicht näher definierten schweren Verbrechen“? Ich würde die Verbreitung von Kinderpornographie nicht gerade als „nicht näher definiert“ bezeichnen..

    Ob sich das überhaupt technisch ohne Totalüberwachung umsetzen lässt ist natürlich eine andere Sache, aber ich sehe halt grad (ohne Dokument selbst gelesen zu haben) den Bezug zu diesen nicht näher definierten Verbrechen nicht.

    1. Vollkommen richtig, im Text fehlt der Verweis zum Originaltext der Kommission – in Art. 23.5 wird vorgeschlagen dass Provider Massnahmen ergreifen dürfen, sobald sie glauben, dass sie hierdurch „schwere Verbrechen abwehren oder verhindern“ können. Der komplette Verordnungsvorschlag als pdf ist hier.

      1. Machen provider ja jetzt schon, Rechner von denen z.B. DDoS Attacken ausgehen werden ja dann schonmal gesperrt. Ob es sich dabei um Mietserver oder heimische DSL anschlüsse handelt. Sperren finden also durchaus schon ganz real statt.

  5. Danke für den Hinweis!

    Entwicklungen wie diese (plus andere, persönliche, konkrete und vor Ort gesammelte Erfahrungen) sind es, die mich in letzter Zeit zur der Überzeugung gebracht haben, dass das derzeitige „System EU“ undurchschaubar komplex und gefährlich für Grund- und Menschenrechte ist … und in dieser Hinsicht irreparabel.

    :-(

  6. Was sagt uns das?
    Dezentralisierung, raus aus der EU, Regionalwährungen, Fair Trade, und nachhaltige Produktionen und vor allem weniger Konsum um unsre Ressourcen zu schonen.
    Weil das aber der deutsche Michel und auch die Meisten Menschen gar nicht möchten, wird eben auch alles den Bach runter gehen…:-(

    1. Ganz genau das! Dann aber bitte auf anarchosyndikalistischer Basis, in freier Selbstbestimmung. Leider muss dafür erstmal (mehr oder weniger global) die Bewusstlosigkeit über den momentanen Zustand enden!

      Und leider scheint die Menschheit noch nicht so weit zu sein aber es wird immer besser. „Es wird ein sehr sehr sehr langer Kampf“ – Rudi Dutschke

  7. Warum genau ist dieser Zusatz denn so schlimm? Verstehs nicht, im Original steht:
    „…Angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen müssen transparent, nicht diskriminierend, verhältnismäßig und erforderlich sein,
    a) um einer Rechtsvorschrift oder einem Gerichtsbeschluss
    nachzukommen oder um schwere Verbrechen abzuwehren oder zu verhindern…“

    und ergänzt wird das ganze mit:
    „…Solche Maßnahmen sollten transparent, verhältnismäßig und nicht diskriminierend sein. Ein angemessenes Verkehrsmanagement umfasst die Prävention bzw. Verhinderung schwerer Kriminalität, einschließlich freiwilliger Maßnahmen der Anbieter, um den Zugang zu
    und die Verbreitung von Kinderpornografie zu verhindern…“

    Da es sich bei Kinderpornographie um ein schweres Verbrechen handelt lässt sich beides Mal rauslesen, dass Provider den Zugang zu diesem Zweck verhindern/sperren dürfen. Der Zusatz erweitert die Befugnisse der Provider meiner Meinung nach nicht, mal unabhängig davon, ob das Dokument als Ganzes betrachtet sinnvoll ist.

  8. Keiner sieht hin – Moment, warum winkt Netzpolitik.org nicht seit Wochen mit einem ganzen Zaun?

    Oder habt auch ihr das verpasst?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.