Amnesty: Uferlose Überwachung schwächt Zivilgesellschaft in Belarus

Permanente Angst vor Überwachung und eine starke Selbstzensur prägen die Realität belarussischer Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtler. Amnesty International zeichnet in einer neuen Studie das erschreckende Gesamtbild der Überwachung in Lukaschenkos Diktatur.

Straßenszene in Belarus. Foto: CC-BY-NC-ND 2.0 Marco Fieber/Ostblog.org

Eine neue Studie von Amnesty International beschäftigt sich mit dem Stand der Telekommunikationsüberwachung in Belarus und den Folgen für politischen Widerspruch. Für die Studie hat Amnesty 50 Menschenrechtler, Journalisten, Rechtsanwälte und Mitglieder der belarussischen Opposition interviewt.

Harte NGO-Gesetzgebung & Zensur

Grundsätzlich haben Nichtregierungsorganisationen einen schweren Stand in Belarus, so sind bürokratische Hürden hoch, die Behörden verweigern oft die Zulassung oder nutzen Verstöße gegen die Regeln, um Nichtregierungsorganisationen zu schließen. Gleichzeitig sind Aktivitäten nicht-registrierter Organisationen strafrechtlich verboten.

Das Gesetz über die Massenmedien von 2014 erlaubt es dem Informationsministerium Webseiten oder Teile von Webseiten ohne gerichtliche Anordnung zu blockieren. Im Februar 2015 wurde dieses Gesetz erweitert: Es erlaubt nun auch Tools zur Umgehung von Zensur, wie Tor oder VPNs, zu blockieren.

Cover der Amnesty-Studie zur Überwachung in Belarus
Cover der Amnesty-Studie zur Überwachung in Belarus

Die Angst vor der Überwachung

Laut der Studie haben quasi alle Befragten Angst überwacht zu werden. Aufgrund der harten NGO-Gesetzgebung führt das dazu, dass die Befragten in ständiger Angst vor strafrechtlicher Verfolgung leben. Diese Angst wird noch geschürt von der Erinnerung an das Protestjahr 2010, als Aktivist/innen auf Grundlage von Mobilfunkdaten verhaftet und strafrechtlich verfolgt wurden.

Für die meisten Interviewten resultieren aus der Überwachung klare Verhaltensregeln in der elektronischen Kommunikation: sensible Themen werden nur von Angesicht zu Angesicht besprochen, über bestimmte Themen (z.B. Treffpunkte, Namen von Beteiligten, Finanzen, usw.) wird nie am Telefon gesprochen oder die Befragten beschränken sich in der Telekommunikation auf Dinge, die sowieso schon öffentlich bekannt sind. Gleichzeitig betonen fast alle Befragten die Wichtigkeit von verschlüsselter Kommunikation. Diese stellt die Befragten auch vor große Probleme, da sie alle ihre Aktivitäten so organisieren müssen und dies zum Leiten einer NGO oftmals nicht praktikabel sei.

Andere Repressionsmaßnahmen

Der Bericht stellt einige Aktionen von staatlichem Hacking vor. Diese seien jedoch seltener als die physische Beschlagnahme von Computern und Mobiltelefonen, welche laut Bericht ein großes Risiko für die Befragten und ihre Kommunikation darstellten. Zugleich sind die Beschlagnahmen finanziell für die Betroffenen ein Problem, da diese die zurückgegebenen Geräte nicht wieder nutzen können, weil diese „verwanzt“ sein könnten. Insgesamt führen die Überwachungsmaßnahmen und die Angst vor Überwachung zu einem „Chilling Effect“, der die Aktivitäten der belarussischen Zivilgesellschaft insgesamt schwächt.

Belarus wird oft als die "letzte Diktatur Europas" bezeichnet. Präsident Lukaschenko regiert das Land seit 1994 autokratisch. Karte: CC-BY-SA 3.0  Wikipedia
Belarus wird oft als die „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet. Präsident Lukaschenko regiert das Land seit 1994 autokratisch. Karte: CC-BY-SA 3.0 Wikipedia

Technische Hintergründe

Auch Belarus benutzt das russische System SORM um Telekommunikationen in Echtzeit zu überwachen. Telekommunikationsunternehmen in Belarus müssen die technischen Schnittstellen für SORM bereitstellen. Gleichzeitig gibt es in Belarus eine einjährige erweiterte Vorratsdatenspeicherung. Zudem müssen Internetcafés die Personalien ihrer Kunden aufnehmen sowie die Webseiten speichern, die ihre Kunden aufrufen. Insgesamt räumen die belarussischen Gesetze den Überwachern weiträumige Befugnisse ein, die wenig kontrolliert werden. Der Amnesty-Bericht beschreibt diese ausführlich.

Private Unternehmen als Erfüllungsgehilfen

Belarussische Mobilfunk- und Internetprovider sind durch die Gesetze des Landes gezwungen an der Überwachung, die oftmals keine Begründung benötigt, mitzuwirken. Deswegen hat Amnesty die Ergebnisse der Studie auch an beteiligte Telekommunikationsunternehmen wie Telekom Austria Group, América Móvil, Teliasonera und Turkcell geschickt und gefragt, welche Maßnahmen sie zur Einhaltung der Menschenrechte ergreifen. Geantwortet haben nur das schwedische Unternehmen Teliasonera und die Telekom Austria Group. Letzterer bescheinigt Amnesty, dass sie versagt habe, Menschenrechtsthemen im Bezug auf ihre Beteiligung am belarussischen Unternehmen Velcom auf die Agenda zu setzen. Die anderen Unternehmen Velcom, Life:), MTS (Belarus), Beltelecom, América Móvil und Turkcell antworteten allerdings gar nicht auf die Anfrage von Amnesty.

Belarus erlaubt weitreichende Überwachung wegen nahezu jedem Grund

Amnesty kommt aufgrund der Interviews und der rechtlichen Bewertungen zu einem vernichtenden Fazit, was die Überwachung in Belarus angeht [Übersetzung von netzpolitik.org]:

Die Gesetze in Belarus erlauben den Behörden weitreichende Überwachung für nahezu jeden Grund, zudem benötigt die Überwachung im Land keine unabhängige Genehmigung oder Kontrolle durch die Justiz. Durch die Nutzung des SORM-Systems haben die Behörden direkten und immerwährenden Fernzugriff zu Kommunikation und damit zusammenhängender Daten. Mobilfunk- und Internetprovider sowie andere Telekommunikationsunternehmen ermöglichen diesen problematischen Direktzugriff auf die Daten ihrer Kunden. Die umfassende Geheimhaltung der Überwachungsmaßnahmen verunmöglicht, dass man von illegalen Überwachungspraktiken erfährt – geschweige denn diese kritisieren könnte. Dieses System ist weit von dem entfernt, was internationales Recht und internationale Standards erfordern, damit die Überwachung als rechtmäßiges Werkzeug der Strafverfolgung gelten könnte.

Dies alles führe zu Selbstzensur und verringere den sowieso schon sehr engen Spielraum der Zivilgesellschaft in Belarus noch einmal deutlich. Eine Folge dieser Politik sei, dass die offizielle Position des Staates kaum noch mit gegenteiligen Berichten konfrontiert sei.

Empfehlungen der Studie

Am Ende der 52-seitigen Studie fordert Amnesty International Belarus auf, die Überwachung mit internationalen Standards in Einklang zu bringen. Dies wird mit verschiedenen möglichen Maßnahmen untermauert, die zu einer Rückkehr zu diesen Standards führen könnten. Auch werden belarussische Strafverfolger aufgefordert, sich an rechtsstaatliche Standards zu halten und zumindest ein Minimum an Transparenz über die Anzahl der Überwachungsmaßnahmen zu schaffen. Den Telekommunikationsunternehmen empfiehlt der Bericht, auf die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards zu drängen und selbst Transparenzberichte zu veröffentlichen.

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