Buch: „Vergessene Zukunft: Radikale Netzkulturen in Europa“

Clemens Apprich, Felix Stalder (Hg.), Vergessene Zukunft: Radikale Netzkulturen in Europa, transcript
Clemens Apprich, Felix Stalder (Hg.), Vergessene Zukunft: Radikale Netzkulturen in Europa, transcript

Dass das Internet mittlerweile in die Jahre gekommen ist, merkt man auch daran, dass mittlerweile die erste Welle von Publikationen zur Geschichte von Netzkultur und Netzpolitik erscheint. So hat letzten Herbst Spiegel-Online-Redakteur Christian Stöcker „[e]ine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook“ unter dem Titel „Nerd Attack!“ vorgelegt. In diesem Buch verknüpft Stöcker eine journalistische Aufarbeitung von US-amerikanisch geprägter Hacker-Kultur mit einer anektdotischen Beschreibung von Anfängen und Aufstieg von Mainstream-Computerkultur.

Der kürzlich bei transcript erschienene und von Clemens Apprich und Felix Stalder herausgegebene Band „Vergessene Zukunft: Radikale Netzkulturen in Europa“ ist in vielerlei Hinsicht komplementär zu „Nerd Attack!“. Aufgearbeitet wird nicht der Mainstream, sondern die künstlerische Avantgarde von Netz und Netznutzung. Dabei ist „Vergessene Zukunft“ ein Mashup. Der Band versammelt kurze Essays einer Vielzahl von Autorinnen und Autoren, die größtenteils selbst in den beschriebenen Initiativen und Projekten aktiv waren, lässt eine Reihe weiterer Akteure in Interviews zu Wort kommen und reichert diese größtenteils retrospektiven Texte mit historischen Originaldokumenten an.

Die behandelten Themen (z.B. taktische Medien oder Partizipationskulturen) und Initiativen (z.B. die nettime-Mailingliste oder die Association of Autonomous Astronauts) ziehen sich durch alle drei Textformen – was einerseits zu unvermeidbaren Redundanzen führt, andererseits bisweilen auch interessante Einschätzungsunterschiede verschiedener Akteure dokumentiert. Besonders die Interviews mit den Beteiligten helfen dabei, die mitunter voraussetzungsreichen Texte zu verstehen. Auch in dieser Hinsicht präsentiert sich „Vergessene Zukunft“ also – wohl durchaus bewusst – sperriger als das journalistisch gehaltene „Nerd Attack!“.

Die Perspektive, aus der die Geschichte „radikaler Netzkulturen“ erzählt wird, ist die eines zentralen Netzwerkknotens, nämlich des Wiener Instituts für neue Kulturtechniken/t0 und dessen inzwischen geschlossener „Public Netbase“. Diese 1994 eröffnete Mischung aus „Lernzentrum? Medienlabor? Kunstprojekt? Politische Kampagne?“ (S. 119) verhalf als Infrastrukturprovider lokalen Kulturinitiativen ins Internet und damit zur Vernetzung mit anderen europäischen Projekten, engagierte sich in der österreichischen Widerstandsbewegung gegen die Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ zur Jahrtausendwende und stellte nach langjähriger Auseinandersetzung um (sinkende) Förderungen und Unterbringung im Wiener Museumsquartier im Jahr 2006 den Betrieb ein.

Dem Wirken und Kämpfen der Akteure rund um diese Public Netbase werden quer über das Buch verteilt (vielleicht etwas zu) viele Seiten eingeräumt, die sich teilweise wie eine frustrierte Abrechnung mit früheren Fördergebern lesen. Umso erfrischender deshalb, dass sich im Buch auch Interviews wie jenes mit Klaus Schönberger finden, der die Auseinandersetzung um die Wiener Public Netbase in den im Untertitel versprochenen, europäischen Kontext stellt und von einem „untypisch-typische[n] Modell“ spricht (S. 152 f.):

„untypisch für Europa, weil Subventionen im Mittelpunkt standen, typisch in der Art und Funktionsweise des teilnehmenden Agitators, darum zu kämpfen und dies auch zu politisieren.“

Schönberger zu Folge hat sich die Auflösung der Public Netbase letztlich paradoxerweise als produktiv erwiesen, weil so die Beteiligten gezwungen waren, „sich anders zu organisieren, andere Räume zu suchen“.

Als besonders relevant für aktuelle netzpolitische Debatten entpuppen sich ironischerweise eine Reihe der abgedruckten historischen Dokumente wie die „Amsterdam Agenda“ oder der „Misera Media 6 – Punkte Plan“ aus 1995. In letzterem heißt es beispielsweise unter „3. The Right to Know“:

„Oeffentliche Datenbestaende, Gesetzgebungsvorhaben (Ministerialentwuerfe, Regierungsvorlagen und Initiativantraege), aus oeffentlichen Geldern finanzierte Studien und dergleichen – soweit datenschutzrechtlich moeglich – sollen ueber digitale Netze zugaenglich sein, da sie mit Steuergeldern finanziert wurden. Dadurch werden demokratische Vorgaenge transparent.
Eine derartige Veroeffentlichungspflicht kann mittelfristig die derzeitigen Kundmachungsvorschriften sinnvoll ergaenzen.“

Open Data lässt grüßen. Und „mittelfristig“, das wäre dann wohl ungefähr 2012.

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