NPP122: Vom Ende der Hobby-Lobby: Reflexionen zum Stand der Netzbewegung 2014

Leonhard Dobusch, regelmäßiger Blogger hier auf netzpolitik.org, forscht an der FU Berlin u.a. auch zu sozialen Bewegungen. Das war wohl mit ein Grund, warum er vor einiger Zeit von der Stiftung Bridge angefragt wurde, ob er nicht eine kurze Analyse zum Stand der digitalen Bürgerrechtsbewegung  in Deutschland verfassen könne, und zwar als Grundlage für einen internen Workshop der auf dieses Thema spezialisierten Treuhandstiftung unter dem Dach der Bewegungsstiftung. Das Ergebnis ist nun in Form eines FU Berlin Diskussionsbeitrags (PDF) auch öffentlich zugänglich und ein guter Anlass, über das Thema im Rahmen eines Netzpolitik-Podcasts zu reflektieren.

Die Analyse selbst hat auf Grund kurzer Frist und knappen Ressourcen eher Überblickscharakter und einen klaren Fokus auf die organisierte Zivilgesellschaft; das ganze Thema Piratenpartei sowie die gerade im Netzbereich wichtigen „freischwebenden Radikale“, Blogosphäre etc. bleiben außen vor. Hauptanlass für die Kurzstudie war die Beobachtung auf Seiten der Stiftung Bridge, dass trotz der weitverbreiteten Wahrnehmung der NSA-Affäre als „Tschernobyl“ oder „Fukushima“ der Netzbewegung eine vergleichbare Mobilisierung ausgeblieben ist.

Tabelle-Organisationen

Leonhards Diagnose ist, dass die organisierte digitale Bürgerrechtsbewegung zwar in die Jahre gekommen, organisatorisch aber kaum gealtert ist. Obwohl ihre Themen dank Internet längst im Alltag der breiten Masse der Bevölkerung angekommen ist, lässt sich ein verschwindend geringer Organisierungs- und Professionalisierungsgrad beobachten. Abgesehen vom Sonderfall Wikimedia haben überhaupt nur Digitalcourage und Digitale Gesellschaft e. V. überhaupt hauptamtliche MitarbeiterInnen, zusammen weniger als acht Vollzeitstellen. Während alle klar netzpolitisch ausgerichteten Vereine zusammen auf weniger als 20.000 (Förder-)Mitglieder kommen, haben die großen Umweltschutzorganisationen BUND, Nabu, WWF und Greenpeace jeweils rund 500.000 Mitglieder. Alleine in der Bundesgeschäftsstelle des BUND arbeiten 75 Menschen (33 davon Vollzeit).

Dilemmata des Online-Aktivismus

Im Podcast sprechen wir ausgehend davon über die Gründe für diesen geringen Organisationsgrad und einige Dilemmata, mit denen besonders die digitale Zivilgesellschaft zu kämpfen hat:

  • Datenschutz vs. Kampagnentools: Abgesehen von der prinzipiellen Frage, ob professionelles Fundraising erstrebenswert ist, stellt sich gerade für Organisationen, die stärkeren Datenschutz fordern, die Frage nach der Nutzung von datengetriebenen Fundraising-Tools. Selbst Open-Source-Werkzeuge wie CiviCRM sind hier nicht unumstritten, weil sie aufwändige Tracking- und Auswertungstools beinhalten. Gleichzeitig sind es aber genau solche Werkzeuge, die größere Reichweite mit Hilfe systematische A/B-Tests von Botschaften erlauben.
  • Freie/offene vs. proprietäre Infrastrukturen: Wie lässt sich die Nutzung und Abhängigkeit von proprietären Plattformen wie Facebook oder YouTube mit der Kritik an ebendiesen Plattformen vereinbaren, vor allem weil sich gerade dort viele jener unorganisierten Menschen tummeln, die es für eine stärkere Breitenwirksamkeit zu erreichen gilt? Wie schaffen wir es trotzdem, mittelfristig dezentrale, offene und datenschutzfreundliche Infrastrukturen zu schaffen, um unabhängiger von diesen privatisierten Öffentlichkeiten zu werden, die die intransparenten Regeln unserer Kommunikation vorgeben?
  • Hobby-Lobby vs. Professionalisierung: Ehrenamtlicher Aktivismus hat den Vorteil großer Glaubwürdigkeit und dementsprechender Legitimation, kämpft aber bisweilen mit geringerer Nachhaltigkeit – auch wenn der Chaos Computer Club hier beweist, dass sich auch mit bewusstem Verzicht auf Professionalisierung ein erstaunliches Aktivitätsniveau erzielen lässt. Bis zu einem gewissen Grad ist es aber sogar so, dass ein Mehr an Professionalisierung auch die Voraussetzung für ein Mehr an ehrenamtlichem Aktivismus darstellt – viele Unterstützungsangebote können derzeit einfach aus Zeitgründen nicht oder nur ungenügend aufgegriffen werden. Hinzu kommt, dass erfolgreiche Initiativen wie die jüngste Kampagne für Netzneutralität in der EU gerade auch in Zeiten vorbereitet und vorangetrieben werden müssen, in denen sich kaum jemand dafür interessiert. Genau das war es, was European Digital Rights (EDRi) in Brüssel (und Digitale Gesellschaft e.V. in Deutschland) – neben der Arbeit an vielen anderen Themen – mit ihren knapp fünf hauptamtlichen MitarbeiterInnnen getan hat. Auch ACTA wurde jahrelang von einer kleinen Anzahl von Aktivisten bekämpft, die alle Argumente bereit hatten als es plötzlich mediale Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für das Thema gab.

Von defensivem zu offensiverem Framing

Eine Folge des geringen Professionalisierungsgrads ist auch, dass sich die digitale Zivilgesellschaft in Deutschland immer noch überwiegend auf defensive Themen fokussiert. Im Zentrum steht die Abwehr unmittelbarer Bedrohungen. Die erfolgreichsten Initiativen waren solche, wo es einen klaren Ansprechpartner (EU-Parlament bei ACTA und Netzneutralität, Regierung bei Vorratsdatenspeicherung) und eine klare Bedrohung gab (Einschränkung eines freien Internets, anlasslose Überwachung)

Abbildung-Themenschwerpunkte

Die jüngste Kampagne für Netzneutralität war dabei ein Grenzfall zwischen defensivem und offensivem Framing: Einerseits ging es um die Bewahrung des innovationsoffenen Internets, gleichzeitig ist die Voraussetzung dafür aber die gesetzliche Verankerung von Netzneutralität.

Klar offensives Framing wäre rd hingegen verstärkt Initiativen für Open Source, für Open Knowledge, für Open Education oder für ein Recht auf Remix voranzutreiben, wo es weniger darum geht bestehende Freiheiten zu schützen sondern Potentiale digitaler Technologien für neue Freiheiten überhaupt erst zu erschließen.

Unser Fazit: Es geht voran. Die großen Debatten kommen erst noch. Es wäre schön, auf einer Grundrechtsperspektive darauf besser vorbereitet zu sein, wenn die Große Koalition viele Gesetzesprozesse parallel starten wird und die neue EU-Kommission auf europäischer Ebene aktiv wird. Ihr könnt einen Beitrag dazu leisten.

Den knapp 83 Minuten langen podcast gibt es als MP3 (80MB) oder OGG (70MB).

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2 Ergänzungen

  1. Ich halte die explizite nicht-professionalisierung der digitalen Bewegungen für ein allgemeines Problem der linken Bewegungen, der in Deutschland leider besonders stark verbreitet ist.

    Der Gedanke „der will ja nur Geld machen“ und daraufhin sofort losschlagendes Misstrauen sind leider so tief verwurzelt, dass auch ich mich dabei immerwieder ertappe.

    In den Gentoo-Foren gab es dazu letztens eine sehr archetypische Diskussion: Ich hatte angeregt, dass Nutzer Teil des Gentoo e.V. werden, damit wir unsere Entwickler bezahlen können. Es gab sofort Gegenwind: Das würde Neid erzeugen, einer kleinen Gruppe allzuviel Macht geben, und wir müssten dann ja festlegen wie die bezahlten Entwickler kontrolliert werden.
    Und das, obwohl es bereits Vollzeit-Entwickler gibt, die aber nicht von den einzelnen Nutzern bezahlt werden, sondern von einigen Firmen, deren Anforderungen nicht unbedingt die gleichen sind, wie die der anderen Nutzer.
    -> http://forums.gentoo.org/viewtopic-t-984580.html

    Eine allgemeinere Kritik an der Professionalisierungsfeindlichkeit im idealistischen Spektrum unserer Gesellschaft habe ich auf meiner Rollenspielseite veröffentlicht: http://1w6.org/deutsch/anhang/gedanken/der-will-ja-nur-geld-machen

  2. Vielleicht solltet ihr das Thema bei Netzpolitik stärker zusammenhalten. Zum Beispiel „Netzlobby“ zu einem eigenen Hauptthema machen und die Entwicklung mit regelmäßigen Überblicksartikeln zum Stand der Debatte begleiten.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.