Rot-Grüne Koalition in BaWü: Keine Netzsperren im Ländle? (ergänzt)

Manche Dinge lesen sich zu schön um wahr zu sein. Der Koalitionsvertrag der zukünftigen rot-grünen Regierung in Baden-Württemberg zum Beispiel. Dort heißt es auf Seite 69:

Bei der Vorratsdatenspeicherung setzen wir uns dafür ein, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts präzise einzuhalten.

Das Sperren von Internetseiten lehnen wir ab und vertreten stattdessen das wirksamere und effizientere Prinzip „Löschen statt Sperren“.

Und auf Seite 77/78:

Wir begreifen den Zugang zum Internet als Bürgerrecht. […] Mit den Stimmen oder gar auf Initiative dieser Landesregierung wird es daher keinen Aufbau einer Zensur-Infrastruktur für das Internet geben. Im Zweifel gilt der Grundsatz: Löschen statt sperren. […]

Wir wollen den Jugendschutz im Internet stärken. Effektiver Jugendschutz besteht für uns in der Vermittlung von Medienkompetenz bei Eltern, Lehrkräften, Kindern und Jugendlichen. Den Aufbau einer Infrastruktur zur Blockade von Internetseiten unter dem Vorwand des Jugendschutzes lehnen wir ab […]

Klingt prima, oder? Fast so, wie es sich der AK Zensur im Vorfeld gewünscht hatte. Die Frage ist allerdings: Wie ist es gemeint?

Lassen wir die Vorratsdatenspeicherung mal aussen vor, über die wird noch gesondert zu reden sein. Bei „Sperren von Internetseiten“ denkt man unweigerlich an #zensursula und das zur Aufhebung bestimmte Zugangserschwerungsgesetz. Das hingegen war ein Bundesgesetz.

Genauer gesagt, es war nach Ansicht der Bundesregierung ein so genanntes Einspruchsgesetz. Bedeutet: Selbst wenn die aktuelle Koalition in Baden-Württemberg damals eine Meuterei im Bundesrat angezettelt hätte, hätte das wohl nichts gebracht. Warum, erklärt der Blogfürst hier noch einmal etwas genauer.

Anders schaut es freilich auf Länderebene aus. Wir erinnern uns, bereits der alte (und derzeit noch gültige) Jugendmedienschutz-Staatsvertrag sieht – via § 59 Abs. 2 bis 4 des Rundfunkstaatsvertrages (PDF) – Netzsperren auf Zugangsebene grundsätzlich vor. Und zwar nicht über eine zentral geführte Sperrliste („Infrastruktur“), wie beim Zugangserschwerungsgesetz, sondern im Rahmen ordnungsrechtlicher Einzelfallentscheidungen („Sperrverfügungen“). Ein kleiner, aber feiner Unterschied.

Ganz ähnlich ist es beim so genannten Glücksspielstaatsvertrag, dessen Novellierung derzeit zwischen den Ländern ausgearbeitet wird. Auch hier sieht der – bereits der EU-Komission zur Notifizierung – vorgelegte Entwurf in § 9 Nr. 5 Netzsperren vor, um den Zugriff auf illegale bzw. nicht lizensierte Angebote zu unterbinden.

Das Problem: Unzulässig (JMStV) bzw. illegal/nicht lizensiert (GlüStV) sind die zur Sperrung in Frage kommenden Angebote regelmäßig nur aus deutscher Sicht. Der Ansatz „Löschen statt Sperren“ dürfte also, so ehrenwert er auch ist, nicht greifen.

Und nun? Wird Baden-Württemberg den GlüStV stoppen? Müssen Provider in Baden-Württemberg keine Sperrverfügungen fürchten (mal abgesehen davon, dass mir in BaWü ausser KabelBW ohnehin keine größeren Zugangsprovider bekannt sind, die man mit Sperrverfügungen belegen könnte)? Wohl kaum.

PS: Bei der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) ist man derweil – wenig überraschend – überzeugt, auf Grundlage des bestehenden JMStV Sperrverfügungen erlassen zu dürfen. Davon, dass sich das in Zukunft ändern wird, geht man nicht aus.

 

 

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12 Ergänzungen

  1. S. 77:

    „Wir werden fortschrittliche Netzpolitik zu einer Leitidee für Baden-Württemberg machen. Wir werden die Chancen ergreifen, die das Internet für Demokratie und Teilhabe, Wirtschaft und Arbeit und
    für das soziale Zusammenleben bietet. Wir begreifen den Zugang zum Internet als Bürgerrecht. Medienkompetenz, informationelle Selbstbestimmung und ein umfassender Daten- und Verbrau-
    cherschutz sind ebenso Grundlage unserer Netzpolitik wie die Ablehnung aller Versuche, Zensur- und Kontrollinfrastrukturen für das Netz zu schaffen. Mit den Stimmen oder gar auf Initiative dieser
    Landesregierung wird es daher keinen Aufbau einer Zensur-Infrastruktur für das Internet geben. Im
    Zweifel gilt der Grundsatz: Löschen statt sperren.“

    1. Danke Christian, die Passage habe ich wohl gelesen.

      Der Notausgang liegt im Zweifel in der Formulierung „Zensur-Infrastruktur“. Eine Sperrverfügung ist zunächst eine ordnungsrechtliche Einzelfallentscheidung und keine Infrastruktur (das Ergebnis, dass irgendwo jemand eine /etc/hosts o.ä. aktualisieren muss, mag identisch sein).

      Wie gesagt, ich wüsste einfach nur gerne, wie man den Konflikt zwischen sicher gut gemeinter Absichtserklärung auf der einen Seite und der Realität des JMStV/GlüStV auflösen möchte.

      1. Am Ende des Tages ist ein Koalitionsvertrag nichts anderes als eine Absichtserklärung. Insofern ist Dein Wunsch nach mehr Präzision einerseits nachvollziehbar, andererseits sinnlos, denn rechtsverbindlich ist der Koalitionsvertrag natürlich nicht. Entscheidend ist letztendlich das Handeln und Tun der Regierung.

  2. ehrlich gesagt hört sich das da im Koalitionsvertrag für mich ein bisschen wie mit der heißen Nadel gestrickt an. Und in der Tat bleiben so wie es jetzt da drinsteht einige „Schlupflöcher“. Da der Koalitionsvertrag auch gerade in Arbeit war als die Diskussion um Netzsperren im Rahmen des Glücksspielstaatsvertrages anfing, hätte man sich durchaus wünschen können daß auch hierauf eingegangen wäre, und zwar in der Tat weil es dort um die potenzielle Sperrung von Inhalten geht die einzig und allein in Deutschland illegal sind bzw. sein sollen.

    Aber andererseits – Koalitionsverträge sind oft ziemlich voll von blumigem Gewäsch, sie sollen ja am Ende auch nur Leitbilder sein, Marschrouten für die kommende Regierungsarbeit, wenn auch dabei oft schon ziemlich konkret. Vieles was in Koalitionsverträgen steht bleibt dann am Ende doch wieder liegen und wird in der jeweiligen Legislaturperiode nicht gemacht, entweder weil man es einfach nicht mehr geschafft hat oder es politisch dann doch nicht durchsetzbar ist.

    Also gilt auch hier am Ende mutmaßlich: nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Das kann im vorliegenden Fall Baden-Württembergs am Ende sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil werden für netzpolitische Belange.

  3. Meiner Meinung sind Sperren – unabhängig davon, in welcher Form diese verfügt und umgesetzt werden – absolut unsinnig.
    Einerseits wären illegale Inhalte zwar gesperrt, blieben aber für alle nicht von einer Sperre betroffenen erreichbar, was schon fast wieder einer teilweisen Duldung gleich käme.
    Andererseits lassen sich die Sperren je nach Art der Umsetzung sehr leicht oder mit geringem Aufwand umgehen. Dies hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in seiner Ausarbeitung „Sperrverfügung gegen Interner-Provider“ ausdrücklich festgestellt.
    Ich hoffe, dass die Herren Politiker die Unsinnigkeit derartiger Regelungen endlich begreifen und stattdessen geeignetere Maßnahmen ermöglichen.

    1. Meiner Meinung sind Sperren – unabhängig davon, in welcher Form diese verfügt und umgesetzt werden – absolut unsinnig.

      Das ist richtig, hier aber gerade nicht das Problem. Das Problem der nächsten Monate (Lustige Ideen auf EU-Ebene mal aussen vor) dürfte sein, eine schleichende Etablierung von Sperren durch ordnungsrechtliche Einzelfallentscheidungen (“Sperrverfügungen”) zu verhindern.

      Und das dürfte – argumentativ wie juristisch – deutlich schwieriger werden, als die Argumentation gegen zentrale Sperrlisten, z.B. beim BKA. Dummerweise ist das Ergebnis in beiden Fällen gleich: Die Anbieter werden die jeweilige Listen dann halt selber führen müssen, die Inhalte kommen von den jeweils zuständigen Aufsichtsbehörde (und später im Zuge des einstweiligen Rechtsschutzes wohl auch auf dem kleinen Dienstweg von privat).

      Andererseits lassen sich die Sperren je nach Art der Umsetzung sehr leicht oder mit geringem Aufwand umgehen. Dies hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in seiner Ausarbeitung “Sperrverfügung gegen Interner-Provider” ausdrücklich festgestellt.

      Sorry, aber das stimmt so einfach nicht. Das Paper des wissenschaftliches Dienstes greift da auch eindeutig zu kurz. Zunächst einmal setzt es sich nur mit IP- und DNS-Sperren auseinander. Komplexere Ansätze werden erst gar nicht behandelt.

      Die Darstellung zu „IP-Sperren“ ist zudem grob oberflächlich und zielt vor allem auf Kollateralschäden ab. Die lassen sich mit etwas Aufwand vermeiden (siehe den Cleanfeed-Ansatz im UK).

      Bei DNS-Sperren ist es zunächst einfach. Ja, die kann jedes Kind umgehen. Das ist und war auch den Befürwortern von Sperren bekannt (selbst Büssow bereits 2002). DNS-Sperren haben aber einen anderen Vorteil: Sie sind technisch leicht zu implentieren und (daher) juristisch leicht zu argumentieren.

      Im Kontext der Gesamtdebatte sind sie kaum mehr als ein Brückenkopf. Sind DNS-Sperren erst einmal etabliert, kann man in der Evaluierung feststellen, dass man mit DPI & BGP deutlich effektiver sperren könnte … und „Denkt doch mal an die Kinder!“ – wer würde dies nicht wollen, wenn so endlich ein Fortschritt im Kampf gegen Schund und Schmutz erzielt werden könnte?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.