Chinas Zensur: „System der tausend Augen“

Lesenswerter und ausführlicher Artikel heute im Berliner Tagesspiegel: der Schriftsteller Ha Jin (哈金, eigtl. 金雪飞/金雪飛) berichtet über Chinas Zensur, „Das System der tausend Augen“. Es funktioniert nach dem Prinzip 內緊外鬆 (nèi jǐn wài sōng): nach innen hart, nach außen weich. In der Außendarstellung der Zensur ist also kaum erkennbar, wie unnachgiebig sie nach innen wirkt. Der Artikel geht auf die Verleger- und Verlangssituation, auf Auslandschinesen, heikle Literatur ein und kommt auf den Schluß, dass nur eine (zensurfreie) Öffnung der Bildung und echte Demokratie Chinas Talenten zu Gute kommen kann:

Bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahr 2006 sagte Präsident Hu Jintao: „Wir glauben seit jeher, dass es ohne Demokratie keine Modernisierung gibt.“ Dieses Eingeständnis nimmt den Aufruf des Dissidenten Wei Jingsheng nach einem fünften Modernisierungs- und Demokratisierungsschritt auf, nachdem Deng Xiaoping vier Modernisierungsschritte gefordert hatte. Wei wurde dafür 15 Jahre lang eingesperrt. Wenn die KP Demokratie ehrlich befürwortet, wie Hu beteuert, müsste sie Schritte einleiten, die Macht des Propagandaministeriums zu verringern und es schließlich aufzulösen. Sonst bleibt jedes Wort von Demokratie Gerede.

… Es wird oft gefragt, wie viele große originelle Denker und Künstler das moderne China der Welt gegeben und wie viele Produkte es von sich aus hergestellt hat. Sehr wenige, wenn man bedenkt, dass dieses Land 1,3 Milliarden Bewohner hat. Es stimmt zwar, dass China reicher ist als je zuvor, aber sein Reichtum beruht darauf, ausländische Produkte nachzumachen. Solch ein Reichtum ist vergänglich. Ohne eigene kulturelle und materielle Güter kann kein Land reich und stark bleiben. Mit anderen Worten: Der wahre Reichtum eines Landes liegt im Talent seiner Menschen. Der beste Weg, es wachsen und gedeihen zu lassen, besteht darin, das Joch der Zensur abzuschütteln.

(Auf echonyc.com kann man den fünften Modernisierungsschritt Wei Jingshengs auf Englisch nachlesen.)

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6 Ergänzungen

  1. Ich denke es kommt wenig dabei heraus, wenn Amerikaner (oder Deutsche) über Demokratie reden und meinen sie würden über eine Sache reden. Ha Jin ist bereit 1985 nach USA emigriert, also vier Jahre vor der blutigen Niederschlagung der Studentenrevolte am Tiananmen Square und ist soweit es China betrifft in seiner Vita sehr stark von der Kulturrevolution geprägt. Für viele chinesische Schriftsteller und Künstler (jedenfalls die ich kenne) liegt die Kulturrevolution 40+ Jahre zurück und oft außerhalb der persönlichen Erfahrung.
    Wenn Hu Jintao von der Demokratie als Motor der Modernisierung in China spricht, meint er ganz sicher nicht eine Demokratie in unserem Sinne.

  2. > Wenn Hu Jintao von der Demokratie als Motor der
    > Modernisierung in China spricht, meint er ganz sicher
    > nicht eine Demokratie in unserem Sinne.

    Ja. Ich finde in Ha Jins Artikel kommt das deutlich heraus: Hu Jintaos Variante der Demokratie ist nur ein rhetorisches Zugeständnis an die intellektuelle Elite – weil Wei Jingshengs dort Texte zu wichtig geworden waren um sie immer ignorieren zu können. Das Vokabular wird neu besetzt. Zusammen mit einigen wirkungsschwachen Änderungen für den nationalen Volkskongreß, der jetzt aus auch nationalen „Minderheiten“ besteht, wird so Demokratie auch für Volkschinesen ein aussprechbares Wort, ohne gleich offen an Taiwan zu erinnern.

    Oder das ist Ha Jins Trick, der kommunistischen Dynastie eben das unterzuschieben (~anzudichten) – dass sie eigentlich bereits verloren hat, und der Entwicklung, die dank subversiver Schriftsteller längst begonnen hat, kaum noch etwas entgegen zu stellen ist. ;-)

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