Offene Standards: Webversteher gesucht in Brüssel

Gäbe es eine Sagengestalt des Binnenmarktes, so wäre es Witege. Zwölf Räuber, die Wegezoll nehmen, und von ihm „Waffen und Kleid“ zu lassen fordern, erschlägt der Nibelungenheld. Witege hat Prinzipe. Statt den Wegezoll in Zukunft selbst zu kassieren, läßt er die Burg schleifen und gibt die Straße frei.

Der Instinkt von Beamten der EU-Kommission ist weniger darauf gerichtet, die Freiheit des Webs für die Bürger zu bewahren, als vielmehr das lukrative Geschäftsmodell der digitalen Wegelagerer zu fördern. Im Europaparlament liegt ein Kommissionsentwurf zur Standardreform zur Beratung. Ausgerechnet der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) möchte nun IT-Spezifikationen offiziell anerkennen lassen, bei denen Patente „fair, reasonable and non-discriminatory“ (FRAND) lizenziert sind. Das bedeutet, jeder muss für ihre Nutzung eine Lizenz von einem Patentbesitzer erwerben.

Bislang gibt es keine offizielle Anerkennung der Spezifikationen von Konsortien. Das Netz basiert weitgehend auf dem Gegenstück der Freien Wege, den Offenen Formaten, deren Patentrechte lizenzfrei (royality-free = RF) sind. Diese „Offenen Standards“ sind keine „Normen“, und dürfen deshalb nicht in öffentlichen Ausschreibungen erwähnt werden. Darum ist die „Anerkennung“ im Prinzip eine prima Idee.

Der Name sagt es, das WWW Consortium (W3C) ist nur ein Konsortium, keine Normungsorganisation. Denn das W3C ist nicht wie z.B. DIN und ETSI mit der Standardisierung staatlich beauftragt. Damit öffentliche Ausschreibungen Spezifikationen wie HTML, CSS usw. erwähnen dürfen, möchten die Europapolitiker IT-Spezifikationen von Konsortien anerkennen. Statt die neuartige „Anerkennung“ nur auf die besten Spezifikationen mit den inklusiven RF-Konditionen zu beschränken, setzt der Ausschussentwurf die Hürde so niedrig an, dass alle digitalen Wegelagerer „anerkannt“ sind.

Das wäre unklug, aber noch kein Grund zur Besorgnis. Schlimm wird es erst dadurch, dass eine Anerkennung die bisherigen Anstrengungen unserer Regierungen zum Aushandeln liberaler Lizenzpraktiken und zur Befriedung der Wegelagerer untergräbt.  Die EU-weite Anerkennung ist eine Art Freibrief von höchster Stelle. Wie soll eine Regierung noch Offene Standards mit ihrer Beschaffung fördern, wenn die EU mit universaler Anerkennung reingrätzscht? Wie können deutsche Behörden Formate mit SAGA5 evaluieren, wenn die EU bereits alles für die Beschaffung anerkennt, was von Konsortien stammt? Wie können Europäische Interoperabilitätsstrategie und Interoperabilitätsrahmen weiterhin die Beschaffungsmacht des öffentlichen Sektors effektiv als Hebel nutzen?

Silvana Koch-Mehrin (FDP) zeigt diese Gefahr in ihrem IMCO-Änderungsantrag 69. Weiter als das Übereinkommenen über technische Handelshemmnisse der Welthandelsorganisation (WTO TBT) sollen die Kriterien nicht gehen: „Bei der Erstellung neuer Listen mit entsprechenden Grundsätzen bestünde die Gefahr eines Konflikts.“ Deshalb die Beschränkung auf die zahnlosen WTO-Kriterien, den kleinsten gemeinsamen Nenner. Gegen Handelkriege gedacht, für digitale Märkte unbrauchbar.

Gerade für Software unter Open Source Lizenzen sind FRAND Bedingungen unfair und diskriminierend. FRAND ist nur bei der Flatrate-Lizenzierung (ex ante) mit der General Public License (GPL) vereinbar. Wo Offene Plattformen fehlen, werden die Gerichtstermine wichtiger als die Kunden. Im Smartphone-Markt sehen wir welch destruktive Schlachten die Branchenriesen vor den Patentgerichten ausfechten. All das mit Software-Patenten, die es eigentlich gar nicht geben sollte in Europa.

Ob sich Europa erlauben kann, seinen starken Open Source-Sektor mit patentierten Konsortialstandards abzudrängen zu lassen, muss demnächst der Verbraucherausschuss, und das gesamte Europäische Parlament entscheiden. Danach haben noch die Mitgliedstaaten im Ministerrat in diesem Gesetzgebungsverfahren 2011/0150(COD) mitzureden.

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5 Ergänzungen

  1. Also ich verstehe nur Bahnhof. Gibts das auch in „normal“ Deutsch oder mit etwas näherer Information? Was für Auswirkungen hat zB so eine Anerkennung… Sonst muss ich leider mit gefährlichem Halbwissen hausieren gehen…

    1. Stimmt. Die Einleitung glänzt mit rhetorischen Stilmitteln und verschweigt leider, worum es eigentlich geht. Erst gegen Ende habe ich anhand der Beispiele eine diffuse Ahnung davon bekommen, was davor eigentlich gelesen habe.

    2. Es ist schon „extrem“ tricky, weil es mehrere Ebenen gibt.

      Alles was Du wissen solltest ist, dass sich ausnahmslos alle Debatten um Standards im Kern um RF vs. FRAND Lizenkonditionen drehen.

      Das Web basiert auf Offenen Standards, lizenzfreien Formaten (RF), jeder darf sie einsetzen wie er will.
      FRAND sind lizenzpflichtige Formate für deren Einsatz man eine Erlaubnis braucht. Freie Software ist da meistens ausgegrenzt.

      Die „Anerkennung“ hat zwei Auswirkungen:
      1. IKT Spezifikationen von Konsortien werden in der Beschaffung Normen gleichgestellt, sie dürfen also in öffentlichen Ausschreibungen Erwähnung finden.
      2. Offene Standard-Politiken werden geschwächt.

      Warum? Weil die Kommission Kriterien zur Anerkennung vorschlägt, die alle erfüllen können, nämlich WTO TBT und FRAND (man kann es lizenzieren) . Anstelle eines olympischen Wettbewerbs um die offensten Standards erhält jeder seine Medaille von der EU.

  2. Finde den Artikel auch eher schwer verständlich. Nicht zuletzt Dank seltsamer Begriffe wie „Prinzipe“…

  3. Ah, ich glaube, so langsam versteh‘ ich, was du sagen willst :D (mir fehlte auch ein wenig Einleitungsmaterial um überhaupt zu wissen worum es genau jetzt bei EU, Patenten und Software gehen solle; und von Witege hatte ich vorher noch nie etwas gehört – falls die Niebelungensaga allgemein Bildung sei, hmm, dann mea culpa, muss ich dann wohl noch nachholen :). Und du benutzt viele Abkürzungen, die du zwar (fast) alle gut und sofort erklärst, die du aber erst ein paar Zeilen später wirklich benutzt ).

    Wenn ich das richtig verstanden habe, ist deine Hauptkritik, dass zu viele Standards, die nicht unbedingt „Offen“ nach dem Verständnis z.B. der Free Software Foundation sind, demnächst in Ausschreibungen erlaubt werden könnten. Und jene nicht-offenen Standards/Spezifikationen auf Grund von Inkompatibilitäten mit Free/Liberal Open Source Software nicht vereinbar sind, ergo OpenSource Software schwächen.

    Der „naive“ Leser wird sich vermutlich fragen und nicht ganz folgen können, warum dies nun so schlecht sei, denn die proprietären Lösungen wären dann doch eh viel professioneller und besser und somit das Geld aus der Ausschreibung doch so viel besser angelegt, oder nicht? Wenn andersherum die EU nur RF (offene/libre Standards) und nicht FRAND (nicht-libre/offene Standards) erlauben würde, wäre das dann nicht diskriminierend gegenüber nicht-OpenSource-Firmen? Wenn es OpenSource Software schwächt, stärkt es dann nicht Closed-Source Software?

    Nein, in vielen Bereichen gibt es Software-Schmieden, die sehr hochwertige Produkte auf Linux Basis anbieten. Auch closed-source Firmen würden nicht diskriminiert, denn offene/libre Standards können von allen benutzt werden. Offene/libre Standards für EU Gelder sind die bessere Lösung, weil sie bei weitem mehr Wettbewerb um eine Ausschreibung erlauben. Von der EU abgehakte Standards sollten universell anwendbare Standards sein, gerade wenn es z.B. um Internetstandards geht. Ansonsten würde die EU sich zum einen langfristig, schleichend selber von bestimmten Unternehmen abhängig machen, Monopoliesierung fördern und durch den Verlust an Wettbewerb somit langfristig Innovation hemmen.

    Dieser Ausschussentwurf lässt die ganze OOXML Debatte (Microsofts patentierter Office „Standard“, der nun doch irgendwie ein ISO geworden ist) wie ein Witz aussehen…

    Danke für diese sehr wichtige Warnung, André! Ich hoffe das sich das noch verhindern lässt…

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.