Jahresbericht: Datenschutz-Beauftragter kritisiert, dass Funkzellenabfragen „von der Ausnahme zur Regel“ werden

Die massenhafte Handy-Überwachung per Funkzellenabfrage ist „entgegen der gesetzlichen Vorgabe zum alltäglichen Ermittlungsinstrument geworden“. Das stellt der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit in seinem heute veröffentlichten Jahresbericht fest. Weil dabei jedoch sensible Daten von großen Menschenmengen erfasst werden, fordert er eine wirksame Begrenzung der Maßnahme.

Der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Dr. Alexander Dix, hat heute seinen Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012 vorgestellt. Auf 220 Seiten (PDF) finden sich 98 Beiträge „zur Gesetzgebung und Rechtsprechung, zu Bürgerbeschwerden und Überprüfungen vom Amts wegen in der Berliner Verwaltung und bei Berliner Unternehmen.“ Das sind die Schwerpunktthemen:

  • Funkzellenabfragen – von der Ausnahme zur Regel?
  • Zehn Vorschläge zur Verbesserung der EU-Datenschutz-Grundverordnung
  • BYOD – „Bring your own device“: Arbeiten mit privaten Endgeräten
  • Wann dürfen Apothekenrechenzentren Verordnungsdaten weitergeben?
  • Wenn die Aufsichtsbehörde klingelt – vermeidbare Fehler von Unternehmen bei Prüfungen

Die prominente Behandlung des Themas Funkzellenabfrage macht uns ein bisschen stolz – haben wir mit unserer Berichterstattung doch den Stein ins Rollen gebracht.

Nach einer kurzen Einführung ins Thema schildert Dix die bekannt gewordenen Vorfälle in Dresden und Berlin sowie die politische Reaktion. Darüber haben wir hier kontinuierlich berichtet. Dann verweist der oberste Datenschützer der Hauptstadt auf seinen Prüfbericht zum Thema, indem er „strukturelle Mängel bei der Durchführung der Maßnahmen feststellen musste“:

Dies betrifft insbesondere die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sowie die Umsetzung der Betroffenenrechte. Es entstand oft der Eindruck, dass sich die Strafverfolgungsbehörden der Eingriffsintensität von Funkzellenabfragen entweder nicht bewusst waren oder diese missachtet haben müssen. So wurden sehr häufig Funkzellenabfragen beantragt und durchgeführt, obwohl nicht ersichtlich war, dass während der Tat ein Mobilfunktelefon genutzt wurde. Oft boten sich auch andere, weniger gravierende Ermittlungsansätze an, denen vor Durchführung der Funkzellenabfrage nicht oder nicht abschließend nachgegangen wurde. Eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Begründung des Einsatzes einer solchen Maßnahme fand in der Regel nicht statt. In einigen Fällen wurden sogar Funkzellenabfragen durchgeführt, obwohl keine Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung vorlag.

Nach dieser deutlichen Kritik konterte die Staatsanwaltschaft: Der Datenschutzbeauftragte sei gar nicht zuständig für die Staatsanwaltschaft. Zudem sei es „praxisfern“, dass eine Funkzellenabfrage erst durchgeführt werden kann „wenn andere Spuren ausgewertet worden seien und nicht zum Ermittlungserfolg geführt hätten“. Beides weist Dix zurück, mit Verweis auf das Berliner Datenschutzgesetz und die gesetzliche Bestimmung der Funkzellenabfrage selbst:

Auch ist es nicht hinnehmbar, wenn eine Strafverfolgungsbehörde die Vorgabe des Gesetzgebers, eine so einschneidende Maßnahme wie die massenhafte Funkzellenabfrage erst als letztes Mittel (ultima ratio) einzusetzen, als „praxisfern“ bezeichnet und deshalb offenbar zu ignorieren bereit ist.

Das Fazit des Berliner Beauftragten für Datenschutz lautet:

Offensichtlich sind Funkzellenabfragen in vielen Deliktsbereichen entgegen der gesetzlichen Vorgabe zum alltäglichen Ermittlungsinstrument geworden. Aufgrund der Eingriffstiefe und Streubreite darf ihr Einsatz jedoch nicht zur Regel werden. Die stärkere Begrenzung der Durchführung solcher Maßnahmen ist durch den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden sicherzustellen. Die Staatsanwaltschaft unterliegt auch dann der Kontrolle durch den Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, wenn die von ihr beantragten Maßnahmen unter Richtervorbehalt stehen.

Update: Bei der Pressekonferenz sagte Dix:

Wenn die Staatsanwaltschaft bei ihrer Linie bleibt, wird es erneut zum Konflikt kommen.

Der ganze Bericht ist lesenswert. Zur weiteren Verbreitung haben wir das Kapitel zu den Funkzellenabfragen mal aus dem PDF-Dokument befreit und stellen es hier in Volltext zur Verfügung:


Funkzellenabfragen – von der Ausnahme zur Regel?

Die Strafprozessordnung gibt den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit, zur Aufklärung besonders schwerer Straftaten von den Telekommunikationsanbietern Auskunft über die Verbindungsdaten sämtlicher Mobilfunktelefonate, die in einer vorgegebenen Zeit in einem bestimmten Gebiet geführt worden sind, zu verlangen. Eine solche Maßnahme hat weitreichende Folgen, da sie zum einen in das verfassungsrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis eingreift und zum anderen sehr viele Personen betroffen sein können, ohne dass diese Anlass für die Durchführung einer solchen Maßnahme gegeben haben. An die Zulässigkeit und Durchführung dieser Funkzellenabfragen sind daher hohe Anforderungen zu stellen.

Der Gesetzgeber hat die Maßnahme unter den Vorbehalt der richterlichen Anordnung gestellt. Diese darf erst dann von den Strafverfolgungsbehörden beantragt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes der oder des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Bei der Auswertung der durch eine Funkzellenabfrage erlangten personenbezogenen Daten müssen die Strafverfolgungsbehörden weitere Vorgaben beachten: Die erhobenen Verkehrsdaten sind besonders zu kennzeichnen. Sie sind unverzüglich zu löschen, sobald sie nicht mehr zum Zwecke der Strafverfolgung oder einer möglichen gerichtlichen Überprüfung erforderlich sind. Zudem sind die Betroffenen mit einigen Ausnahmen von der Durchführung einer Funkzellenfrage zu benachrichtigen (insbesondere bei der Abfrage von Bestandsdaten) und auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes und die hierfür vorgesehenen Fristen hinzuweisen.

Die gesetzlichen Regelungen zur Durchführung von Funkzellenabfragen und deren praktische Umsetzung durch die Strafverfolgungsbehörden stehen spätestens seit Bekanntwerden der im Zusammenhang mit Demonstrationen erfolgten Erhebung von über 800.000 Verkehrsdatensätzen durch das LKA-Sachsen im Februar 2011 in Dresden im Fokus der öffentlichen Kritik. Die dort durchgeführten Funkzellenabfragen, von denen einige zehntausend unbeteiligte Versammlungsteilnehmende betroffen waren, waren Anlass für die gemeinsame Forderung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder an den Gesetzgeber, den Anwendungsbereich solcher Maßnahmen insbesondere im Hinblick auf deren Verhältnismäßigkeit einzuschränken.

Im parlamentarischen Bereich gab es in Folge der Dresdner Vorfälle ebenfalls Initiativen zur Überarbeitung der gesetzlichen Regelungen zu Funkzellenabfragen. Der Freistaat Sachsen legte im Bundesrat den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der nichtindividualisierten Verkehrsdatenerhebung vor. Daneben brachte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der nichtindividualisierten Verkehrsdatenerhebung in den Bundestag ein. Beide Initiativen wurden bislang jedoch nicht verabschiedet.

Anfang 2012 berichteten die Medien über die Durchführung einer Funkzellenabfrage im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf ein Kraftfahrzeug im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Dies führte erneut zu kontroversen politischen Diskussionen über den Einsatz solcher Maßnahmen. Im Abgeordnetenhaus wurde hierüber im Plenum sowie im Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung und im Ausschuss für Digitale Verwaltung, Datenschutz und Informationsfreiheit debattiert. Dies veranlasste uns zu einer stichprobenartigen Überprüfung der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zu Funkzellenabfragen durch die Berliner Strafverfolgungsbehörden im Rahmen von 108 Ermittlungsverfahren in den Jahren 2009 bis 2011.

In unserem Abschlussbericht, der dem Abgeordnetenhaus und den Senatsverwaltungen für Justiz und Verbraucherschutz sowie für Inneres und Sport zugeleitet wurde, haben wir strukturelle Mängel bei der Durchführung der Maßnahmen feststellen müssen. Dies betrifft insbesondere die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sowie die Umsetzung der Betroffenenrechte. Es entstand oft der Eindruck, dass sich die Strafverfolgungsbehörden der Eingriffsintensität von Funkzellenabfragen entweder nicht bewusst waren oder diese missachtet haben müssen. So wurden sehr häufig Funkzellenabfragen beantragt und durchgeführt, obwohl nicht ersichtlich war, dass während der Tat ein Mobilfunktelefon genutzt wurde. Oft boten sich auch andere, weniger gravierende Ermittlungsansätze an, denen vor Durchführung der Funkzellenabfrage nicht oder nicht abschließend nachgegangen wurde. Eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Begründung des Einsatzes einer solchen Maßnahme fand in der Regel nicht statt. In einigen Fällen wurden sogar Funkzellenabfragen durchgeführt, obwohl keine Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung vorlag.

Die fehlerhafte Durchführung von Funkzellenabfragen ist durch die unklaren gesetzlichen Vorgaben sowie durch die inkonsequente und uneinheitliche Umsetzung dieser Vorschriften bedingt. Insoweit sind Gesetzgeber und Verwaltung gefordert, Änderungen vorzunehmen.

In den zurückliegenden Ermittlungsverfahren sind die Betroffenen, soweit erforderlich und noch nicht erfolgt, von entsprechenden Maßnahmen zu informieren und über ihre Rechtsschutzmöglichkeiten aufzuklären. Darüber hinaus sind nicht mehr erforderliche Daten, die durch Funkzellenabfragen erlangt worden und noch gespeichert sind, unverzüglich zu löschen. Die Löschung bzw. die Entscheidung über eine weitere Speicherung der Daten sollte nebst Begründung dokumentiert werden. Die weiterhin gespeicherten Daten sind eindeutig als aus einer Funkzellenabfrage stammend zu kennzeichnen.

Zur praktischen Durchführung zukünftiger Funkzellenabfragen empfiehlt es sich, folgende Vorgaben in Dienstanweisungen festzuschreiben:

  • Die Begründung des Einsatzes von Funkzellenabfragen sowie der Durchführung der Benachrichtigungs- und Löschpflichten sind einzelfallbezogen zu dokumentieren.
  • Die Umsetzung der Kennzeichnungspflichten ist standardisiert durchzuführen.
  • Internen und externen Kontrollinstanzen ist die Möglichkeit zu geben, regelmäßig und umstandslos die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben prüfen zu können.

Daneben sollte sich das Land Berlin für folgende Änderungen der Strafprozessordnung einsetzen:

  • Die Bestimmungen zur Durchführung von Funkzellenabfragen sind insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und den Zweckbindungsgrundsatz zu konkretisieren und enger zu fassen.
  • Es ist eine Dokumentationspflicht für die Begründung des Einsatzes von Funkzellenabfragen sowie die Durchführung der Benachrichtigungs- und Löschpflichten einzuführen.
  • Der Anwendungsbereich für Funkzellenabfragen ist zumindest auf konkret benannte Straftaten zu beschränken.
  • Es bedarf über den Verweis auf die Erforderlichkeit zur Strafverfolgung oder eine mögliche gerichtliche Maßnahmenüberprüfung hinaus genauer Vorgaben für die Löschung der aus Funkzellenabfragen erlangten Daten.
  • Um eine unabhängige Evaluation zu ermöglichen, sollte eine Berichtspflicht der Strafverfolgungsbehörden gegenüber dem Parlament eingeführt werden.

Die Staatsanwaltschaft hat in einer ersten Stellungnahme die Auffassung vertreten, der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit sei nicht befugt, das Vorgehen der Staatsanwaltschaft im Vorfeld einer richterlichen Anordnung zu überprüfen. Zudem sei es „praxisfern“, den Strafverfolgungsbehörden erst dann eine Funkzellenabfrage zu ermöglichen, wenn andere Spuren ausgewertet worden seien und nicht zum Ermittlungserfolg geführt hätten.

In beiden Punkten ist die Auffassung der Staatsanwaltschaft rechtsirrig. Das Berliner Datenschutzgesetz nimmt die Gerichte von der Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten aus, soweit sie nicht in Verwaltungsangelegenheiten tätig werden. Die Staatsanwaltschaft unterliegt dagegen wie jede andere öffentliche Stelle der Datenschutzkontrolle.

Zwar haben die Gerichte die Rechtmäßigkeit der von der Staatsanwaltschaft beantragten Maßnahme zu prüfen, jedoch kann sich die Staatsanwaltschaft deshalb der Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten nicht entziehen. Gerade die durchgeführte Prüfung ausgewählter Ermittlungsverfahren mit Funkzellenabfragen hat gezeigt, wie wichtig die unabhängige Datenschutzkontrolle ist: Da vielfach die gesetzlich vorgeschriebene Benachrichtigung Betroffener unterblieb, konnten diese keinen Rechtsschutz erlangen.

Auch ist es nicht hinnehmbar, wenn eine Strafverfolgungsbehörde die Vorgabe des Gesetzgebers, eine so einschneidende Maßnahme wie die massenhafte Funkzellenabfrage erst als letztes Mittel (ultima ratio) einzusetzen, als „praxisfern“ bezeichnet und deshalb offenbar zu ignorieren bereit ist.

Immerhin soll in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Vertretern des Polizeipräsidenten, des Generalstaatsanwalts sowie der Staats- und Amtsanwaltschaft ein Konzept erarbeitet werden, das Versäumnisse bei der Kennzeichnung, Benachrichtigung und Löschung von Funkzellendaten künftig vermeiden soll. Dieses Konzept soll mit uns abgestimmt werden, was bislang noch nicht geschehen ist.

Der Ausschuss für Digitale Verwaltung, Datenschutz und Informationsfreiheit hat dem Plenum des Abgeordnetenhauses empfohlen, den Senat aufzufordern, auch in den Fällen eine Information der Öffentlichkeit auf der Internetseite der Staatsanwaltschaft zu prüfen, in denen eine individuelle Benachrichtigung Betroffener zu Recht unterblieben ist.

Offensichtlich sind Funkzellenabfragen in vielen Deliktsbereichen entgegen der gesetzlichen Vorgabe zum alltäglichen Ermittlungsinstrument geworden. Aufgrund der Eingriffstiefe und Streubreite darf ihr Einsatz jedoch nicht zur Regel werden. Die stärkere Begrenzung der Durchführung solcher Maßnahmen ist durch den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden sicherzustellen. Die Staatsanwaltschaft unterliegt auch dann der Kontrolle durch den Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, wenn die von ihr beantragten Maßnahmen unter Richtervorbehalt stehen.

Eine Ergänzung

  1. Aha, rechtswidrig arbeitende Ermittler. Und man kann nichts dagegen unternehmen. Und es interessiert niemanden.
    Und selbst wenn – Richter werden solche Umstände bestätigen, aber -wie eigentlich immer- alle Bweismittel direkt zulassen.

    Soll der fleißig, gut und ordentlich arbeitende Herr Diy doch einfach zu Hause bleiben und die Straße fegen – da haben wir alle am Ende mehr von, als von diesem Kasperletheater, das uns am Ende nur ruhigstellen und die Illusion der Interessenvertretung geben soll.
    Für die Behörden gelten nunmal die Gesetze nicht. Damit müssen wir uns bis zur nächsten Revolution wohl abfinden.

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