Neelie Kroes will keine Netzneutralität sichern, sondern bereitet deren Beerdigung vor.

Neelie Kroes will Netzneutralität per Gesetz schützen“ textete die EU-Kommission Anfang Juni in einer Pressemitteilung und in vielen Medien konnte man diese Message anschließend lesen. Wir waren skeptisch, weil wir seit einigen Jahren immer wieder dasselbe von Neelie Kroes hören. Da heißt es dann, dass Netzneutralität wichtig sei und sie irgendwann auch mal was tun werde. Mit etwas Einblick für die Debatte war es immer einfach, die Rhetorik in den Zwischentöne ihrer Reden als ebensolche zu entlarven. Aber wir wollten auch abwarten, was sie tatsächlich abliefert.

Seit heute kursiert ein Verordnungs-Vorschlag von Neelie Kroes zur Netzneutralität und Reform des Roaming-Systems, den wir hier exklusiv veröffentlichen: („Proposal for a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL laying down measures to complete the European single market for electronic communications and to achieve a Connected Continent“). Dieser befindet sich im Moment in der sog. Interservice-Konsultation innerhalb der Kommission. Das heißt, er ist noch nicht offiziell, aber man kann die Linie sehen. Und da finden wir wenig Netzneutralität. Dieser Verordnungs-Vorschlag dürfte alles legalisieren, was derzeit in deutschen Netzen an Verstössen gegen die Netzneutralität stattfindet:

  • Spotify-Exklusiv-Deal mit T-Mobile – kein Problem!
  • VoIP, P2P und IM in den AGB von Mobilfunktarifen verbieten – kein Problem, wenn man das transparent dazuschreibt!
  • Drosselung von p2p bei Kabel Deutschland ab einem bestimmten Volumen? Kein Problem!
  • Einführung von Managed-Services bei der Deutschen Telekom? Klar!

Eines verstehe ich echt nicht. Warum stellte sich Neelie Kroes noch Ende Mai hin und erklärte öffentlich auf Twitter:

Blocken und drosseln von Internetdiensten und Apps schadet uns allen, es gibt keine Gründe um wettbewerbsfeindlich zu sein. Bitte unterstützt mich, um das zu stoppen.

Es ist echt traurig: Die Netzneutralität von Neelie Kroes besteht daraus, dass man lediglich etwas größer in die AGB reinschreibt, wenn Dienste geblockt oder gedrosselt werden. Das ist die Linie der Telekommunikationslobby, dafür brauchen wir keine gesetzliche Festschreibung.

Da geht sogar unser Bundeswirtschaftsministerium mit seinem Verordnungsentwurf zur Netzneutralität deutlich weiter. Aber keine Panik: Mit dieser EU-Verordnung werden nationale Versuche, die Netzneutralität abzusichern, übrigens obsolet. Das wäre ja eine gute Nachricht, wenn diese Verordnung EU-weit die Netzneutralität absichern würde. Sie könnte aber auch dazu führen, dass Staaten wie die Niederlande und Slowenien ihre Netzneutralitätsgesetze verändern oder ganz abschaffen müssten. Noch ist das ein Entwurf, es kann sich noch einiges ändern und vor allem muss sich noch einiges ändern.

Einen möglichen Zeitplan für eine Verordnung hatten wir auch bereits verbloggt. Nach der Sommerpause wird der finale Text vorgelegt und ans Parlament weitergeleitet. Bis Ostern kann und sollte der Prozess fertig sein, weil sonst die Europawahlen im Weg stehen. Noch ist die Möglichkeit da, über das EU-Parlament Netzneutralität dort zu verankern. Auf Neelie Kroes können wir uns dabei nicht verlassen.

Auch wenn sie es ständig erzählt: Neelie Kroes will keine Netzneutralität sichern, sondern bereitet deren Beerdigung vor.

Update:

Hier ist eine erste Einschätzung von European Digital Rights: Leaked Regulation: Schrödinger’s net neutrality on its way in Europe.

From a quick glance at the draft text it seems, however, that Commissioner Kroes is now attempting to carry out one of Schrödinger’s most famous experiments – by putting a guarantee for net neutrality in a speech and killing it in the Regulation… is net neutrality now alive or dead? Or is it living two parallel existences until the European Parliament opens the box, pushing the principle in one direction or another? A quick search through the document gives no result for the term „net neutrality“. Article 20 of the leaked draft Regulation merely lays down provisions for „quality of service, freedom to provide and avail of open internet access and reasonable traffic management“ and states:

„To the same end, providers of content, applications and services and providers of electronic communications to the public shall be free to agree with each other on the treatment of the related data volumes or on the transmission of traffic with a defined quality of service.“

This, of course, is a definition of „not neutrality“. It is the exact contrary of guaranteeing net neutrality as it would open the door to agreements between content and access providers to prioritise traffic, dealing, to quote Commissioner Schroedinger Kroes, „a death sentence to innovators“.

Symbolvideo:

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12 Ergänzungen

  1. Zunächst einmal ist die Überschrift bei einer Dame im gesetzten Alter doch höchst mehrdeutig.

    Dann handelt es sich um keinen fertigen Vorschlag, nicht einmal ein Arbeitspapier, und er gehorcht nicht den formalen Anforderungen, die an einen Entwurf für eine Regulierung zu stellen sind. Es wäre bestimmt spannend nach Informationen in dem File zu suchen, woher es tatsächlich stammt. Rein handwerklich sieht es nicht nach Kommission aus.

  2. Ich versteh das nicht. Was soll das?
    Warum etwas öffentlich zugestehen (die Netzneutralität) und dann doch dagegen handeln, wobei ein starkes allgemeines öffentliches Interesse für etwa (Onlinepetition für Netzneutralität) artikuliert wurde?

    Ist Neelie Kroes behindert oder sowas?

    Und dann noch die Möglichkeit jeden Antlitz von demokratischen Gehorsam von Regierungen gegenüber ihrer Bürger, und vollzogene demokratisch erstrittene Vernunft auszuhebeln:

    „Mit dieser EU-Verordnung werden nationale Versuche, die Netzneutralität abzusichern, übrigens obsolet. […] Sie könnte aber auch dazu führen, dass Staaten wie die Niederlande und Slowenien ihre Netzneutralitätsgesetze verändern oder ganz abschaffen müssten.“

    Das ist wahnsinnig.

  3. Bezüglich der Auswirkungen auf nationale Gesetze (Niederlande): in der Regel ist es kein Problem, Gesetze noch strenger zu fassen als EU-Vorlagen. BSP: Irgendein Umwelthöchstwert liegt laut EU bei 50, dann können nationale Reg. den Wert auf 45 begrenzen. Deswegen würde ich mir nicht unbedingt Sorgen um die Länder machen, die wirkliche Netzneutralität per Gesetz festgelegt haben.
    Wie sich das dann mit einheitlichem Binnenmarkt etc. verhält, weiß ich auch nicht…

    1. Dann werden die Telkos aber den Untergang des Abendlandes beschwören, und mit ihren dicken Koffern wieder bei der EU vorstellig werden. Wir haben leider eine Regierung, die dafür bekannt ist, einzuknicken. Ist ja alternativlos!

      Wenn uns das Thema größere Proteste nicht wert ist (so schaut es aktuell aus), müssen wir eben selbst andere Maßnahmen ergreifen. So wenig Cloud bei so viel Verschlüsselung wie möglich. Einfach den Workflow von 2002 + GnuPG, irgendwie hat man das doch damals auch geschafft.
      Bei Manitu und Snafu bekommt man Internet mit so wenig VDS wie möglich.
      http://www.snafu.de/
      http://www.manitu.de

  4. Es gehört mittlerweile zum politischen „Geschick“ sich frech hinzustellen und dem Volk A zu predigen, während man im gleichen Augenblick aber alles unternimmt um B zu tun.

    Derlei Tarnen-Täuschen-Lügen-und-Betrügen-Maneuver kennen wir seit langem von unserer 180°Wendehals- und Nebelkerzenzündprofis der Bundesregierung.

    Und das Volk ist dem Theater mittlerweile so überdrüssig, dass sie niemand mehr aufhält. Aus Sicht der „Machthaber“: Projekt erfolgreich!

  5. Es ist anzunehmen, dass sie in der Zeit zwischen Erklärung für die NN und gegen die NN eine nicht unerhebliche, aber völlig unabhängige Zuwendung erhalten hat.

  6. Die Aktivitäten der EU, Bundesregierung und der Provider sowie Inhalteanbieter sind alle folgerichtig. Ziel ist es das Internet als Peer to Peer Netzwerk durch eine Consumer Producer Philosopie abzulösen und Internet nur noch als Übertragungstechnologie verstanden zu wiesen. Nur so können die Gewinne beim Producer oder Provider zentralisiert werden. Auch lassen sich zentrale Inhalte viel besser steuern, als chaotisch, demokratische Peers. Netzneutralität stört diesen Prozess ganz offensichtlich. Es wäre besser mal über die Hintergründe zu sprechen, warum die Netzneutralität unerwünscht ist.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.