Was folgt dem „Digitalen Tsunami“? EU diskutiert über Nachfolge des „Stockholmer Programms“

Was wird aus Schäuble's Erbe? Das "Stockholmer Programm" entsnad unter maßgeblichem Einfluss der damaligen deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Was wird aus Schäuble’s Erbe? Das „Stockholmer Programm“ enstand unter maßgeblichem Einfluss der damaligen deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Die Europäische Union will nächstes Jahr neue „strategische Richtlinien“ für den Bereich Justiz und Inneres festlegen. Es geht dabei um die Erneuerung des sogenannten „Stockholmer Programms“, das 2009 in Kraft getreten ist und 2014 ausläuft. Es bildet den Rahmen für zahlreiche Maßnahmen der Polizeizusammenarbeit, darunter die Bekämpfung unerwünschter Migration, der Ausbau polizeilicher EU-Agenturen, die Einrichtung von Datenbanken und die polizeiche Nutzbarmachung digitaler Kommunikation.

Anlässlich der Verhandlungen um das „Stockholmer Programm“ hatte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble unter deutscher Präsidentschaft 2007 die sogenannte „Zukunftsgruppe“ („Future Group“) eingerichtet. Der informelle Stammtisch war keinem Gremium rechenschaftspflichtig und sollte den Fünfjahresplan im deutschen Sinne beeinflussen. Teilnehmer waren zwei sogenannte „Trio-Präsidentschaften“, also jene sechs Regierungen, die in den Jahren 2007 bis 2009 den EU-Vorsitz innehatten. Die Treffen der Gruppe waren nicht öffentlich, Inhalte der Diskussionen drangen nicht nach außen.

Kurz vorher veröffentlichte die portugiesische Regierung ein Diskussionspapier für die „Zukunftsgruppe“. Die Rede war von der polizeilichen Nutzung des „Internet der Dinge“, durch dessen bessere polizeiliche Auswertung sogar zukünftige Ereignisse verhindern könne.

Sicherheitsbehörden frohlocken über „Zugang zu schier grenzenlosen Mengen an potenziell nützlichen Informationen“

In dem Vorab-Konzept war auch davon die Rede, Finanzermittlungen zu intensivieren. Denn ebenso wie Daten aus der digitalen Kommunikation böten finanzielle Transaktionen die Möglichkeit, in Echtzeit und im Nachhinein wichtige Informationen über deren NutzerInnen zu generieren. Ähnliches gelte für biometrische Anwendungen, die zunehmende Sicherheit an öffentlichen Orten versprächen. Im späteren Abschlussbericht der „Future Group“ wurde dann vom „Digitalen Tsunami“ gesprochen, den sich Polizeien zunutze machen sollten.

Als „Schlüssel zu Erfolg und Effektivität“ gilt demnach der Einsatz von Technologie, „um die Vielzahl von Akteuren miteinander zu verbinden und sicherzustellen, „dass die richtigen Informationen in einer verwertbaren Form an die richtige Person gelangen“. Eindringlich wird ein Paradigmenwechsel im Bereich polizeilicher Ermittlungen gefordert:

Information ist der Schlüssel zum Schutz der Bürger in einer zunehmend vernetzten Welt, in der Sicherheitsbehörden Zugang zu schier grenzenlosen Mengen an potenziell nützlichen Informationen haben werden.

Auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit europäischer und US-amerikanischer Geheimdienste lohnt ein Blick in das Papier der damaligen „Zukunftsgruppe“. Ein eigenes Kapitel widmete sich einer „Umsetzung der externen Dimension der Innenpolitik“. Die Zusammenarbeit mit den USA soll demnach in der „Schaffung eines gemeinsamen transatlantischen Raums“ zum Datentausch münden. Im späteren „Stockholmer Programm“ wird gelobt, die Zusammenarbeit mit den USA sei „in den vergangenen zehn Jahren intensiviert worden, u.a. in sämtlichen Fragen des Bereichs Freiheit, Sicherheit und Recht“. Vereinbart wurde, dies unter jedem Vorsitz mit regelmäßigen Treffen „von Ministertroikas und hohen Beamten“ fortzuführen.

Dem „Stockholmer Programm“ gingen das „Tampere-Programm“ (1999 – 2004) und das „Haager Programm“ (2005- 2009) voraus. Der Name dieser Fünfjahrespläne orientiert sich an den Hauptstädten jener EU-Mitgliedstaaten, die bei ihrer Verabschiedung die Präsidentschaft innehaben. Demnach könnte 2014 das „Rom Programm“ beschlossen werden.

Allerdings ist unklar, ob das Format des Fünfjahresplans beibehalten wird. Denn mit dem Vertrag von Lissabon ist das Prinzip der Einstimmigkeit des EG-Vertrages durch ein Mehrheitsverfahren abgelöst worden. Das Initiativrecht auch im Bereich Inneres und Justiz ging fast ausschließlich auf die EU-Kommission über. Artikel 68 AEUV (der Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union) sieht vor, dass der Europäische Rat fortan „strategische Leitlinien“ erlässt, die dann für die gesetzgeberische und operative Tätigkeit grundlegend sein sollen. Dem folgend hat die EU die „Strategie für die Innere Sicherheit“ verabschiedet.

Stellungnahme der Kommission im März, endgültige Verabschiedung im Sommer 2014

Auf ihrem Sommertreffen in Vilnius kamen die EU-Innenminister überein, als Nachfolge des „Stockholm Programms“ wieder „strategische Ziele“ zu formulieren. Beispielsweise soll die Kooperation unter den EU-Institutionen weiter ausgebaut werden. Hierzu gehören die kriminalpolizeiliche Agentur EUROPOL, die Agentur für die justizielle Zusammenarbeit EUROJUST sowie grenzüberschreitende Polizeieinsätze und Datentausch über den Vertrag von Prüm.

Auch die Finanzierung derartiger Maßnahmen soll verbessert werden. Angeregt wird der zunehmende Einsatz von Informationstechnologie im Bereich der Justizzusammenarbeit. Gemeint ist unter anderem Möglichkeit, Zeugenvernehmungen per Videokonferenz zuzulassen. Auch soll die „Europäische Ermittlungsanordnung“ zügig verabschiedet werden. Dann könnte das Abhören von Telekommunikation oder der polizeiliche Einsatz von Trojaner-Programmen grenzüberschreitend angeordnet werden.

Analog dem damaligen portugiesischen EU-Vorsitz hat jetzt auch Litauen ein erstes Papier zur Zukunft der europäischen Innenpolitik vorgelegt. In einem Fragebogen sollen die Regierungen aller EU-Mitgliedstaaten bis Anfang Dezember mitteilen, wie sie das „Stockholmer Programm“ beurteilen und welche neuen Prioritäten gewünscht werden.

Am Ende des Winters wird die Kommission entsprechende Mitteilungen für die Bereiche Inneres und Justiz vorlegen, auf mehreren Treffen (auch in Berlin) werden weitere thematische und strategische Ausrichtungen beraten. Im Juni 2014 will der Rat der Europäischen Union endgültig über eine Nachfolge des Fünfjahresplans entscheiden.

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