Warum Überwachung uns nicht sicherer macht und wieso sich Privatsphäre und Sicherheit nicht ausschließen

Hat sich die Diskussion nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo verändert, obwohl die Täter dem französischen Geheimdienst sehr wohl bekannt waren? Was für neue staatliche Sicherheitsstrategien werden jetzt gefordert? Wie wird „Online-Extremismus“ als Argument genutzt, um unsere Privatsphäre zu beschneiden?

Diesen Gastbeitrag mit dem englischen Originaltitel „Security and Privacy in Times of Online Extremism“ von Sarah Theresa Fischer veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung. Übersetzung: Sarah Theresa Fischer und Constanze Kurz.

Das sich schnell weiterentwickelnde Informationszeitalter hat einen neuen Abschnitt für die staatlichen Sicherheitsstrategien eingeläutet. Während die Sorge früher oft Boden, Luft, Ozeanen und dem Weltraum galt, erkennen die meisten Länder nun auch den „Cyberspace“ als ein ebenbürtiges Arbeitsgebiet an. Unzweifelhaft trägt der „Cyberspace“ Risiken für die staatliche Sicherheit in sich. Eine Dimension dieser Risiken sind die Gefahren, die von der Nutzung des Internet durch Kriminelle, Terroristen und extremistische Gruppen ausgeht, da es Tatvorbereitung und Kommunikation erleichtert. Ausgelöst durch den Angriff auf das französische Satire-Wochenmagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 haben Regierungen in zunehmendem Maße ihre Beunruhigung über „Online-Extremismus“ und die Möglichkeiten, die das Internet für die Planung und Durchführung terroristischer Vorgänge hervorbringt, zum Ausdruck gebracht. Direkt nach den Angriffen erklärte David Cameron, dass es immer möglich gewesen sei, jemandes Briefe zu lesen, Anrufe zu belauschen, und dass er nicht gewillt sei, für Online-Kommunikation eine Ausnahme zuzulassen. Er zeigte sich außerdem überzeugt davon, dass es die oberste Pflicht der Regierung sei, die Sicherheit für das Land und die Menschen aufrechtzuerhalten.

Die gemeinsame Stellungnahme der EU-Innen- und Justizminister (pdf) vom 11. Januar 2015 ließ eine ähnliche Haltung erkennen. Sie drückt die Besorgnis aus über die „zunehmende Nutzung des Internet, um Hass und Gewalt anzuheizen“, und postuliert weiterhin, es sei „wesentlicher Bestandteil für die beschleunigte Weitergabe von Materialen, die zielgerichtet Hass und Terror animieren“. Um es auf den Punkt zu bringen: EU-Politiker betonen die Notwendigkeit, die Online-Kontrolle auszubauen, mit dem Ziel, zukünftigen Anschlägen vorzubeugen. Das erscheint auf den ersten Blick als Maßnahme begreiflich. Ist es nicht in unser aller Interesse, unversehrt zu bleiben, und erwarten wir nicht, dass unsere Regierungen alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um uns zu schützen?

Ich meine, man sitzt dabei einer gefährlichen Täuschung auf, die von der Bevölkerung einfach übernommen und durch die Art der Entfaltung des „Sicherheitsdiskurses“ durch die Politik bewusst geschürt wird, wenn es um „Online-Extremismus“ geht. Man muss sich klarmachen, dass die Ausdehnung der Online-Kontrolle nicht nur zu einer möglichen frühen Entdeckung von Terrorvorhaben führen könnte, sondern immer zugleich die pauschale staatliche Überwachung der Privatdaten von Bürgern bedeutet. Eine solche Form der Überwachung hat weitreichende Konsequenzen für unsere Privatsphäre. Dass Politiker dazu neigen, die Bedrohung durch „Online-Extremismus“ auf die „nationale Sicherheit“ zu überhöhen, um die Ausweitung der Online-Überwachung zu rechtfertigen, gilt es zu zeigen. Ich werde dazu drei Fragen aufwerfen und diskutieren, die diese Annahme belegen werden.

Verhältnis zwischen Privatsphäre und Sicherheit

Zunächst ist es wichtig, das Verhältnis zwischen Privatsphäre und Sicherheit in Betracht zu ziehen und dessen Einfluss auf unsere Bürgerrechte zu verdeutlichen. Hatte David Cameron Recht, als er erklärte, dass es eines Staates oberste Pflicht sei, seine Bewohner zu schützen? Bevor man der Aussage, dass Sicherheit wichtiger sei als unsere Privatsphäre, widerstandslos Vertrauen schenkt, ist es wichtig, die Dimensionen dieses Kompromisses zu begreifen.

Eine Ausweitung der Online-Überwachung, die über eine Beobachtung von solchen Menschen hinausgeht, die als klar tatverdächtig identifiziert wurden, birgt erhebliche Gefahren. Eine potenzielle Gefahr besteht darin, dass die gesammelten Daten von Mitarbeitern der Geheimdienste an Personen außerhalb der Regierungskreise weitergegeben werden (siehe Posner (2006): I’m Not a Suicide Pact: the Constitution in a Time of National Emergency). Dies könnte zu einer nicht bestimmungsgemäßen Verwendung der Daten führen. Des Weiteren verhindert die Angst, überwacht zu werden, einen freien Ideenaustausch in den Angelegenheiten des öffentlichen Interesses. Ein solcher Austausch ist jedoch für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Abgesehen davon ist eine solche Form der Datengewinnung ein klares Eindringen in jedermanns Recht auf Privatsphäre.

Hilft Überwachung, um Anschläge zu verhindern?

Die zweite wichtige Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt: Helfen die online erhobenen Daten tatsächlich, um Anschläge zu verhindern? Es ist zu bezweifeln, dass dies der Fall ist. Die meisten Länder haben weder die Kapazitäten noch die Ressourcen, die schiere Masse an Informationen auszuwerten, die sie online sammeln können. Des Weiteren ist es auch für den aktuellen Fall des Anschlags auf Charlie Hebdo nachgewiesen, dass die Brüder, die ihn verübt haben sollen, dem französischen Geheimdienst sehr wohl bekannt waren. Nichtsdestotrotz konnte ein Anschlag nicht verhindert werden. Tatsächlich gibt es keinen bekannten Fall, in dem durch Vorratsdatenspeicherung gesammelte Informationen geholfen hätten, einen Anschlag zu verhindern. Darauf aufbauend lässt sich festhalten, dass eine Ausweitung der Online-Überwachung, die gern mit Hilfe des Diskurses über „nationale Sicherheit“ vorangetrieben wird, uns nicht zu mehr Sicherheit verhelfen würde. Das Gegenteil ist der Fall und entfaltet sich in einem interessanten Paradox. Während uns eine Ausweitung der Online-Überwachung nicht vor möglichen Terrorangriffen schützt, beschneidet es eines der Grundfeste unserer staatsbürgerlichen Freiheit: das Recht auf Privatsphäre.

Terror als unmittelbare Gefahr?

Abschließend möchte ich eine letzte Frage zum vorherrschenden Diskurs dieses Themas aufwerfen. Stellen terroristische Anschläge tatsächlich eine so unmittelbare Gefahr in Europa dar, wie von vielen Politikern propagiert? Oder ist es möglich, dass diese Sicherheitsfrage als Vorwand genutzt wird, um Vorratsdatenspeicherung in einem ungebührenden Maße auszubauen? Der Fakt, dass es beispielsweise für einen US-Bürger im Jahre 2001 fünf Mal wahrscheinlicher war, an der Erkrankung AIDS zu sterben, als ein Opfer eines terroristischen Anschlages zu werden, spricht für sich (siehe Abbot, Rogers & Sloboda Abbot (2007): Beyond Terror). Viele westliche Regierungen tendieren dazu, die tatsächliche Bedrohung von Anschlägen zu übertreiben. Dabei porträtieren sie die Wichtigkeit von Sicherheit auf eine Art und Weise, welche die Einführung von Handlungsweisen legitimiert, die anderweitig keine öffentliche Unterstützung bekommen würden. Bevor man sich daher dem dominanten Diskurs zu „Online-Extremismus“ anschließt, ist es wichtig, sorgfältig die sachliche Richtigkeit der Informationen zu überprüfen, die man vom Staat erhält, und sich dessen Auswirkungen auf eines unserer grundlegenden Rechte bewusst werden: das Recht auf Privatsphäre.

Quellen

Watt, N., Mason, R., & Traynor, I. (2015, January 12): David Cameron pledges anti terror law for internet after Paris attacks

Deibert, R. J., & Rohozinski, R. (2010): Risking Security: Policies and Paradoxes of Cyberspace Security, International Political Sociology, 15-32.

Stellungnahme der EU-Innen- und Justizminister vom 11. Januar 2015, (pdf)

Posner, R. A. (2006): I’m Not a Suicide Pact: the Constitution in a Time of National Emergency. Oxford: Oxford University Press.

Abbot, Rogers & Sloboda (2007): Beyond Terror, Random House.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

10 Ergänzungen

  1. Ein großes Problem an der Vorratsdatenspeicherung ist denke ich das sehr viele Menschen einfach nicht wissen was sie wirklich bedeutet geschweige denn selbst abwägen ob es angebracht ist oder nicht, echte Information zu diesem Thema gibt es nicht in den Massenmedien und wenn dann vielleicht morgens um 7 auf ZDF info oder so, dann ist die Politikverdrossenheit in Deutschland so groß……….ich will mir garnicht vorstellen was noch möglich wäre bis aufgestanden und auf den Tisch gehauen wird

    1. Schau mal in ein Geschichtsbuch; 1933 und 1949. Bald wird man wohl 2005 damit in eine Reihe stellen können.

      Heil Muddi.

  2. Nachdem die Mehrheit der Bürger weiterhin von Wohlstand und Wachstum ausgeschlossen bleiben, und weil die das nicht mehr lustig finden, sorgt sich eine dünne Machtelite um ihre Zukunft. Jene Art von Bürgern, den man mit inszenierter „Glaubwürdigkeit“ ins Hirn schei**en (sorry, aber das musste so raus!) konnte und so eine planbare Zukunft mit Familie und Eigenheim nebst sicherer Rente als Lebensziel verkaufen konnte, den wird es so nicht mehr geben können. Die Zukunft dürfte eher so aussehen, dass der Staat die eigenen Bürger zunehmen als Bedrohung von innen wahrnimmt. Die Menschen werden tendenziell überflüssig in den Wertschöpfungsketten, müssen aber als Kostenverursacher vorläufig noch mitgeschleppt werden. Einige davon lassen sich vielleicht noch als Soldaten rekrutieren. Was übrig bleibt wird neu verteilt.

  3. Das wesentliche Problem scheint mir zu sein, dass die große Mehrheit der Menschen sich in ihrem Vorstellungsraum auf lineare Modelle beschränkt und keinen Alltagsbegriff von exponentialen bzw. asymptotischen Verläufen hat.

    Das gilt sowohl im Großen, wenn sie annehmen, dass Wirtschaftswachstum ein grenzenloses, lineares Prinzip ist oder eben, dass mit dem Opfern individueller Freiheit linear auch die Sicherheit zunehme.

    Auf individueller Ebene finden wir das sowohl beim Thema Angst wieder (Menschen mit Angststörungen nehmen an, dass das Ausmaß von Angst endlos sei und sie demnach irgendwann durchdrehen müssen, wenn sie nicht z.B. sofort aus dem Supermarkt flüchten) als auch beim Thema Perfektionismus. Bei letzterem begreifen die Betroffenen i.d.R. nicht selbständig, dass der Kampf um die letzten fehlenden Prozent zu „perfekt“ einen übergroßen Anteil an investierter Energie verlangen, die ihnen andernorts fehlen oder die gesamte Situation schließlich in die vollkommene Erschöpfung (aka Depression) führen wird.

    Ob sich an den vernunftlosen Strategien der historischen und gegenwärtigen Realität etwas ändern wird, hängt in hohem Maße davon ab, ob es den Menschen mit Wissen über Nicht-Linearität gelingen wird, dieses so klar und geduldig zu veranschaulichen, dass eine kritische Masse an Menschen es in ihre Alltags- und politischen Entscheidungen einfließen lassen kann.

  4. Ein weiterer Artikel, der den Hauptwiderspruch nicht erwähnt: Selbst wenn Geheimdienste Kenntnis von bevorstehenden Terroranschlägen oder anderen Gefahren erhalten, können sie zu keinerlei konkreten Gegenmaßnahmen der Sicherheitsbehörden anregen, weil dann ja heraus käme, dass sie offenbar vorher an diese Informationen gelangt sind. Und wie spätestens anhand der NSU-Affäre und anderer Vorgänge deutlich wurde, geht Quellenschutz über alles! Wer hier noch Emotionen übrig hat, der bemitleide doch auch mal die Geheimdienstler, die sehenden Auges Terroranschläge „begleiten“ müssen.

    1. Präzisiere mich in einem Punkt: Die Geheimdienstler werden veranlassen, dass bei einem bevorstehenden Terroranschlag kein Angehöriger der herrschenden Klasse anwesend ist (was bei Erzherzog Ferdinand und Olof Palme schief ging), das geschieht schon.

    2. Die Anweisung an Mitarbeiter lautet nicht: Wenn Du weist, dass etwas passiert, dann versuche es zu verhindern.
      Sie lautet: Wenn Du weist, dass etwas passiert, dann geh da nicht hin!

  5. Die ganze Vorratsdatenspeicherungsgeschichte ist ein Haufen genauso wie alles was der Cameron erzählt.

    Ich hol‘ mir ein VPN ausserhalb von DE und schon kann die Telekom nichts mehr dazu sagen, wo ich alles im Netz war.

    Ja, Dave. Stimmt schon, dass die Regierung schon immer meine Telefonate abhören oder Post mitlesen konnte. Der feine Unterschied zum Netz ist, dass nicht jede Sau auf der ganzen Erde vom eigenen Sofa aus auch meine Post mitlesen kann, wenn sie nur den richtigen Schlüssel rät.

    Sicher vor den Bösen aber nicht den Guten gibt’s nicht. Wenn effektive Verschlüsselung illegal wird, haben eben nur die Verbrecher sie. Und sie freuen sich wie ein Schneekönig über den Rest von uns, den sie dann maßlos berauben können. Denn uns ist wirkungsvoller Schutz verboten.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.