Sozial kontrolliertes Internet statt staatlicher Keule?

Interessante Meldung von gestern im Wall Street Journal: Why China Relaxed Blogger Crackdown. Mit dem Untertitel „Registration Plan Was Dropped In Face of Tech-Industry Protests“ wird beschrieben, dass das lange geplante Realnamensystem nicht mehr erzwungen werden soll.

The Chinese government, which sees the online world as a conduit for slander, pornography and antigovernment views, believes the real-name system would force the Internet community to watch their words and actions. But the policy received sharp protests from the technology industry.

Now, the Ministry of Information Industry, the agency responsible for the policy, has abandoned plans for a law requiring all Chinese blog service providers to ask their users for verifiable personal details before they can start blogging.

Instead, the government is going for the soft approach.

Next month, Beijing is expected to rally industry players to sign a pact and promote the use of real-name registration, said Yang Junzuo, who heads a committee with the Internet Society of China, a think tank affiliated with the ministry that has been gathering industry reactions to the intended policy.

Es klingt nach einem interessanten sozialen Experiment. Ehrlichkeit (≅Nichtanonymität) soll gefördert und positiv besetzt werden. Sowas gabs auch mal in der DDR: Statt dass der Busfahrer beim Einsteigen das Ticket kontrolliert soll man jetzt den anderen Fahrgästen das Ticket zeigen – und wenn die Rechnung aufgeht, und die User ein sonniges und grünes Internet wollen, können sie das ausgemachte „Fehlverhalten“ (ohne Fahrkarte zu sein) sozial sanktionieren.

Der Punkt hier ist aber offensichtlich, dass die Regierung den Plan nicht aufgegeben hat, sondern quasi in das Userland auslagert. Und das nicht aus Einsicht oder großpolitischer Wetteränderung, sondern weil die Industrie protestiert hat. Wie das vonstatten ging kann man sich ausmalen: Einerseits „Oh nein, das bedeutet noch mehr schlechte PR für uns“ und andererseits:

The government decided to backtrack on the real-name system after industry players argued that it would be impossible to implement.

Fang Xingdong, who owns a blogging company and attended at least four meetings with the Ministry of Information Industry to discuss the policy, told officials the system would kill companies like his. Mr. Fang is chairman and chief executive officer of bokee.com, one of China’s biggest blog services that he says has 15 million registered users and is growing. The real-name policy would have required his company to crosscheck every user with data from the public security bureau. Trying to validate the massive volume of personal information would have been a logistical nightmare, he said.

Das Problem der faktischen Verfügbarkeit der Daten mal außer Acht gelassen, knickt die chinesische Regierung damit vor der heimischen Industrie ein? Ich glaube nicht. Eher indirekt vor der Kaufkraft der Konsumenten (wie schon anderswo). So schief der Vergleich mit dem Busfahren, so klar dass von Deutschland gelernt wurde: hört auf die Industrie. Die will auch keine Vorratsdatenspeicherung bezahlen müssen. Die Kosten werden dann eben auf den Kunden ausgelagert. Anscheinend ist man gesellschaftlich noch nicht soweit.

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4 Ergänzungen

  1. Manche Japaner sehen das ja mit der Ehrlichkeit und der Anonymität genau andersherum: Derjenige, der anonym auftritt, ist der Ehrlichere, weil er freier reden kann. Darauf beruht zum Beispiel ein in Japan sehr beliebtes (und heftig umstrittenes) Internet-Forum namens 2ch.net. Google Blogoscoped schrieb mal drüber.

    In Japan ist mal wieder alles umgekehrt wie hier: Hier gibt man gerne seine Anonymität im Internet preis (ich sag nur StudiVZ usw…), ist aber in der Offline-Welt zurückhaltender. In Japan jedoch haben in der Offline-Welt selbst Hausfrauen Visitenkarten, um sie bei Gesprächen mit Fremden sofort am Anfang des Gesprächs zu übergeben, damit der andere sofort sieht, was man für eine gesellschaftliche Stellung hat und damit man weiß, wie man miteinander reden muss. Online jedoch scheinen viele Japaner die Anonymität zu bevorzugen. Mir persönlich ist das sehr sympathisch. :-)

    Vielleicht geht ja die chinesische Kampagne (Anonymität = Unehrlichkeit) auch nach hinten los und jeder, der mit seinem vollen Namen im chinesischen Internet unterwegs ist, gilt unter den Nutzern bald als unkritischer Regierungsanhänger.

  2. Stereotypisch sind die Japaner ja so, weil sie generell sehr zurückhaltend sind und im Öffentlichen kaum Gefühle zeigen. Das kann man m.E. vielen Inselvölkern zuschreiben, und es muss nicht einmal stimmen. Interessanter Artikel, danke, auch die Kommentare sind erhellend.

    Mir fiel noch ein Vergleich ein: Rufnummernübermittlung. Wir haben uns schnell daran gewöhnt, die Nummer des Anrufenden im Telefondisplay zu sehen – und wenn da „Privatnr.“ oder „Unbekannt“ steht sind wir gleich misstrauisch. Es könnte auch andersherum sein… wer die Nummer nicht mitteilt gilt als aufgeklärter, nichtnaiver als die mitteilungsfreudigen.

    Chinesische Innenansichten, anyone?

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